Am nächsten Tag sah man einen vornehm gekleideten Engländer nach der Nouailles-Straße gehen,

Am nächsten Tag sah man einen vornehm gekleideten Engländer nach der Nouailles-Straße gehen, wo der Gefängnisinspektor Herr von Boville wohnte. Herr von Boville war zu Hause und empfing den Fremden. Dieser begann also:

»Mein Herr, ich komme im Auftrage des Hauses Thomson & French in Rom. Seit langem sind wir in Verbindung mit Morrel & Sohn und haben viel Geld dort stehen. Man sandte mich aus, um Erkundigungen einzuziehen. Der Maire der Stadt wies mich an Sie.«


»O Verehrtester,« rief Herr von Boville, »Ihre Besorgnis ist nur allzu begründet. Ich selbst habe zweihunderttausend Franken bei dem Hause angelegt. Diese sollten in zwei Raten abgezahlt werden. Da war nun vor einer Viertelstunde Herr Morrel hier, um mir zu sagen, daß, wenn sein Schiff, der ›Pharaon‹, nicht bis zum 15. einliefe, er ganz außerstande wäre, die Zahlungen zu leisten.«

»Ich kann begreifen, daß Ihnen um diese Schuldforderung bange ist.«

»Sie ist für mich verloren.«

»Gut -- so verkaufen Sie sie mir für eine Gefälligkeit, die ich von Ihnen erbitte.«

Herr Boville sah den Engländer verwundert an. Als dieser jedoch die Brieftasche zog, die mit Wertscheinen gespickt war, beeilte er sich, zu sagen: »O bitte, stehe gern zu Diensten.«

»Also: ich ward zu Rom von einem armen Teufel, dem Abbé Faria, erzogen, der plötzlich verschwand. Es hieß, er werde in Schloß If gefangengehalten. Ich wüßte gern Näheres über ihn.«

»Ach -- der alte Abbé, der Narr«, sagte Herr Boville. »Ja -- der ist seit sechs Monaten verstorben -- -- -- und sein Tod führte zu einer ganz merkwürdigen Entdeckung.«

»Darf man wissen ...?« fragte der Engländer.

»O -- warum nicht?« Und Herr Boville erzählte von einem äußerst gefährlichen Verbrecher, der es gewagt, bis zur Zelle des Abbé hin einen fünfzig Fuß langen Gang zu graben, um zu entkommen, und wie schließlich seine Freiheitsgelüste im Meere ertränkt wurden.

»Mein armer Abbé«, sagte der Engländer. »Sie haben aber sicher Akten darüber; würden Sie mir wohl gestatten, sie einmal durchzusehen?«

Boville, der nur an die Rettung seiner zweihunderttausend Franken dachte, sprang eilfertig auf: »Bitte, folgen Sie mir in mein Dienstzimmer.« Hier nötigte er den Engländer in seinen Schreibtischsessel, legte ihm einen Stoß Akten vor und ließ ihm Muße, alles in Ruhe zu durchblättern während er selber Zeitungen las.

Leicht fand der Engländer die auf den Abbé Faria bezüglichen Akten, dann aber blätterte er fort, bis er zu Edmond Dantes kam. Hier fand er alles: die Anklage, das Verhör, Morrels Gesuch, Herrn von Villeforts Anmerkungen. Vorsichtig kniff er die Denunziation zusammen und steckte sie in die Tasche, las das Verhör und sah, daß der Name Noirtier nicht darauf stand, durchlief das Gesuch mit dem Datum vom 10. April 1815, worin Morrel nach dem Rat des Substituten in bester Absicht die der kaiserlichen Sache geleisteten Dienste des Edmond Dantes rühmte -- denn damals herrschte Napoleon --, Dienste, die das Zeugnis Villeforts unleugbar machte. Da durchschaute er alles. Diese an Napoleon gerichtete, von Villefort aufbewahrte Bittschrift war in den Händen des königlichen Prokurators zur schrecklichen Waffe geworden zur Zeit der zweiten Restauration. Nichts überraschte ihn mehr als eine seinem Namen beigefügt Note: »Edmond Dantes, wütender Bonapartist, nahm tätigen Anteil an Napoleons Zurückkunft von der Insel Elba. Mit größter Vorsicht und in engster Haft zu halten.« Unter diesen Zeilen stand mit anderer Schrift geschrieben: »Vidi die obige Note, nichts zu machen.«

Der Engländer prüfte die Akten genau und verglich auch die einzelnen Handschriften. Dann klappte er die Mappe zu: »Vielen Dank! Ich bin vollkommen orientiert. Doch jetzt will ich mein Wort einlösen. Geben Sie mir einen einfachen Schein, führen Sie darin an, den Betrag richtig erhalten zu haben, und ich zahle Ihnen die Summe aus.« Er räumte Herrn von Boville den Platz am Schreibtisch ein, der sich beeilte, den verlangten Schein auszustellen, während der Engländer die Banknoten auf die Platte des Schreibtisches legte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo