Beim Betreten des Speisesaals hatten alle Gäste das gleiche Gefühl: welch seltsame Schickung sie hierhergeführt

Beim Betreten des Speisesaals hatten alle Gäste das gleiche Gefühl: welch seltsame Schickung sie hierhergeführt und weshalb sie dies alle mehr oder weniger in Erstaunen setzte und beunruhigte. Nur die Cavalcanti, Vater und Sohn, schienen ungeachtet der Steifheit des ersteren und der Ungebundenheit des letzteren nicht befremdet zu sein, bei diesem Manne, dessen Absichten sie nicht erraten konnten, zu Gaste zu sein.

Das Festmahl war von einer Güte, wie es sich nur ein Mann von dem Reichtum Monte Christos erlauben konnte. Die seltensten und erlesensten Leckerbissen wurden den Gästen auf goldenen und silbernen Schalen serviert. Es war wie ein Märchen aus »Tausendundeiner Nacht«.


Während die Gäste ihre Verwunderung aussprachen, meinte Herr Chateau-Renaud, daß ihn die fabelhafte Schnelligkeit am meisten verblüffe, mit der alle Wünsche des Grafen ausgeführt würden.

Monte Christo lachte.

»Sie haben dies Haus doch erst seit fünf Tagen im Besitz, nicht wahr?« fuhr Chateau-Renaud fort. »Und schon ist es ein wahres Zauberschloß. Hu! Wenn man früher an diesem verödeten Gebäude vorüberkam, hätte man glauben können, es sei ein Schlupfwinkel für Räuber und Verbrecher.«

»Offen gestanden,« sagte der Graf, »ich habe denselben Eindruck gehabt, und so ganz geheuer ist es in diesem Hause nicht. Ich möchte Ihnen hinterher mal ein Zimmer zeigen, das so unheimlich wirkt, daß man sich kaum mit Neuerungen herantraut.«

Villefort griff nach einem Glase Wein und stürzte es hastig hinunter.

Nach Beendigung des Mahles führte Monte Christo die Gäste durch das ganze Haus und schließlich auch in das mysteriöse Zimmer.

»O mein Gott!« rief Madame Villefort, »hier ist's wirklich grauenhaft!«

»Nicht wahr?« sagte Monte Christo. »Sehen Sie dort das verlassene Bett und gegenüber auf der blutroten Wand die verblaßten Pastellporträte, die mit irren Augen dreinschauen, als wollten sie sagen: ›Wir haben's gesehen! Wir haben's gesehen!‹ Und hier an der Ecke...« Der Graf lief zu der Tapetentür und riß sie auf. »Da! Sehen Sie diese geheimnisvolle Treppe! Einem ist zumute, als sähe man noch die Mörder mit der unheilvollen Last die Stufen hinabtaumeln.«

Ein Jammerlaut wurde hörbar; Madame Danglars war auf einem Sessel ohnmächtig zusammengebrochen. Villefort stand kreidebleich neben ihr.

»Um Gottes willen, verehrte, gnädige Frau...« Monte Christo sprang herzu und suchte die Bewußtlose wieder ins Leben zu rufen. Als sie sich erholt hatte, führte er sie in den Garten hinab, wo Herr Danglars in eifrigstem Gespräch mit den beiden Cavalcantis saß.

»Wie konnten Sie uns nur mit so gräßlichen Hirngespinsten traktieren?« sagte einer der Herren zu Monte Christo.

»Wie? Hirngespinste?« rief dieser. »Sehen Sie, hier unter dieser Platane haben meine Leute die Leiche eines neugeborenen Kindes gefunden.«

»Ah, wie interessant!« schrie der Major Cavalcanti. »Was macht man hierzulande mit Kindesmördern?«

»Man köpft sie«, bemerkte nüchtern Herr Danglars, der eine Freude daran hatte, anderen Menschen etwas Unangenehmes zu sagen, und dies um so mehr, als ihm der ungeheuren Verluste wegen, die er in letzter Zeit gehabt, selber nicht wohl zumute war.

Das Gespräch schleppte sich von da an nur mühsam hin, bis einer von den Gästen an Aufbruch mahnte. Es dauerte darauf nicht lange, und das Haus war leer.

Als einer der letzten hatte sich der junge Cavalcanti verabschiedet. Als er, um auf sein Fuhrwerk zu warten, eine kleine Strecke weiter die Fahrstraße hinabgegangen war, legte sich ihm in der Dunkelheit plötzlich eine Hand schwer auf die Schulter. Andrea kehrte sich erstaunt um; da sah er einen starkknochigen, verwahrlost und verlumpt aussehenden Kerl, der ihm mit funkelnden Augen ins Gesicht starrte. »Benedetto... Söhnchen...« grinste der Kerl.

»Caderousse, du? -- Was willst du von mir? Mach', daß du fortkommst.«

»Halt, halt, mein Junge; so haben wir nicht gewettet.«

Andrea zog den Menschen hinter ein Gebüsch. Mit gedämpfter Stimme redete er alsdann auf ihn ein.

»Wenn du versprichst, mich in Ruhe zu lassen, so will ich dir monatlich zweihundert Franken geben. Damit aber sei es genug.« Er holte aus seiner Börse die genannte Summe heraus und reichte sie dem Menschen.

Caderousse steckte das eben empfangene Geld in die Tasche, gab sein Wort, diesem Verlangen nachzukommen, und verschwand in dem Schatten der Nacht.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo