Bald darauf ließ sich der Abgesandte des Hauses Thomson & French aus Rom bei Herrn Morrel melden.

Bald darauf ließ sich der Abgesandte des Hauses Thomson & French aus Rom bei Herrn Morrel melden. Herr Morrel kam dem Fremden entgegen, und dieser betrachtete den gütigen Mann mit offenbarer Teilnahme. Was hatten Kummer und Sorgen aus ihm gemacht!

»Sie kommen vom Hause Thomson & French?« sagte Morrel.


»Zu dienen, mein Herr. Im Laufe dieses und des künftigen Monats hat das Haus Thomson & French drei- oder vierhunderttausend Franken in Frankreich zu zahlen, und Ihre Gewissenhaftigkeit kennend, hat es alle mit Ihrem Siegel gestempelten Papiere zusammengefaßt und mich beauftragt, ich solle jedesmal, so oft diese Papiere fällig wären, die Fonds bei Ihnen erheben und verwenden.«

Morrel stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr mit der Hand über seine schweißbedeckte Stirn.

»Wie hoch ist die ganze Summe?« fragte Morrel mit einer Stimme, der er festen Ton zu verleihen suchte.

»Hier ist zuerst«, sprach der Engländer, »ein Übertragungsschein auf zweihunderttausend Franken, an unser Haus lautend, von Herrn von Boville, des Gefängnisverwalters. Dann sind hier zweiunddreißigtausend Franken von Ihnen signierte Wechsel, die fällig sind und uns durch Unterhändler zukamen. Ferner Beträge, die uns Haus Pascal und Haus Wild & Thurner von Marseille übertragen haben, beiläufig fünfundfünfzigtausend Franken, alles zusammengenommen zweihundertsiebenundachtzigtausend Franken.«

Was der unglückliche Morrel während dieser Aufzählung litt, ist unbeschreiblich.

»Herr Morrel,« fragte der Fremde leise, »werden Sie Ihren Verpflichtungen nachkommen können?«

Bei dieser fast rohen Frage wurde Morrel kreidebleich.

»Mein Herr,« sprach er, »bis jetzt wurde noch kein von Morrel & Sohn signierter Wechsel bei unserer Kasse vorgelegt, ohne bezahlt zu werden.«

»Ich weiß das, ja, ich weiß das,« antwortete der Engländer, »aber als Ehrenmann: werden Sie diese hier ebenso pünktlich bezahlen können?«

»Mit solcher Freimütigkeit gestellte Fragen müssen ebenso freimütig beantwortet werden. Ja, mein Herr, wenn, wie ich hoffe, mein Schiff glücklich einläuft, so werde ich bezahlen, denn seine Ankunft wird mir den Kredit wieder verschaffen, den eine Reihe von Unglücksfällen mir geraubt; wenn aber unglücklicherweise der ›Pharaon‹, diese letzte Hilfe, auf die ich rechne, mich im Stich läßt...«

Die Tränen stiegen dem armen Kaufherrn bei dieser Antwort in die Augen.

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und mit gerungenen Händen stürzte ein junges Mädchen herein: »Vater, Vater! Der ›Pharaon‹!« Schluchzend warf sie sich dem Reeder an die Brust.

»Ist untergegangen, nicht wahr?« sagte Herr Morrel mit gebrochener Stimme. »Und die Mannschaft...?«

»Ist gerettet, Vater.«

»Gott sei gedankt«, sagte Morrel mit solch überzeugender Innigkeit, daß dem kühlen Engländer Tränen in die Augen stiegen.

»Jetzt laß mich einen Augenblick allein,« sprach der Reeder zu seiner Tochter, »ich habe mit diesem Herrn zu sprechen.«

»Nun, mein Herr,« sprach Morrel, sich müde in seinen Lehnstuhl niederlassend, »Sie sehen nun selbst...«

»Ich sehe, mein Herr,« sprach der Engländer, »daß Sie wieder ein neues Unglück traf, so unverdient wie alles frühere, und dies hat mich in dem Wunsche bestärkt, Ihnen einen Dienst zu erweisen. Wünschen Sie einen Aufschub für Ihre Zahlungen?«

»Ein Aufschub könnte meine Ehre retten«, sprach Morrel.

»Wieviel Frist verlangen Sie?«

»Vielleicht zwei Monate«, sprach er.

»Gut,« sprach der Fremde, »ich gebe Ihnen drei.«

»Aber«, sprach Morrel, »glauben Sie. daß das Haus Thomson & French...«

»Seien Sie ruhig, mein Herr, ich nehme alles auf mich... Wir haben heute den 5. Juni.«

»Ja.«

»Nun denn, so prolongieren Sie mir alle diese Papiere bis auf den 5. September, und am 5. September um elf Uhr morgens« (die Uhr zeigte gerade die elfte Stunde) »werde ich wieder hier sein.«

»Ich werde Sie erwarten, mein Herr,« sprach Morrel, »und Sie sollen bezahlt werden, oder ich bin tot.«

Diese letzteren Worte wurden so flüsternd gesprochen, daß der Fremde sie nicht vernehmen konnte. Die Papiere wurden erneut, man zerriß die alten, und der arme Reeder hatte wenigstens drei Monate Frist, um seine letzten Mittel zusammenzuziehen. Der Engländer nahm die Danksagungen mit dem seiner Nation eigenen Phlegma auf und verabschiedete sich von Morrel, der ihn segnend bis zur Tür begleitete. Auf der Treppe begegnete ihm Julie, die sich den Anschein gab, als stiege sie hinab, in der Tat aber erwartete sie ihn.

»O mein Herr!« sprach sie, die Hände faltend.

»Mein Fräulein,« sprach der Fremde, »Sie werden eines Tages einen Brief erhalten mit der Unterschrift: ›Sindbad, der Seefahrer.‹ Befolgen Sie Punkt für Punkt, was Ihnen der Brief sagen wird, so seltsam Ihnen auch seine Anordnungen vorkommen mögen.«

»Ja, mein Herr!« antwortete Julie.

»Versprechen Sie mir, es zu tun?«

»Ich schwöre es Ihnen.«

»Gut, leben Sie wohl, mein Fräulein. Bleiben Sie stets eine gute und fromme Tochter, wie Sie sind, und ich hoffe wohl, Gott wird es Ihnen lohnen, indem er Ihnen Herrn Emanuel zum Gemahl gibt.«

Julie stieß einen leisen Seufzer aus, wurde rot wie eine Erdbeere und hielt sich am Geländer fest, um nicht zu Boden zu sinken.

Der Fremde setzte seinen Weg fort, ihr ein Zeichen des Lebewohls zuwinkend.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo