Am nächsten Morgen -- noch ziemlich früh -- wartete der Wagen vor dem Hause des Barons von Danglars,

Am nächsten Morgen -- noch ziemlich früh -- wartete der Wagen vor dem Hause des Barons von Danglars, und Madame, tief verschleiert, fuhr bald darauf eiligst davon. In dem Hofe von Harlay hielt der Wagen. Frau von Danglars stieg aus, huschte über die Treppen, durchschritt den Saal des Pasperdues und stand dann im Vorzimmer des Herrn von Villefort. Das Gedränge war hier groß. Doch kaum hatte der Türhüter die vornehme Dame erblickt, als er sie fragte, ob sie von dem Herrn Prokurator herbestellt worden sei, und auf deren Bejahung sie in das Kabinett führte.

Der Staatsmann saß in seinem Stuhle, seinen Rücken der Tür zugewendet. Er hörte diese öffnen und die Worte des Dieners: »Treten Sie ein, Madame!« Die Tür schloß sich wieder, doch rührte er sich nicht. Kaum hatte sich aber der Türhüter entfernt, als er aufsprang, den Riegel vorschob, die Gardinen vorzog und jeden Winkel des Gemaches untersuchte. Als er dann Gewißheit hatte, daß man ihn weder sehen noch hören könne, sagte er beruhigt: »Dank, gnädige Frau, für Ihre Pünktlichkeit.«


Er bot ihr einen Stuhl an, den sie rasch nahm, weil ihr Herz gewaltig pochte.

»Nun,« sprach der königliche Prokurator, sich so setzend, daß er der Frau von Danglars ins Antlitz sehen konnte, »es ist schon lange her, seit ich das Glück genoß, mit Ihnen allein zu sprechen, und jetzt treffen wir zu einer sehr peinlichen Unterredung zusammen.«

»Dessenungeachtet, mein Herr, bin ich auf Ihre erste Aufforderung hierhergekommen, obschon diese Unterredung, für mich verhängnisvoller als für Sie werden könnte.«

Villefort lächelte bitter und sagte, indem er mehr seine Gedanken verfolgte: »So ist es denn wahr, daß alle unsere Taten Spuren hinterlassen, tiefere oder leichtere, wie Gewürm, das dem Sande Furchen eindrückt? Tränen fallen später in diese hinein.«

»Mein Herr,« sagte Frau von Danglars, »Sie begreifen wohl meine Aufregung? Ich bitte Sie daher um Schonung. Dieser Raum, wo so viele Schuldige schon gezittert haben, dieser Stuhl, auf dem auch ich nun sitze -- zitternd und schamrot -- oh, ich muß meine ganze Vernunft aufbieten, um in Ihnen keinen drohenden Richter und in mir keine Verbrecherin zu sehen.«

Villefort seufzte und schüttelte den Kopf, dann versetzte er: »Und ich sage, daß mein Stuhl nicht der eines Richters, sondern der Sitz eines Angeklagten ist.«

Frau von Danglars war überrascht und sprach, während ein flüchtiger Glanz ihr Auge durchflog: »Ich glaube, Ihr Puritanismus übertreibt die Lage der Dinge. Diese Spuren, von denen Sie sprachen, hinterlassen alle glühenden Jugendjahre. Auf dem Grunde der Leidenschaften, unter dem Vergnügen ist stets etwas Reue verborgen, und uns armen Frauen hat das Evangelium in der Büßerin Trost gegeben. Auch ich denke manchmal, daß mir Gott die Irrtümer meiner Jugend verzeihen wird; denn wenn er sie auch nicht entschuldigt, so ist doch in meinen Leiden Vergeltung und Ausgleich zu finden. Doch ihr Männer geht aus all solchen Dingen unbehelligt hervor.«

»Madame,« entgegnete Villefort. »Sie kennen mich, ich bin kein Heuchler, wenigstens niemals ohne Ursache. Ist meine Stirn finster, so wurde sie es durch Unglück, ist mein Herz versteinert, wurde es so, um die Stöße auszuhalten, die es trafen. Ich war nicht so in meiner Jugend, nicht so an jenem Hochzeitsabend, wo wir beisammensaßen an einem Tische in der Straße du Cours zu Marseille. Doch seither hat sich viel geändert, in mir und außer mir, mein Leben wurde gewöhnt, Schwierigkeiten zu verfolgen und zu überwinden. Denn es ist selten, daß man ohne Hindernis von seiten anderer erreicht, wonach man glühend verlangt. Daraus entstehen die meisten schlechten Handlungen der Männer, die sie dann in die prunkende Gestalt der Notwendigkeit verhüllen; nachdem aber die schlechte Tat in einem aufgeregten Moment aus Furcht oder vor Begierde geschehen ist, sieht man erst ein, auf welche Art sie hätte vermieden werden können. Der Ausweg zeigt sich uns, die wir vordem so blind waren, ganz leicht, und man sagt sich: Wie konnte ich doch anders handeln?! Ihr Frauen aber werdet selten von Gewissensbissen gequält, weil die Entscheidung selten von euch abhängt; eure Mißgeschicke sind euch fast immer auferlegt, eure Vergehungen fast immer das Verbrechen anderer.«

»Jedenfalls müssen Sie zugeben, mein Herr, daß ich, wenn ich ein ganz besonderes Vergehen beging, gestern abend hart bestraft wurde.«

»Arme Frau,« sprach Villefort, ihr die Hände drückend, »zu schwer für Ihre Kraft, denn zweimal unterlagen Sie fast, und dennoch ...«

»Nun?«

»Ich muß Ihnen etwas sagen, Madame! Sammeln Sie sich, wir sind noch nicht zu Ende.«

»Mein Gott,« rief Frau von Danglars bestürzt, »was gibt es noch?«

»Sie sehen nur die Vergangenheit, obgleich sie dunkel ist. Aber denken Sie sich eine Zukunft, noch dunkler, ja schrecklich ... vielleicht blutig ...«

Die Baronin kannte Villeforts Ruhe, sie wurde über seine Aufregung so entsetzt, daß sie den Mund zum Schreien öffnete; doch erstarb ihr der Laut in der Kehle.

»Wie ist diese gräßliche Vergangenheit wieder erwacht,« schrie Villefort, »wie aus dem Grabe und unsern Herzen, wo sie schlief, aufgestanden, gleich einem Phantome, um unsere Wangen bleich und unsere Stirnen rot zu machen?«

»Nun,« sagte Hermine, »durch Zufall, ohne Zweifel.«

»Zufall? Nein, nein, kein Zufall, Madame!«

»Doch, doch; ist es nicht ein Zufall, daß der Graf von Monte Christo dieses Haus gekauft hat? Kein Zufall, daß er die Erde umgraben ließ? Kein Zufall, daß jenes unglückliche Kind gerade unter dem Baume begraben war? Armes, unschuldiges Geschöpf, das ich geboren und dem ich niemals einen Kuß gegeben, wohl aber viele Tränen geweiht habe! Ach, mein ganzes Herz floß dahin, als der Graf von jenem teuren Vermächtnis sprach, das er unter den Blumen gefunden.«

»Nun, Madame,« sagte Villefort mit rauher Stimme, »so hören Sie denn das Schreckliche, was ich Ihnen mitzuteilen habe: Unter den Blumen lag kein Kistchen, kein Kind wurde dort vergraben, und wir haben keine Ursache, es zu beweinen, sondern vor ihm zu zittern.«

»Was meinen Sie?« fragte Frau von Danglars schaudernd.

»Ich will sagen, daß Monte Christo beim Umgraben der Erde weder einen Koffer noch ein Kindergerippe finden konnte, weil sich weder das eine noch das andere dort befand.«

»Weder das eine noch das andere?« wiederholte Frau von Danglars, indem sie den Prokurator mit Augen anstarrte, die der Schreck und das Entsetzen weit aufriß. »Weder das eine, noch das andere?« sagte sie nochmals, wie jemand, der durch den Schall der Worte wirre Gedanken festhalten will.

»Nein,« sagte Villefort, seine Stirn bedeckend, »nein, hundertmal nein!«

»So haben Sie also das Kind nicht begraben, mein Herr? Warum täuschten Sie mich? Reden Sie!«

»Es ist so. Doch hören Sie, hören Sie mich, und Sie werden mich bedauern, mich, der ich ganz allein diese Last an Qualen trug, die ich Ihnen nun mitteilen werde.«

»Mein Gott, Sie erschrecken mich. Doch immerhin: reden Sie, ich höre ...«

»Sie erinnern sich noch an jene schreckliche Nacht, wo Sie seufzend in Ihrem Bette lagen, in jenem Zimmer mit dem roten Damast, während ich, ebenfalls stöhnend wie Sie, Ihre Entbindung abwartete. Das Kind kam zur Welt, doch ohne Laut, ohne Bewegung, ohne Atem; wir hielten es für tot.«

Frau von Danglars fuhr empor, als wollte sie aus dem Stuhle stürzen, doch Villefort hielt sie mit gekreuzten Händen zurück, als flehe er um ihre Aufmerksamkeit.

»Wir hielten es für tot,« wiederholte er, »ich tat es in einen Koffer, der des Sarges Stelle vertreten mußte, ging in den Garten, machte eine Grube und legte es rasch hinein. Kaum bin ich mit dem Darüberwerfen der Erde fertig, als sich der Arm des Korsen mir entgegenstreckte, ich sehe eine Schattenbewegung und ein Leuchten wie Blitz. Ich fühle einen Schmerz, will schreien, ein Schauer durchfährt meinen Körper und schnürt mir die Kehle zu... ich falle wie ein Sterbender zu Boden und glaube mich getötet. Niemals werde ich Ihren hohen Mut vergessen, als ich, zu mir selbst gekommen, mich bis zur Stiege hinschleppte, wo Sie, selbst fast vergehend, zu mir kamen. Man mußte das größte Stillschweigen über diese unglückliche Katastrophe beobachten. Sie hatten die Stärke, das Haus unter Beihilfe Ihrer Amme zu erreichen, wegen meiner Verwundung wurde ein Duell vorgeschützt. Nur wir zwei wußten um das Geheimnis. Man brachte mich nach Versailles, und ich kämpfte drei Monate lang mit dem Tode; endlich riet man mir zur Heilung die Luft des Südens an. Vier Männer trugen mich von Paris nach Chalons zu, sechs Stunden täglich. Frau von Villefort folgte in ihrem Wagen nach. Auf der Saone und der Rhone kam ich nach Arles, wo ich wieder zu Land bis Marseille getragen wurde. Sechs Monate währte meine Genesung, ich hörte nichts mehr von Ihnen und wagte nicht, nach Ihrem Schicksal zu fragen. Als ich nach Paris zurückkam, hörte ich, daß Sie als Witwe des Herrn von Nargone Herrn Danglars geehelicht hätten. Woran dachte ich, als mir die Erkenntnis meiner Tat gekommen war? Immer an dieselbe Sache, immer an den Leichnam des Kindes, das aus der Erde stieg und, am Rande des Grabes niedersitzend, mir drohte. Gleich nach meiner Ankunft in Paris zog ich Erkundigungen ein; das Haus war unbewohnt geblieben, seit wir es verlassen hatten, doch eben auf neun Jahre vermietet worden. Ich suchte den Mietmann auf, gab vor, eine große Begierde zu haben, daß dieses Haus, das den Eltern meiner Frau gehöre, nicht in fremde Hände käme, und bot ihm eine Entschädigung an. Er verlangte sechstausend Franken, ich hätte zehn-, ja zwanzigtausend Franken gegeben. Ich hatte das Geld bei mir, alles wurde sogleich in Ordnung gebracht, und ich sprengte nach Auteuil, wo ich hörte, daß niemand in dem Hause gewesen sei.

Es war fünf Uhr nachmittags, ich stieg in das rote Zimmer und erwartete die Nacht. Dort zeigte sich alles, was ich sagte, seit einem jahrelangen Todeskampfe meinen Gedanken noch drohender als jemals. Der Korse, der mir Rache geschworen hatte, und mir von Nimes nach Paris gefolgt war, jener Korse, der im Garten versteckt war, mich das Kind eingraben sah und mich verwundete, er konnte Sie vielleicht auch kennen, und wenn das ist... müssen Sie nicht vielleicht eines Tages das Geheimnis dieser schrecklichen Begebenheit zahlen? Würde es etwa nicht eine noch süßere Rache für ihn sein, wenn er hörte, daß ich nicht durch seinen Dolchstoß gestorben sei? Es war also vor allem notwendig, jede äußere Spur des Begangenen zu vertilgen, denn es würde ja ohnehin zu lebhaft in meinem Gedächtnisse bleiben. Darum machte ich die Miete rückgängig und war in dies Schreckenshaus gekommen. Die Nacht kam heran, und ich ließ sie weit vorrücken; ich blieb ohne Licht in jenem Gemach, wo der Zugwind die Türen bewegte, hinter denen ich stets einen Verräter zu sehen meinte. Dann und wann sprang ich auf, ich meinte, hinter mir in jenem Bett ein Stöhnen zu hören, und wagte nicht, zurückzukehren. Mein Herz pochte so heftig in diesem Schweigen um mich, daß ich meinte, es würde sich jene Wunde öffnen, denn außerhalb des Hauses war tiefe Ruhe eingetreten. Ich sah ein, daß ich nicht mehr fürchten durfte, gehört oder gesehen zu werden, und entschloß mich, hinabzugehen. Hören Sie, Hermine, ich halte mich für einen so mutigen Mann wie irgendeinen, doch als ich aus meiner Brusttasche den kleinen Schlüssel zur Treppe herauszog, den wir beide so wert hielten und den Sie an einen goldenen Ring fassen lassen wollten, als ich die Tür öffnete und der Mond seine Strahlen gleich Gespenstern durch die Fenster auf die Wendeltreppe warf: da mußte ich mich an die Mauer lehnen, und ich war nahe daran, zu schreien, denn es schien mir, als müßte ich wahnsinnig werden. Endlich errang ich wieder Mut. Ich stieg langsam die Stiege hinab, doch schlotterten mir wider Willen die Knie, und ich hielt mich am Geländer, sonst wäre ich hinabgestürzt. Endlich schritt ich durch die untere Tür, außen lehnte ein Spaten an der Mauer, den ich nahm und nach dem Gehölz ging. Eine Blendlaterne, die ich anzündete, zeigte mir den Weg. Es war zu Ende November und jedes Grün im Garten verschwunden; die Bäume glichen fleischlosen Skeletten, und die dürren Blätter knirschten unter meinen Füßen im Sande. Entsetzen ergriff mich, daß ich eine Pistole herausnahm, indem ich fürchtete, die Gestalt des Korsen zwischen den Zweigen zu erblicken. Das Gehölz war leer, ich forschte scharf umher, doch ich war ganz allein, kein Laut störte das Schweigen der Nacht außer der Stimme einer Eule, welche ihr heiseres und düsteres Geschrei wie einen Gespensterruf durch das Dunkel sendete. Ich hing meine Laterne an einen gelblichen Zweig und besah mir den Platz. Das Gras war während des Sommers sehr dicht gewesen, und niemand hatte es gemäht; eine minder dicht bewachsene Stelle zog meine Aufmerksamkeit an, es war ohne Zweifel diejenige, welche ich umgegraben hatte. Ich machte mich ans Werk, es war nun jene Stunde gekommen, die ich seit einem Jahre erwartete. Doch wie ich auch arbeitete und jedes Stück Rasen untersuchte, mein Spaten fühlte keinen Widerstand; ich grub daher einen Platz um, der zwei- oder dreimal so groß war als der erste. Ich glaubte, mich im Orte geirrt zu haben, ich betrachtete die Bäume, ich suchte den Ort zu erkennen, wo mich der Dolch niedergestoßen hatte. Ein eisiger Nordwind schnitt durch die entlaubten Bäume, und dennoch rann mir der Schweiß von der Stirn. Ich erinnerte mich, daß ich den Stoß in demselben Augenblick erhalten hatte, wo ich die Grube zuschüttete und mich an einem Eibenholzbaume hielt und die Erde stampfte; hinter mir war ein künstlicher Fels als Ruhebank gewesen, denn während meines Falles hatte meine Hand die Kälte des Steines gefühlt. Die Umgebung war richtig so. Ich fiel jetzt abermals zur Erde, um mich besser zu erinnern, doch trotz meiner Gewißheit fand ich das Kistchen nicht, es war nicht mehr da.«

»Das Kistchen war nicht da?« murmelte Frau von Danglars, vor Entsetzen fast ohnmächtig.

»Denken Sie nicht, daß ich mich auf diesen Versuch beschränkte, nein. Ich durchwühlte das ganze Gehölz, in der Meinung, daß der Mörder, der vielleicht einen Schatz zu erbeuten glaubte, nach entdeckter Täuschung den Koffer irgendwo vergraben habe; dann fiel ich auf den Gedanken, daß er ihn ohne weiteres weggeworfen haben könne. Zu diesen Nachforschungen beschloß ich, den Tag zu erwarten, und begab mich daher wieder in jenes Gemach.«

»O mein Gott!«

»Bei Tagesanbruch stieg ich wieder hinab, in der Hoffnung, Spuren zu finden, die mir die Nacht verhüllt hatte. Ich hatte die Erde auf eine Strecke von zwanzig Fuß im Geviert und mehr als zwei Schuh Tiefe umgegraben. Kein Tagelöhner hätte das in einem Tage tun können, was ich in einer Stunde vollbrachte. Doch nichts, durchaus nichts entdeckte ich. Nun suchte ich, ob das Kistchen nicht in irgendeinem Winkel hingeworfen läge, doch auch diese neue Nachforschung war ebenso unnütz wie die frühere Mühe.«

»Oh,« rief Frau von Danglars, »es ist genug, um wahnsinnig zu werden!«

»Ich hoffte dies,« sagte Villefort, »doch hatte ich nicht das Glück. Darum tat ich mir Gewalt an und fragte mich:

»Warum hat jener Mensch den Leichnam mit sich genommen?«

»Nun, weil es ein Raub war«, versetzte Hermine.

»O nein, Madame, das konnte es nicht sein; man hebt einen Leichnam nicht ein Jahr lang auf, sondern man geht zum Gericht und macht Anzeige. Doch ist nichts dergleichen geschehen!«

»Und nachher?« sagte Hermine stammelnd.

»Dann ist noch etwas viel verhängnisvoller und schrecklicher für uns, es ist vielleicht das Kind am Leben gewesen, und der Mörder hat es gerettet.«

Frau von Danglars stieß einen furchtbaren Schrei aus und sagte, Villeforts Hande ergreifend:

»Mein Kind war lebend! Sie haben mein lebendiges Kind begraben, Sie waren nicht überzeugt, daß es tot war? O Herr, o Herr!«

Frau von Danglars hatte sich erhoben und fast drohend zu dem königlichen Prokurator gewendet.

»Was weiß ich,« sagte dieser mit starrem Blick, der anzeigte, daß dieser starke Mann der Verzweiflung und dem Wahnsinn nahe sei, »ich erzähle es, wie alles bisher.«

»Ach, mein Kind, mein armes Kind!« rief die Baronin, sich in den Stuhl werfend und ihre Seufzer mit dem Taschentuche erstickend.

Villefort kam zu sich und suchte diesen fürchterlichen Sturm, der sich in dem Mutterherzen gegen ihn erhob, zu beschwichtigen: er stand also auf und sagte zur Baronin in leisem Tone:

»Sie begreifen wohl, daß, wenn es so ist, wir verloren sind; das Kind lebt, und jemand weiß es, daß es lebt, folglich auch unser Geheimnis, und da Monte Christo zu uns von einem begrabenen Kinde gesprochen hat, welches nicht dort begraben ist, so weiß er davon.«

»Gott, gerechter, rächender Gott!« flüsterte Hermine.

Villefort antwortete mit einer Art Geheul.

»Aber dieses Kind, dieses Kind!« versetzte die entflammte Mutter.

»Oh, wie habe ich es gesucht,« versetzte Villefort mit gerungenen Händen, »wie oft habe ich es in schlaflosen Nächten gerufen! Wie oft wünschte ich, Millionen zu besitzen, um Tausenden von Menschen ihre Geheimnisse abzukaufen, um vielleicht das meinige zu entdecken. Endlich fragte ich mich, was der Korse mit dem Kinde habe tun können, das ihm ja auf der Flucht hinderlich sein mußte; vielleicht hat er es ins Wasser geworfen, als er bemerkte, daß es am Leben war.«

»Ach, unmöglich!« schrie die Baronin. »Man mordet Menschen aus Rache, doch nicht mit kaltem Blute ein Kind!«

»Vielleicht«, fuhr Villefort fort, »hat er es in das Findelhaus gegeben.«

»Ach, ja, ja,« rief Frau von Danglars, »mein Kind ist dort, mein Herr!«

»Ich lief hin und vernahm, daß in jener Nacht vom zwanzigsten September ein Kind in dem Turm abgegeben worden war; es war in eine absichtlich zur Hälfte abgeschnittene Serviette eingewickelt, die eine Hälfte trug eine Krone und den Buchstaben H.«

»Es ist's, es ist's, all mein Linnenzeug war so gemerkt; Herr von Nargone war Baron, und ich heiße Hermine. Dank dir, mein Gott, daß mein Kind nicht tot war!«

»Nein, es war nicht tot!«

»Und Sie sagen es mir ohne Furcht, daß mich die Freude töte? Wo ist mein Kind?«

Villefort zuckte die Achseln.

»Weiß ich es, und wenn ich es wüßte, würde ich Sie alle diese Steigerungen des Schreckens durchmachen lassen? Nein, nein, ich weiß es nicht. Ein Weib war ungefähr nach sechs Monaten gekommen, um das Kind zurückzufordern, sie hatte alle nötigen Beweise nebst der andern Hälfte der Serviette für sich, und man folgte ihr das Kind aus.«

»Doch man mußte diesem Weibe nachfragen und schickte die feinsten Spürhunde unserer Polizei auf Kundschaft.«

»Bis Chalons traf man Spuren, dann verloren sie sich.«

»Verloren?«

»Ja, für immer.«

Frau von Danglars hatte dieser Erzählung mit Seufzern, Tränen und Ausrufen zugehört und sprach dann: »Und dies ist alles, worauf Sie sich beschränkten?«

»O nein,« sagte Villefort, »ich unterließ niemals Nachforschungen jeder Art, doch seit zwei oder drei Jahren gab ich mir nicht so eifrige Mühe. Aber heute will ich sie mit neuer Ausdauer beginnen, und nicht vergebens, denn nun treibt mich nicht mehr Reue, sondern Furcht.«

»Doch«, entgegnete die Baronin, »Graf Monte Christo weiß nichts, er würde sonst unsere Freundschaft nicht so sehr gesucht haben.«

»Oh, die Bosheit der Menschen ist sehr tief, sie ist tiefer als Gottes Güte. Haben Sie nicht die Blicke des Grafen bemerkt, als er mit uns sprach?«

»Nein.«

»Aber sonst haben Sie ihn wohl betrachtet?«

»Ja, er ist bizarr, weiter nichts; nur eines hat mich überrascht, daß er bei dem trefflichen Gastmahl nichts angerührt hat.«

»Ja, ich bemerkte es auch,« sagte Villefort, »hätte ich das gewußt, was ich jetzt weiß, so würde ich auch nichts angerührt haben, weil ich eine Vergiftung befürchtet hätte.«

»Und Sie würden sich sehr getäuscht haben.«

»Ja, ganz gewiß; doch glauben Sie mir, dieser Mensch hat andere Pläne, darum wollte ich mit Ihnen reden und Sie vor aller Welt, besonders aber vor ihm warnen. Sagen Sie mir,« fuhr Villefort fort, seine Blicke inniger als bisher auf die Augen der Baronin heftend, »haben Sie zu niemanden von unserem Verhältnis geredet?«

»Nie, zu niemanden.«

»Sie verstehen wohl,« versetzte Villefort zärtlich, »wen ich meine, wenn ich frage: niemanden?«

»Ja, ja, ich verstehe«, sagte die Baronin errötend.

»Haben Sie nicht die Gewohnheit, ein Tagebuch zu führen und alles Vorfallende aufzuschreiben?«

»Nein, o nicht doch, mein Leben schwindet leicht dahin, und ich vergesse jeden Tag sogleich.«

»Reden Sie nicht laut im Traume?«

»Ich habe einen Kinderschlaf, wissen Sie es nicht mehr?«

Die Baronin wurde hochrot, während Villefort erbleichte.

»Es ist wahr«, sprach er so leise, daß man es kaum hörte.

»Nun?« fragte die Baronin.

»Nun weiß ich, was ich zu tun habe,« entgegnete Villefort; »in acht Tagen werde ich wissen, wer jener Monte Christo ist, woher er kommt, wohin er geht, und warum er in unserer Gegenwart von verscharrten Kindern spricht.«

Villefort betonte diese Worte so eigentümlich, daß der Graf sich entsetzt hätte, würde er sie gehört haben. Dann drückte er der Baronin die Hand, die sie ihm wider Willen gab, und führte sie voll Höflichkeit zur Tür. Frau von Danglars fuhr darauf sofort wieder nach Hause.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo