Am folgenden Morgen erwachte Franz zuerst, und als er wach wurde, läutete er. Das Glöcklein vibrierte

Am folgenden Morgen erwachte Franz zuerst, und als er wach wurde, läutete er. Das Glöcklein vibrierte und schallte noch, als Maestro Pastrini eintrat.

Ohne daß der Wirt von Franz eine Frage abwartete, rief er schon triumphierend: »Eure Exzellenz, ich vermutete es gestern schon, als ich Ihnen nichts versprechen wollte: Sie haben sich zu spät vorgesehen, es ist in ganz Rom für die drei letzten Tage des Karnevals keine Kalesche mehr zu vermieten.«


»Was ist's?« fragte Albert eintretend. »Keine Kalesche?«

»Es ist so, lieber Freund!« erwiderte Franz.

»Das heißt, Eure Exzellenz,« antwortete Maestro Pastrini, »es ist keine Kalesche mehr zu haben von Sonntag früh bis Dienstag abend; außerdem aber finden Sie fünfzig, wenn Sie wollen.«

»Ha, das ist schon etwas,« sagte Albert; »wir haben heute Donnerstag, wer weiß, was sich bis Sonntag ereignen kann!«

»Es werden zehn- bis zwölftausend Reisende ankommen,« erwiderte Franz, »und die Schwierigkeit wird dadurch noch um so größer.«

»Mein Freund,« sagte Morcerf, »wir wollen die Gegenwart genießen und uns nicht die Zukunft verdüstern.«

»Können wir wenigstens«, fragte Franz, »ein Fenster haben?«

»Wohinaus?«

»Auf den Korso, parbleu!«

»Ah, ein Fenster!« rief Maestro Pastrini. »Unmöglich, das ist ganz unmöglich; ein einziges war noch übrig im fünften Stockwert des Palastes Doria, und dies ist für zwanzig Zechinen per Tag an einen russischen Fürsten vermietet.«

Die zwei jungen Leute schauten sich mit erstaunten Mienen an.

»He, mein Lieber,« sprach Franz zu Albert, »wissen Sie, was nun am besten zu tun ist? Wir bringen den Karneval in Venedig zu; finden wir auch keinen Wagen, so werden wir doch Gondeln finden.«

»Ach, meiner Treu, nein!« rief Albert. »Ich habe mir einmal vorgenommen, den Karneval in Rom zu sehen, und werde ihn auch sehen, wenn ich auch auf Stelzen gehen müßte.«

»He, das ist ein glorwürdiger Gedanke,« rief Franz, »zumal, um die Stumpflichter (Moccoletti) auszulöschen; wir wollen uns als Vampire oder als Bewohner des Landes maskieren und werden närrisches Aufsehen erregen.«

»Wünschen Eure Exzellenz noch immer einen Wagen für Sonntag?«

»Parbleu!« entgegnete Franz. »Glauben Sie denn, wir wollen in den Straßen Roms zu Fuß herumlaufen wie Amtsschreiber?«

»Ich werde mich beeilen, Eurer Exzellenz Aufträge zu befolgen, nur sage ich im voraus, Ihr Wagen wird pro Tag sechs Piaster kosten.«

»Und ich, mein lieber Herr Pastrini,« sagte Franz, »ich, der ich nicht der Besitzer einer Million bin, sage Ihnen meinerseits, daß ich bereits zum viertenmal in Rom bin und für gewöhnliche wie für Sonn- und Festtage den Preis der Kaleschen kenne; wir geben Ihnen zwölf Piaster für heute, morgen und übermorgen, und Sie werden noch einen sehr hübschen Gewinn davon haben.«

»Wann wünschen Sie den Wagen?«

»In einer Stunde.«

»Er wird in einer Stunde vor der Tür stehen.«

Und wirklich erwartete eine Stunde darauf der Wagen die beiden Freunde an der Tür; es war ein bescheidener Fiaker, aber wie mittelmäßig auch sein Aussehen war, so hätten sich die zwei jungen Leute doch glücklich geschätzt, wenn sie für die drei letzten Tage einen solchen Wagen hätten finden können.

»Wohin wünschen Eure Exzellenzen geführt zu werden?«

»Fürs erste nach Sankt Peter, sodann ins Coliseum«, sagte Albert als echter Pariser.

Doch Albert wußte eines nicht, daß man einen Tag braucht, um die Peterskirche zu sehen, und einen Monat, um sie zu studieren. Der Tag verging also mit dem Anschauen der Peterskirche.

Auf einmal gewahrten die beiden Freunde, daß der Tag sich neigte. Franz zog seine Uhr hervor, es war halb fünf. Man nahm sogleich den Rückweg in das Gasthaus, und an der Tür gab Franz dem Kutscher Befehl, sich um acht Uhr bereit zu halten. Er wollte Albert das Coliseum bei Mondschein zeigen, wie er ihn die Peterskirche bei hellem Tage sehen ließ. Zeigt man einem Freunde eine Stadt, die man schon gesehen hat, so tut man es mit derselben Koketterie, als ob man ihm eine Frau zeigt, die man geliebt hat. Demzufolge beschrieb Franz dem Kutscher den Weg: er sollte bei der Porta del popolo hinausfahren, längs der äußeren Mauer sich halten und durch die Porta di San Giovanni zurückkehren. Sonach erschien ihnen das Coliseum ohne alle Vorbereitung und ohne daß sie das Kapitol, das Forum, den Triumphbogen des Septimius Severus, den Tempel des Antonin und der Faustina und die Via Sacra als Stufen berührten, um dort allgemach anzulangen. Man setzte sich zu Tisch. Maestro Pastrini hatte seinen Gästen ein vortreffliches Mahl versprochen, er setzte ihnen ein erträgliches vor, wogegen sich nichts sagen ließ.

Nach der Mahlzeit trat er selbst ein; Franz glaubte anfangs, es geschehe, um ihre Komplimente in Empfang zu nehmen, und schickte sich an, sie ihm seinerseits zu machen, doch der Wirt unterbrach ihn schon bei den ersten Worten und sagte:

»Exzellenz! Ihre Zufriedenheit schmeichelt mir, allein ich bin ganz und gar nicht deshalb zu Ihnen gekommen.«

»Etwa um uns zu melden, daß Sie einen Wagen gefunden haben?« fragte Albert, eine Zigarre anbrennend.

»Das noch weniger, Exzellenz, und Sie werden wohl daran tun, gar nicht mehr daran zu denken. In Rom sind die Dinge entweder möglich oder sie sind unmöglich. Wenn man Ihnen sagte, sie sind unmöglich, so ist alles vergebens.«

»In Paris ist es viel bequemer; ist etwas nicht möglich, so bezahlt man das Doppelte, und man hat im Augenblick, was man begehrt.«

»Ich höre das von allen Franzosen,« entgegnete Maestro Pastrini, ein wenig betroffen, »darum begreife ich nicht, warum die Franzosen reisen.«

»Auch ich nicht«, entgegnete Albert, indem er den Rauch phlegmatisch gegen den Plafond blies und sich auf den zwei Hinterfüßen des Stuhles schaukelte. »Das sind Narren und Dummköpfe wie wir, die reisen; die vernünftigen Leute verlassen nie ihr Hotel in der Rue Helder, den Boulevard de Gand und das Cafe de Paris.«

Es braucht kaum gesagt zu werden, daß Albert in der benannten Gasse wohnte, täglich eine fashionable Promenade machte und auch täglich in dem einzigen Kaffeehause speiste, wo man zu Mittag essen kann, wenn man mit den Garçons auf gutem Fuße steht. Maestro Pastrini verharrte einen Augenblick im Stillschweigen; er dachte offenbar über die Antwort nach, da sie ihm nicht ganz klar erschien. Franz unterbrach die Betrachtungen des Wirtes und sagte:

»Sie sind aber doch aus einer gewissen Absicht zu uns gekommen; wollen Sie uns nicht den Grund Ihres Besuches bekanntgeben?«

»O richtig, sehen Sie, Sie haben die Kalesche auf acht Uhr bestellt?«

»Ja.«

»Sie sind gesonnen, das Colosseo zu besuchen?«

»Sie wollen sagen: Coliseum.«

»Das ist ganz gleich.«

»Also.«

»Sie sagten zu Ihrem Kutscher, er soll zur Porta del popolo hinausfahren und längs der Mauer fort durch die Porta San Giovanni zurückkehren?«

»So haben meine Worte gelautet.«

»Diese Fahrt ist unmöglich oder mindestens sehr gefahrvoll.«

»Gefahrvoll -- und warum?«

»Des berüchtigten Luigi Vampa wegen.«

»Mein lieber Herr Wirt! Wer ist dieser berüchtigte Luigi Vampa?« fragte Albert. »Er kann wohl in Rom sehr verrufen sein, in Paris ist er ganz unbekannt.«

»Wie, Sie kennen ihn nicht?«

»Ich habe nicht die Ehre.«

»Nun, er ist ein Bandit, gegen den alle früheren gleichsam Chorknaben sind.«

»Was hat es denn mit diesem Luigi Vampa auf sich?« fragte Franz.

Der Wirt erzählte, daß er ursprünglich ein Hirtenknabe gewesen, der von einem Priester guten Unterricht im Lesen, Schreiben und anderen Dingen erhalten habe. Er sei eben ein außergewöhnlich begabter, eigenartiger und auch stolzer Junge gewesen. Um seiner geliebten Teresa herrliche Kleider und Schmuck zu verschaffen, habe er seinen ersten Raub begangen. Sonst aber zeige er oftmals Großherrenmanier.

»Eines Abends beobachtete er einen Reisenden zu Pferde, der einen Augenblick anhielt, als ob er des Weges ungewiß wäre.

Als der Reisende Luigi gewahr wurde, setzte er sein Pferd in Galopp und ritt auf ihn zu. Luigi hatte sich nicht geirrt; der Fremde, der von Palestrina nach Tivoli ritt, war über seinen Weg ungewiß. Der Jüngling zeigte ihm denselben; da sich aber eine Viertelstunde von hier die Straße in drei Pfade zerteilte und der Reisende sich dort aufs neue verirren konnte, so bat er Luigi, ihm als Wegweiser zu dienen. Luigi legte seinen Mantel weg, nahm sein Gewehr auf die Schulter und wandelte so, von aller schweren Kleidung entledigt, vor dem Reisenden mit jenem raschen Schritt eines Bergbewohners, dem ein Pferd kaum zu folgen vermag.

Nach zehn Minuten waren die beiden bei dem Kreuzwege, den der junge Hirt bezeichnet hatte. Hier streckte er mit der majestätischen Gebärde eines Kaisers die Hand nach jener der drei Richtungen aus, die der Fremde einzuschlagen hatte.

›Exzellenz, das ist Ihr Weg,‹ sprach er, ›jetzt können Sie nicht mehr fehlen.‹

›Hier ist dein Lohn‹, sagte der Reisende und bot dem Hirten einige Scheidemünzen.

›Ich danke,‹ versetzte Luigi, seine Hand zurückziehend, ›ich leiste einen Dienst, aber ich verkaufe ihn nicht.‹

Der Reisende, der übrigens an diesen Unterschied zwischen der knechtischen Dienstbarkeit der Städter und dem Stolze eines Landbewohners gewöhnt zu sein schien, sagte:

›Aber wenn du eine Bezahlung ausschlägst, nimmst du wenigstens ein Geschenk an?‹

›Ach ja, das ist etwas anderes.‹

›Gut,‹ sprach der Reisende, ›so nimm diese zwei venezianischen Zechinen und gib sie deiner Braut, daß sie sich ein Paar Ohrgehänge dafür kaufe.‹

›Und Sie nehmen diesen Dolch,‹ entgegnete der junge Hirt, ›Sie finden keinen mit einem so gut geschnitzten Griff von Albano bis Civita-Castellana.‹

›Ich nehme ihn an,‹ erwiderte der Reisende, ›aber dann bin ich dir verbunden, denn der Dolch gilt mehr als die zwei Zechinen.‹

›Vielleicht für einen Handelsmann, allein für mich, der ich ihn selbst geschnitzt habe, gilt er kaum einen Piaster.‹

›Wie nennst du dich?‹ fragte der Reisende.

›Luigi Vampa‹, erwiderte der Hirt mit einer Miene, als hätte er geantwortet: Alexander von Mazedonien. -- ›Und Sie?‹

›Ich,‹ sagte der Reisende, ›ich nenne mich Sindbad, der Seefahrer!‹«

Franz d'Epinan stieß einen Schrei des Erstaunens aus.

»Sindbad, der Seefahrer?«

»Ja,« erwiderte der Erzähler, »diesen Namen legte sich der Reisende gegen Vampa bei.«

»Was gefällt Ihnen an diesem Namen nicht?« fragte Albert. »Es ist ein sehr hübscher Name, und die Abenteuer von dem Patron dieses Herrn haben mich in meiner Jugend sehr unterhalten.«

Franz schwieg. Eine ganze Welt von Erinnerungen tauchte vor ihm auf.

»Fahren Sie fort«, sprach er zum Gastwirt.

»Man sagt, die beiden wären seitdem im Zusammenhang geblieben; denn der sich ›Sindbad, der Seefahrer‹ nennt, sei ein mächtiger Mann und habe überall die Hand im Spiele.«

Am nächsten Tage machten die beiden jungen Leute die Bekanntschaft des Grafen von Monte Christo. Es war dies ein auffallend schöner Mann mit kohlschwarzem Haar und Bart; nur die fahle Leichenblässe seines edelgeschnittenen Gesichts rief den Eindruck hervor, als wäre er ein dem Grabe Entstiegener. Die Fremdartigkeit seiner Erscheinung trug nicht wenig dazu bei, das ungeheure Aufsehen noch zu vermehren, das er in Rom bereits durch sein luxuriöses Auftreten allgemein erregt hatte. Nicht minder hielt eine junge, wunderschöne Griechin, die unter dem Schutz des Grafen stand, die Neugierde der Menge wach.

Baron Franz d'Epinan betrachtete diesen seltsamen Mann mit ebensoviel Bewunderung wie mit innerem Mißbehagen, so liebenswürdig er sich den beiden Freunden gegenüber auch zeigte. Er stellte ihnen mit Freuden seinen Wagen zur Verfügung, versäumte aber nicht, gleich dem Wirt, die jungen Herren vor einer zu weiten Fahrt zu warnen, da es in der Umgegend Roms nicht ganz geheuer sei. Franz nahm die Warnung an. Albert dagegen, der sich in eine reizende Maske verliebt hatte, fuhr auf eigene Hand zu einem Stelldichein mit der Schönen. Für den Abend hatte man sich zum Besuch eines Balles verpflichtet. Franz beschloß, auf Albert zu warten, solange es möglich wäre. Er bestellte also den Wagen erst bis elf Uhr und ersuchte Maestro Pastrini, ihn sogleich zu benachrichtigen, wenn Albert in den Gasthof zurückkehren würde. Um elf Uhr war Albert noch nicht erschienen. Franz kleidete sich an und fuhr fort, indem er bei dem Wirt hinterließ, daß er diese Nacht beim Herzog von Bracciano zubringe.

Das Haus des Herzogs von Bracciano war eines der prachtvollsten Häuser Roms; seine Gemahlin, eine der letzten Erbinnen der Colonna, machte die Honneurs auf eine vollkommene Weise, daher kam es, daß die Festlichkeiten daselbst einen europäischen Ruf genossen. Franz und Albert waren mit Empfehlungsbriefen an den Herzog nach Rom gekommen. Es war denn seine erste Frage, was aus Franzens Reisegefährten geworden sei. Franz antwortete ihm, er habe Albert in dem Moment, als man die Moccoletti auslöschte, verlassen und bei der Via Marello aus dem Gesicht verloren.

»Er kam also nicht nach Hause?« fragte der Herzog.

»Ich wartete auf ihn bis zu dieser Stunde«, erwiderte Franz.

»Wissen Sie, wohin er gegangen?«

»Nein, nicht bestimmt; ich glaube indes, daß es sich um etwas wie ein Stelldichein handelt.«

»Teufel,« sprach der Herzog, »das ist ein schlimmer Tag, oder vielmehr eine schlimme Nacht, um sich außen zu verspäten, nicht wahr, Frau Gräfin?«

Diese letzteren Worte waren an die Gräfin G... gerichtet, die eben hinzutrat und am Arme des Herrn Torlonia, Bruder des Herzogs, auf und ab ging.

»Ich finde im Gegenteil, daß es eine bezaubernde Nacht ist,« entgegnete die Gräfin, »und alle, die hier sind, werden sich nur darüber beklagen, daß sie zu schnell vergehen wird.«

Der Graf erwiderte lächelnd: »Ich spreche aber nicht von denen, die hier sind; hier laufen die Männer keine andere Gefahr, als daß sie sich in Sie verlieben, und die Frauen, als daß sie vor Eifersucht krank werden, wenn sie Ihre Schönheit betrachten, teure Gräfin, ich rede von denen, die in den Gassen Roms herumlaufen.«

»O mein Gott,« fragte die Gräfin, »wer läuft denn um diese Stunde in den Straßen Roms umher, außer daß er auf einen Ball geht?«

»Unser Freund Albert von Morcerf, Frau Gräfin, den ich verließ, als er um sieben Uhr abends seiner Unbekannten nachsetzte,« bemerkte Franz, »und den ich seither nicht wieder gesehen.«

»Wie, und Sie wissen nicht, wo er ist?«

»Ganz und gar nicht.«

»Hat er Waffen bei sich?«

»Er ist im Bajazzo-Anzug.«

»Sie hätten ihn nicht gehen lassen sollen,« sprach der Herzog zu Franz, »da Sie doch Rom besser kennen als er.«

»Jawohl, doch wäre es ebenso schwer gewesen, ein Rennpferd aufzuhalten«, entgegnete Franz. »Was kann ihm denn zustoßen?«

»Wer weiß? Die Nacht ist sehr finster und die Tiber hübsch nahe bei der Via Macello.«

Franz fühlte einen Schauer durch seine Adern laufen, als er sah, daß die Denkart des Herzogs und der Gräfin mit seiner eigenen Besorgnis so sehr im Einklang stand.

»Es scheint mir,« sprach der Herzog, »es sucht Sie eben einer von meinen Bedienten.«

Der Herzog irrte sich nicht; als der Bediente Franz bemerkte, näherte er sich ihm und sagte: »Exzellenz, der Inhaber des ›Hotels von London‹ läßt Ihnen melden, daß Sie bei ihm ein Mann erwarte mit einem Brief des Grafen von Morcerf.«

»Mit einem Brief des Grafen?« rief Franz.

»Ja.«

»Wer ist dieser Mann?«

»Ich weiß es nicht.«

»Warum hat er mir den Brief nicht hierher gebracht?«

»Der Bote hat mir keine Erklärung gegeben.«

»Und wo ist der Bote?«

»Er ging sogleich wieder fort, als er mich in den Ballsaal treten sah, um es Ihnen zu melden.«

»O mein Gott!« sprach die Gräfin zu Franz. »Gehen Sie schnell. Der arme junge Mann! Es ist ihm vielleicht ein Unfall begegnet.«

»Ich eile«, sagte Franz.

»Werden Sie zurückkommen, um uns Nachricht zu geben?« fragte die Gräfin.

»Ja, wenn die Sache nicht von Wichtigkeit ist; widrigenfalls bürge ich nicht dafür, was mit mir geschehen wird.«

»Vor allem Klugheit!« sagte die Gräfin.

»Oh, seien Sie unbesorgt.«

Franz nahm seinen Hut und ging. Er hatte seinen Wagen fortgeschickt und ihm Befehl gegeben, erst um zwei Uhr wiederzukommen; aber zum Glück war der Palast Bracciano, der einerseits an den Korso, andererseits an die Piazza de Santi Apostoli stieß, kaum zehn Minuten vom »Hotel von London« entfernt. Als sich Franz dem Hotel näherte, sah er einen Mann mitten in der Straße stehen; er zweifelte keinen Augenblick, daß er der Bote Alberts sei. Er trat auf ihn zu, doch zu seiner großen Verwunderung redete ihn dieser Mann zuerst an.

»Was wollen Sie von mir, Exzellenz?« fragte er, indem er einen Schritt zurückwich, wie ein Mensch, der auf seiner Hut ist.

»Seid Ihr es,« fragte Franz, »der mir einen Brief vom Grafen von Morcerf bringt?«

»Nicht wahr, Eure Exzellenz wohnen im Hotel des Pastrini?«

»Ja.«

»Und Eure Exzellenz sind der Reisegefährte des Grafen?«

»Ja.«

»Wie nennen sich Eure Exzellenz?«

»Baron Franz d'Epinay.«

»So ist dieser Brief an Eure Exzellenz gerichtet.«

»Ist eine Antwort zu geben?« fragte Franz, indem er den Brief aus seinen Händen nahm.

»Ja, wenigstens hofft sie Ihr Freund.«

»Kommt mit mir herauf. Ich werde sie Euch geben.«

»Ich warte lieber hier«, sagte der Bote lachend.

»Warum das?«

»Eure Exzellenz werden die Sache begreifen, wenn Sie den Brief gelesen haben werden.«

»Also werde ich Euch hier finden?«

»Ganz gewiß.«

Franz ging hinein; auf der Stiege begegnete ihm Maestro Pastrini.

»Wie nun?« fragte er.

»Was?« entgegnete Franz.

»Haben Sie den Mann gesehen, der Sie in bezug auf Ihren Freund zu sprechen wünschte?« fragte er Franz.

»Ja, ich habe ihn gesehen,« antwortete dieser, »und er hat mir diesen Brief gebracht. Ich bitte, lassen Sie Licht auf mein Zimmer bringen.«

Der Wirt gab einem Diener Befehl, daß er Franz mit einer Kerze voranleuchte. Der junge Mann bemerkte, daß Maestro Pastrini sehr verstört aussah, und diese Miene spornte ihn um so mehr an, Alberts Brief zu lesen; er näherte sich also dem Licht und entfaltete das Papier. Der Brief war von Alberts Hand geschrieben und von ihm unterfertigt. Franz durchlas ihn zweimal, so weit war er davon entfernt, das zu erwarten, was er enthielt. Er lautete buchstäblich:

»Lieber Freund! Sobald Sie Gegenwärtiges erhalten, sind Sie so gütig, aus meinem Portefeuille, das Sie in der viereckigen Schublade des Sekretärs finden werden, den Wechselbrief herauszunehmen; fügen Sie den Ihrigen bei, wenn er hinreichend ist. Eilen Sie zu Torlonia, erheben Sie dort im Augenblick viertausend Piaster und übergeben Sie diese dem Boten. Es ist dringend, daß ich die Summe unverweilt bekomme. Ich schreibe nichts weiter und rechne so auf Sie, wie Sie auf mich rechnen können.

P.S. I believe now to Italian banditi.

(Ich glaube jetzt an italienische Banditen.)

Ihr Freund Albert von Morcerf.«

Unter diese Zeilen waren von einer fremden Hand einige italienische Worte geschrieben:

»Se alle sei della mattina le quattro mila piastre non sono nelle mie mani, alle sette il conte Alberto avrà cessato di vivere.

Luigi Vampa.«

Wenn um sechs Uhr morgens die viertausend Piaster nicht in meinen Händen sind, so hat um sieben Uhr Graf Albert aufgehört zu leben.

Luigi Vampa.

Diese zweite Unterschrift hatte Franz alles erklärt, und er begriff, warum sich der Bote sträubte, zu ihm hinaufzukommen; die Gasse dünkte ihn sicherer als das Zimmer Franzens. Albert war also in die Hände des berüchtigten Banditen gefallen, an den er so lange nicht glauben wollte. Es war keine Zeit zu verlieren; er lief zum Sekretär, öffnete ihn, fand in der bezeichneten Schublade das Portefeuille und darin den Wechselbrief; er lautete im ganzen auf sechstausend Piaster, doch hatte Albert von diesen sechstausend Piastern bereits dreitausend verbraucht. Franz besaß keinen Kreditbrief; da er in Florenz wohnte und bloß für sieben oder acht Tage nach Rom gegangen war, so nahm er einhundert Louisdor mit sich, und von diesen hatte er höchstens noch fünfzig übrig. Es fehlten also noch sieben- oder achthundert Piaster zu der verlangten Summe, die Franz und Albert zusammenbringen sollten. Franz konnte in einem solchen Falle auf die Gefälligkeit der Herren Torlonia rechnen. Er schickte sich also an, in den Palast Bracciano zurückzukehren, ohne einen Augenblick zu verlieren, als ihm ein Lichtgedanke durch den Kopf fuhr.

Er dachte an den Grafen von Monte Christo. Franz ließ also den Maestro Pastrini zu sich kommen, und als er ihn an der Türschwelle erscheinen sah, sprach er lebhaft zu ihm:

»Mein lieber Herr Pastrini, glauben Sie, daß der Graf zu Hause ist?«

»Ja, Exzellenz, soeben ist er zurückgekehrt.«

»Ist er wohl schon zu Bett gegangen?«

»Ich zweifle daran.«

»Oh, ich bitte Sie, läuten Sie an seiner Tür und bitten Sie für mich um die Erlaubnis, mich ihm vorstellen zu dürfen.«

Maestro Pastrini beeilte sich, diesem Auftrage nachzukommen. Fünf Minuten danach kam er wieder zurück und sagte: »Der Graf erwartet Eure Exzellenz.«

Franz eilte über den Quergang; ein Bedienter führte ihn zum Grafen. Er befand sich in einem kleinen Kabinett, das Franz noch nicht gesehen hatte, und das ganz mit Diwans umgeben war. Der Graf trat ihm entgegen.

»Was für ein guter Wind führt Sie in dieser Stunde zu mir?« fragte er. »Sollten Sie mit mir soupieren wollen? Das wäre schön von Ihnen.«

»Nein, ich komme, um mit Ihnen über eine wichtige Angelegenheit zu sprechen.«

»Über eine Angelegenheit?« sprach der Graf, indem er Franz mit einem tiefen Blick, wie er ihm eigentümlich war, betrachtete. »Über welche Angelegenheit?«

»Sind wir allein?«

Der Graf ging zur Tür, kehrte wieder zurück und sagte: »Vollkommen allein.«

Franz übergab ihm Alberts Brief und sprach: »Lesen Sie!« Der Graf las den Brief. »Ah!« rief er aus.

»haben Sie auch die Nachschrift gelesen?«

»Ja.« sprach er. »ich sehe wohl:

›Se alle sei della mattina le quattro mila piastre non sono nelle mie mani, alle sette il conte Alberto avrà cessato di vivere.

Luigi Vampa.‹«

»Was sagen Sie dazu?« fragte Franz.

»Haben Sie die Summe, die da verlangt wird?«

»Ja, nur fehlen noch achthundert Piaster.«

Der Graf trat zu einem Sekretär, schloß ihn auf, zog eine Schublade voll Gold hervor und sagte zu Franz: »Ich hoffe, Sie werden mir nicht die Unbill zufügen und sich an jemand anders als an mich wenden.«

»Sie sehen im Gegenteil, daß ich geradeswegs zu Ihnen gegangen bin«, versetzte Franz.

»Ich danke Ihnen dafür, nehmen Sie«, sprach er zu Franz und gab ihm ein Zeichen, daß er in die Schublade langen möge.

»Ist es denn eine Notwendigkeit, an Luigi Vampa das Geld zu schicken?« fragte der junge Mann, indem er den Grafen gleichfalls fest ins Auge faßte.

»Bei Gott!« rief dieser. »Urteilen Sie selbst, die Nachschrift lautet bestimmt.«

Franz sah den Grafen durchdringend an und sagte:

»Mich dünkt, es würde Ihrerseits nur eines Wortes bedürfen, um Albert aus seiner Lage zu befreien.«

»Wie kommen Sie darauf?« fragte der Graf stirnrunzelnd.

»Ich denke mir dies aus verschiedenen Gründen«, sagte Franz sehr bestimmt.

Der Graf sah eine Weile schweigend vor sich hin; dann wandte er sich an Franz: »Gut -- und wenn ich den Vampa aufsuchte, würden Sie mich begleiten?«

»Falls Ihnen meine Gesellschaft nicht lästig fiele.«

»Wohlan, es sei! Das Wetter ist schön, eine Promenade in die Campagna von Rom kann uns wohl bekommen.«

»Soll ich Waffen mitnehmen?«

»Wozu?«

»Geld?«

»Das ist unnötig. Wo ist der Mensch, der dieses Briefchen brachte?«

»Auf der Straße.«

»Wartet er auf eine Antwort?«

»Ja.«

»Er muß ein wenig wissen, wohin wir gehen; ich will ihn rufen.«

»Es ist umsonst, er wollte nicht heraufkommen.«

»Zu Ihnen vielleicht, doch zu mir wird er keine Schwierigkeiten machen.«

Der Graf trat an das Kabinettfenster, das auf die Gasse ging, und pfiff auf eine eigene Weise. Der Mann im Mantel entfernte sich von der Mauer und ging vorwärts in die Mitte der Gasse.

»Salite!« sprach der Graf in einem Tone, als hätte er seinem Diener einen Befehl gegeben.

Der Bote gehorchte ohne Säumnis, ja sogar mit Eilfertigkeit, sprang über die Stufen der Treppe und flog in das Hotel. Nach fünf Sekunden war er an der Tür des Kabinetts.

»Ha, du bist es, Peppino!« sprach der Graf.

Peppino warf sich, statt zu antworten, auf die Knie, ergriff die Hand des Grafen und preßte sie zu öftern Malen an seine Lippen.

»Ah,« sagte der Graf, »hast du es noch nicht vergessen, daß ich dir das Leben erhalten? Es ist seltsam, da doch schon acht Tage darüber verflossen sind.«

Dann sprachen sie leise einige Worte miteinander. Auf die Frage des Grafen aber erzählte der Mann, daß der junge Graf Morcerf mit Teresa, der Geliebten des Luigi Pampa, geliebäugelt habe, und seine Gefangennahme die Rache dafür sei. Man halte ihn in den Katakomben von San Sebastiano gefangen.

»Hm,« sagte der Graf zu Franz, »wenn Sie mich nicht gefunden hätten, würde das Liebesabenteuer Ihrem Freunde ein wenig hoch zu stehen kommen; doch seien Sie beruhigt, er kommt diesmal mit der Angst davon.«

»Wir wollen ihn doch wohl noch aufsuchen?« bemerkte Franz.

»Bei Gott! Um so mehr, als er in einem sehr malerischen Orte ist. Kennen Sie schon die Katatomben von San Sebastiano?«

»Nein, ich bin nie hinabgestiegen, doch nahm ich mir vor, sie einmal zu besichtigen.«

»Gut, die Gelegenheit hat sich nun gefunden, es würde sich wohl schwerlich eine bessere finden lassen. Haben Sie Ihren Wagen?«

»Nein.«

»Das tut nichts; ich pflege Tag und Nacht einen Wagen angespannt zu lassen.«

»Angespannt?«

»Ja, ich bin ein sehr launenhaftes Wesen; ich muß Ihnen sagen, daß mich öfter, wenn ich aufstehe oder nach dem Mittagsmahle oder mitten in der Nacht die Lust anwandelt, nach irgendeinem Punkte der Welt zu fahren, und ich reise dann auch ab.«

Der Graf läutete, sein Kammerdiener trat ein.

»Der Wagen soll vorfahren,« sprach er, »und nehmet die Pistolen heraus, die in den Taschen sind; man braucht den Kutscher nicht aufzuwecken, Ali soll uns fahren.«

Nach einer kurzen Weile hörte man das Geräusch des Wagens, der vor dem Tore hielt. Der Graf zog seine Uhr und sprach:

»Halb ein Uhr, hm, wir könnten erst um fünf Uhr des Morgens fortfahren und kämen noch früh genug; doch würde diese Verzögerung Ihrem Freunde vielleicht eine schlimme Nacht verursachen, und so ist es besser, ihn unverweilt den Händen der Ungläubigen zu entziehen. Sind Sie also entschlossen, mich zu begleiten?«

»Mehr als jemals.«

»Gut, kommen Sie.«

Franz und der Graf gingen fort und Peppino folgte ihnen. Am Tore fanden sie den Wagen. Ali saß auf dem Bock. Franz erkannte in ihm wieder den stummen Sklaven aus der Grotte von Monte Christo. Franz und der Graf stiegen in den Wagen; Peppino setzte sich neben Ali und man fuhr im Galopp davon. Ali hatte im voraus seine Aufträge erhalten, denn er fuhr über den Korso, durchschnitt das Campo Vaccino, die Straße San Gregorio und kam zu der Porta di San Sebastiano; hier wollte der Torwächter einige Schwierigkeiten machen, allein der Graf von Monte Christo zeigte ihm ein Erlaubnisschreiben des Gouverneurs von Rom, zu jeder Stunde bei Tag und Nacht aus- und einfahren zu dürfen; sonach wurden die Schranken aufgezogen, der Torwart erhielt einen Louisdor für seine Bemühung, und man fuhr weiter.

Der Weg, den der Wagen einschlug, war die alte Via Appia, ganz von Gräbern eingefaßt. Beim Scheine des Mondes, der eben aufging, dünkte es Franz von Zeit zu Zeit, als träte eine Wache hinter einer Ruine hervor; jedoch auf ein Zeichen des Peppino zog sich diese Schildwache wieder in den Schatten zurück und verschwand. Eine kurze Strecke vor dem Zirkus des Caracalla hielt der Wagen still; Peppino öffnete den Schlag, und der Graf stieg mit Franz aus.

»In zehn Minuten«, sprach der Graf zu seinem Gefährten, »haben wir unser Ziel erreicht.«

Hierauf nahm er Peppino beiseite und gab ihm ganz still einen Auftrag; Peppino nahm eine Fackel aus dem Koffer des Wagens und ging fort. Es verstrichen wieder fünf Minuten, während der Franz den Hirten auf einem schmalen Fußsteige mitten unter den Hügelreihen, die den von Erdbeben erschütterten Flächenraum von Rom bilden, sich entfernen und in jenem hohen, rötlichen Grase verschwinden sah, das die struppige Mähne eines riesenhaften Löwen zu sein schien.

»Nun gehen wir ihm nach«, sagte der Graf.

Franz und der Graf begaben sich auf denselben Fußpfad, der sie nach hundert Schritten zu einem Abhange nach einem engen Tale führte. Bald darauf sah man zwei Männer im Schatten plaudern.

»Müssen wir noch weiter vorwärts gehen oder warten?« fragte Franz den Grafen.

»Wir gehen noch weiter; Peppino mußte die Schildwache von unserer Ankunft benachrichtigen.«

Einer von diesen Männern war wirklich Peppino, der andere ein Bandit, als Schildwache ausgestellt. Franz und der Graf näherten sich, der Bandit grüßte.

»Exzellenz,« sprach Peppino, zum Grafen gewendet, »wenn Sie mir folgen wollen, zwei Schritte von hier ist der Eingang in die Katakomben.«

»Gut,« sagte der Graf, »geh voran.«

Hinter einem dichten Gebüsche und mitten unter Felsen zeigte sich wirklich eine Öffnung, durch die ein Mensch nur mühselig gelangen konnte. Peppino schlüpfte zuerst durch das Loch, aber kaum hatte er einige Schritte getan, so erweiterte sich der unterirdische Gang. Da hielt er still, zündete seine Fackel an und wendete sich, um zu sehen, ob man ihm folge.

Der Graf arbeitete sich zuerst durch diese Art Luftloch, und Franz kroch ihm nach. Der Raum vertiefte sich in einem sanften Abhange und vergrößerte sich, je weiter man vorwärts schritt; nichtsdestoweniger mußten Franz und der Graf noch immer gebeugt gehen und konnten nur mit Mühe nebeneinander schreiten. So machten sie ungefähr fünfzig Schritte, dann wurden sie durch den Zuruf: »Wer da?« angehalten. Zu gleicher Zeit sahen sie in der Dunkelheit an einem Gewehrlaufe den Widerschein von ihrer eigenen Fackel blinken.

»Gut Freund?« rief Peppino; er schritt allein vorwärts, flüsterte der zweiten Schildwache einige Worte zu, die gleich der ersten grüßte und dann den nächtlichen Besuchern ein Zeichen gab, daß sie ihren Weg fortsetzen könnten. Hinter der Schildwache war eine Stiege von zwanzig Stufen. Franz und der Graf stiegen diese Treppe hinab und befanden sich in einer Art viereckigen Friedhofes. Von da liefen fünf Gänge aus, wie die Strahlen eines Sternes, und die ausgehöhlten Wände mit den übereinanderliegenden Nischen, die die Gestalt von Särgen hatten, deuteten an, daß man die Katakomben betreten habe. In einer dieser Höhlungen, deren Ausdehnung sich nicht bestimmen ließ, bemerkte man einigen Widerschein der Lichtstrahlen. Der Graf legte die Hand auf die Schulter Franzens und sprach zu ihm:

»Wollen Sie ein Ruhelager der Banditen sehen?«

»Mit Vergnügen«, entgegnete Franz.

»Gut, kommen Sie mit mir. -- Peppino, lösch' deine Fackel aus.«

Peppino gehorchte; Franz und der Graf befanden sich in der dichtesten Finsternis; nur etwa fünfzig Schritte vor ihnen tanzten längs den Wänden einige rötliche Lichtstreifen, die noch sichtbar blieben, nachdem Peppino seine Fackel ausgelöscht hatte. Sie schritten stillschweigend vorwärts, wobei der Graf Franz führte, als besäße er die besondere Gabe, im Finstern zu sehen. Übrigens unterschied Franz selbst immer leichter seinen Weg, je mehr er sich jenem Widerscheine näherte, der ihnen als Führer gedient hatte.

Drei Säulengänge, von denen der mittlere die Stelle der Tür vertrat, gewährten ihnen Durchlaß. Diese Säulengänge öffneten sich von der einen Seite nach dem Korridor, wo sich der Graf und Franz befanden, und von der andern nach einem großen, viereckigen Gemach, ganz von Nischen umgeben, die den obenerwähnten ähnlich waren. Mitten in diesem Gemach erhoben sich vier Steine, die einst als Altäre gedient hatten, wie es das Kreuz auf denselben anzuzeigen schien. Eine einzige Lampe, die auf einem Säulenstrunke stand, erleuchtete mit einem blassen und flimmernden Scheine die seltsame Szene, die sich den Augen der Besucher darbot, die im Schatten standen. Ein Mann saß mit dem Ellbogen auf diese Säule gestützt und las, seinen Rücken gegen den Säulengang, von wo aus ihn die Ankömmlinge betrachteten. Es war Luigi Vampa, der Hauptmann der Räuberbande. Rings um ihn gewahrte man an zwanzig Banditen, die teils in ihre Mäntel gehüllt auf dem Boden lagen, teils an einer Art Steinbank lehnten, die rings um das Kolumbarium lief. Jeder hatte seinen Karabiner im Bereiche seiner Hand. Im Hintergrunde ging schweigend und kaum sichtbar, wie ein Schatten, eine Schildwache vor einer Öffnung auf und ab, die man jedoch nicht sah, weil die Dunkelheit an dieser Stelle noch viel dichter war.

Als der Graf glauben konnte, daß Franz seine Blicke hinlänglich an dieser malerischen Gruppe geweidet hatte, legte er seinen Finger an die Lippen, um Stillschweigen anzudeuten, stieg über die drei Stufen, die vom Korridor zum Kolumbarium führten, trat durch den mittleren Säulengang in das Gemach und schritt gegen Vampa vor, der in seine Lektüre so sehr vertieft war, daß er das Geräusch der Tritte nicht vernahm.

»Wer da?« rief die Schildwache, die nicht wenig überrascht schien, als sie beim Schimmer einer Lampe eine Art Schatten bemerkte, der sich hinter dem Hauptmann mehr und mehr vergrößerte.

Bei diesem Ruf richtete sich Vampa empor und zog zugleich eine Pistole aus dem Gürtel. Im Augenblick waren alle Banditen auf den Beinen, und zwanzig Gewehrläufe wandten sich gegen den Grafen.

Dieser blieb vollkommen ruhig, ohne daß sich eine Muskel in seinem Gesichte bewegte, und sprach: »Nun, mein lieber Vampa, mir scheint, Ihr setzt Euch in große Unkosten, um einen Freund zu empfangen.«

»Die Waffen nieder!« rief der Häuptling, während er mit der einen Hand ein gebieterisches Zeichen gab, mit der andern ehrfurchtsvoll seinen Hut abnahm, hierauf wandte er sich gegen den seltsamen Mann, der die ganze Szene beherrschte, und sprach zu ihm:

»Vergebung, Herr Graf! Allein ich war weit davon entfernt, mir die Ehre Ihres Besuches zu versprechen, so daß ich Sie gar nicht erkannt habe.«

»Ihr scheint in allen Dingen ein kurzes Gedächtnis zu haben, Vampa,« sagte der Graf, »denn Ihr vergeßt nicht bloß das Gesicht der Menschen, sondern auch die Bedingungen, die Ihr mit ihnen eingegangen.«

»Ha, welche Bedingungen sollte ich vergessen haben, Herr Graf?« fragte der Bandit wie ein Mensch, der, wenn er gefehlt, nichts weiter verlangt, als den Fehler wieder gutzumachen.

»Sind wir nicht übereingekommen,« sprach der Graf, »daß Euch nicht allein meine Person, sondern auch die meiner Freunde heilig sei?«

»Und habe ich diesen Vertrag gebrochen, Exzellenz?«

»Ihr habt diesen Abend den Vicomte Albert von Morcerf entführt und hierhergebracht; nun seht,« fuhr der Graf in einem Tone fort, der Franz beben machte, »dieser junge Mann ist einer meiner Freunde, dieser junge Mann wohnte in demselben Hotel wie ich, dieser junge Mann hat durch acht Tage den Korso in meiner eigenen Kalesche gemacht, nichtsdestoweniger, ich wiederhole es, habt Ihr ihn entführt, habt ihn hierhergeschleppt und«, fügte er hinzu, den Brief aus der Tasche ziehend, »auf ihn, wie auf den ersten besten, ein Lösegeld gesetzt.«

»Warum habt Ihr mir das nicht angezeigt, ihr Gesellen?« rief der Häuptling gegen seine Leute gewendet, die vor seinem Blicke zurückbebten. »Warum ließet Ihr mich Gefahr laufen, mein Wort gegen einen Mann zu brechen, wie der Herr Graf ist, der das Leben von uns allen in seinen Händen hat? Beim Himmel! Dürfte ich es glauben, daß einer von euch wußte, der junge Mann sei ein Freund Seiner Exzellenz, ich würde ihm mit eigener Hand das Gehirn ausbrennen.«

Der Graf wandte sich zu Franz und sagte: »Nicht wahr, ich habe es Ihnen ja gesagt, daß hier ein Irrtum obwaltet.«

»Sind Sie nicht allein?« fragte Vampa mit Unruhe.

»Ich kam mit dem Herrn, an den dieser Brief gerichtet war, und dem ich beweisen wollte, daß Luigi Vampa ein Mann von Wort sei. Kommen Sie, Exzellenz,« sprach er dann zu Franz, »hier ist Luigi Vampa, der Ihnen selbst sagen wird, daß er den begangenen Irrtum bedauert.«

Franz trat hervor; der Häuptling ging ihm einige Schritte entgegen und sagte: »Seien Sie willkommen unter uns, Exzellenz! Sie haben gehört, was der Herr Graf gesprochen und was ich ihm geantwortet habe; ich füge noch hinzu, ich möchte nicht um die viertausend Piaster, die ich als Lösegeld für Ihren Freund festgesetzt, daß dergleichen geschehen wäre.«

»Wo ist der Gefangene?« fragte Franz, mit Unruhe umherblickend. »Ich sehe ihn nicht.«

»Es ist ihm doch nichts widerfahren, wie ich hoffe?« sprach der Graf, indem er die Stirne runzelte.

»Der Gefangene ist dort,« sagte Vampa, indem er mit der Hand nach der Vertiefung zeigte, vor welcher die Schildwache auf und ab ging, »ich will es ihm selbst verkünden, daß er frei ist.«

Der Häuptling schritt nach der bezeichneten Stelle hin, die Albert als Gefängnis diente, und Franz und der Graf folgten ihm.

»Was macht der Gefangene?« fragte Vampa die Schildwache.

»Meiner Treu, ich weiß es nicht, Hauptmann; seit einer Stunde schon höre ich nicht mehr, daß er sich rührt.«

»Kommen Sie, meine Herren!« sagte Vampa.

Der Graf und Franz stiegen sieben bis acht Stufen hinab; der Häuptling schritt ihnen stets voran, schob dann einen Riegel zurück und klopfte an eine Tür. Hierauf konnte man beim Schimmer einer Lampe, jener ähnlich, die das Kolumbarium erleuchtete, Albert sehen, der, eingehüllt in einen Mantel, den er von einem Banditen entlehnt hatte, in einem Winkel lag und in tiefen Schlaf versunken war.

»Sehen Sie,« sagte der Graf, auf seine eigentümliche Weise lächelnd, »das steht einem Manne nicht übel, der um sieben Uhr des Morgens erschossen werden soll.«

Vampa betrachtete den schlummernden Albert mit einer gewissen Bewunderung; man sah, daß er gegen einen solchen Beweis von Mut nicht unempfindlich war.

»Sie haben recht, Herr Graf,« sprach er, »dieser Mann muß einer Ihrer Freunde sein.«

Dann näherte er sich Albert und berührte ihn an der Schulter. »Exzellenz,« sprach er, »beliebt es Ihnen, aufzustehen?«

Albert streckte die Hände aus, rieb sich das Gesicht und öffnete die Augen. »Ah!« sprach er dann, »Ihr seid es, Hauptmann? Bei Gott! Ihr hättet mich noch schlafen lassen sollen; ich hatte einen herrlichen Traum; ich träumte, daß ich bei Torlonia mit der Gräfin G... einen Galopp tanzte.«

Er zog seine Uhr, die er behalten hatte, um sich von dem Verlauf der Zeit zu überzeugen.

»Halb zwei Uhr des Morgens! -- Aber zum Teufel! Warum habt Ihr mich um diese Stunde aufgeweckt?«

»Am Ihnen zu sagen, daß Sie frei sind, Exzellenz!«

»Mein Lieber,« entgegnete Albert mit völliger Freiheit des Geistes, »haltet Euch künftig an den Ausspruch Napoleons: »Weckt mich nur wegen schlimmer Nachrichten auf!« Ließet Ihr mich fortschlafen, so hätte ich meinen Galopp ausgetanzt und wäre Euch dankbar fürs ganze Leben. Man hat also mein Lösegeld entrichtet?«

»Nein, Exzellenz!«

»Was, wie bin ich denn frei?«

»Jemand, dem ich nichts abschlagen kann, hat Sie von mir gefordert.«

»Hier?«

»Ja, hier!«

»Ha, bei Gott, dieser Jemand ist sehr liebenswürdig!«

Albert blickte ringsum, bemerkte Franz und sagte: »Wie, Sie sind es, mein lieber Franz? Sie trieben die Aufopferung so weit?«

»Nicht ich,« entgegnete Franz, »sondern unser Nachbar, der Graf von Monte Christo.«

»Ah, bei Gott, Herr Graf,« rief Albert entzückt, indem er seine Krawatte und seine Manschetten ordnete, »Sie sind ein wahrhaft großer Mann, und ich hoffe, Sie werden mich als Ihren ewigen Schuldner betrachten, erstens in Rücksicht des Wagens und dann namentlich wegen dieser Angelegenheit.«

Er reichte dem Grafen seine Hand, der in dem Momente zitterte, als er ihm die Rechte entgegenbot, sie ihm aber dennoch darreichte.

Der Bandit betrachtete diese Szene mit Erstaunen; er war offenbar daran gewohnt, seine Gefangenen zittern zu sehen, und hier war einer, der sich in seiner heiteren Stimmung gar nicht veränderte; Franz war darüber höchlich erfreut, daß Albert, selbst unter Banditen, die Nationalehre behauptet habe.

»Mein lieber Albert,« sprach er zu ihm, »wenn Sie sich beeilen wollen, so wird es noch Zeit sein, die Nacht bei Torlonia zu beschließen. Sie fangen Ihren Galopp da wieder an, wo Sie denselben unterbrochen haben, und zwar so, daß Sie gar keinen Groll gegen Herrn Luigi bewahren, der sich bei der ganzen Geschichte in der Tat recht artig und edel bewiesen hat.«

»Ja, Sie haben recht,« entgegnete Albert, »und wir können um zwei Uhr dort sein. Herr Luigi,« fuhr Albert fort, »bedarf es noch einer andern Förmlichkeit, um von Eurer Exzellenz Abschied zu nehmen?«

»Keiner, mein Herr!« erwiderte der Bandit. »Sie sind frei wie der Vogel in der Luft. Ich wünsche Ihnen also ein frohes, glückliches Leben. Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie.«

Vampa stieg die Treppe hinauf und durchschritt den großen, viereckigen Saal, während ihm Franz, Albert und der Graf nachfolgten. Alle Banditen standen mit dem Hut in der Hand.

»Peppino,« rief der Hauptmann, »gib mir die Fackel.«

»Hm, was tut Ihr denn?« fragte der Graf.

»Ich führe Sie zurück,« sagte der Hauptmann, »das ist wohl die geringste Ehre, die ich Eurer Exzellenz zu erweisen vermag.«

Er nahm die angezündete Fackel aus der Hand des Hirten und schritt seinen Gästen voran, nicht wie ein Bedienter, der ein knechtisches Werk verrichtet, sondern wie ein König, der seinen Botschaftern vorangeht. Als er an die Pforte kam, verneigte er sich und sagte: »Herr Graf, jetzt erneuere ich Ihnen meine Entschuldigungen und hoffe, Sie werden gegen mich über das Geschehene keinen Groll bewahren.«

»Nein, mein lieber Vampa,« erwiderte der Graf, »übrigens macht Ihr Eure Fehler auf eine so artige Weise wieder gut, daß man fast versucht ist, Euch dafür zu danken, daß Ihr sie begangen habt.«

»Meine Herren,« versetzte der Häuptling, sich zu den jungen Männern wendend, »mein Anerbieten mag Ihnen vielleicht nicht sehr anziehend vorkommen, wenn Sie aber jemals Lust verspüren, mir einen zweiten Besuch zu machen, so werden Sie willkommen sein, wo ich mich auch immer aufhalten mag.«

Franz und Albert beurlaubten sich. Der Graf ging voran, Albert folgte, und Franz kam zuletzt.

»Haben Eure Exzellenz noch eine Frage zu stellen?« sagte Vampa lächelnd.

»Ja, ich gestehe es,« erwiderte Franz, »ich möchte gern wissen, in welchem Buche Ihr gelesen habt, als wir eintraten.«

»In den Kommentaren Cäsars,« antwortete der Bandit, »ich lese Sie mit Vorliebe.«

»Um Vergebung«, sagte Albert, indem er sich umwandte. »Wollet mir erlauben, Hauptmann?«

Er zündete seine Zigarre an Vampas Fackel an.

»Gehen wir jetzt so schnell als möglich, Herr Graf,« sprach er, »mich drängt es ungemein, die Nacht bei dem Herzog von Bracciano zu beschließen.«

Man traf den Wagen, wo man ihn verlassen hatte. Der Graf sprach ein einziges Wort arabisch zu Ali, und die Pferde sprengten von hinnen. Es war auf Alberts Uhr gerade zwei Uhr, als die beiden Freunde in den Tanzsaal traten. Ihre Ankunft erregte Aufsehen, da sie aber zusammen eintraten, so schwand augenblicklich alle Besorgnis, die man Alberts wegen gehegt hatte.

Der Vicomte von Morcerf schritt auf die Gräfin zu und sagte: »Gnädige Frau, Sie hatten gestern die Güte, mir einen Galopp zu versprechen; ich komme zwar ein wenig spät, um Sie an dieses schmeichelhafte Versprechen zu erinnern, doch hier ist mein Freund, dessen Wahrheitsliebe Sie kennen, er wird es Ihnen bestätigen, daß die Schuld nicht an mir ist.«

Da die Musik in diesem Moment das Signal zu einem Walzer gab, so schlang Albert seinen Arm um die Hüften der Gräfin und verschwand mit ihr im Gewühl der Tanzenden. Mittlerweile dachte Franz an den seltsamen Schauer, der den ganzen Leib des Grafen von Monte Christo in dem Augenblick erschütterte, wo er genötigt war, Albert seine Hand zu reichen.

Am folgenden Morgen beeilte sich Albert, dem Grafen noch einmal seinen heißen Dank auszusprechen für den großen Dienst, den er ihm erwiesen hatte. Voll überströmender Herzlichkeit bat Albert den Grafen, ihn doch einmal in Paris zu besuchen; seine Eltern würden sich mit ihm freuen und ihn aufs herzlichste begrüßen.

Der Graf sagte mit immer gleichbleibender kalter Höflichkeit zu und gab zu Alberts Verblüffung genau Tag, Stunde und Minute an, wann er sich erlauben werde, in Paris nach Verlauf von drei Monaten bei ihm zu erscheinen.

Der Graf hielt Wort: mit Glockenschlag der verabredeten Zeit hielt sein Wagen vor dem Hause von Alberts Eltern, und der Graf ließ sich melden. Albert empfing ihn aufs liebenswürdigste, machte ihn mit seinen Freunden bekannt und führte ihn dann zu seinen Eltern. Der alte Graf Morcerf, ein Mann, der über seine Jahre hinaus ergraut war, befand sich allein im Salon. Rasch kam er auf Monte Christo zu:

»Sie haben uns den Sohn gerettet; wir werden Ihnen zu dauerndem Danke verpflichtet sein.«

Die beiden Männer wechseln miteinander kühl-höfliche Redensarten. Währenddessen kommt die Gräfin Morcerf dazu. Sie stutzt, als sie Monte Christos Stimme hört, und als er sich nach ihr umwendet, wird sie leichenblaß und ist dem Umsinken nah. Der Sohn eilt besorgt zur Mutter; diese aber beherrscht sich und begrüßt den Fremden mit steifem Zeremoniell. Dann aber dankt sie ihm mit warmen Worten, daß er ihr den Sohn erhalten. Da sie aber hört, daß der Graf erst eben von der Reise gekommen, bittet sie ihn, mit ihrer Gastfreundschaft vorliebzunehmen.

Der Graf lehnt dies dankend ab, da er begierig ist, zu erfahren, welch ein Haus in Paris sein Finanzmeister ihm gekauft habe, und wie sein stummer Nubier, den er vorausgeschickt, es wohl eingerichtet haben mochte.

Staunend hörten die andern das mit an, und die Gräfin sprach: »So wollen wir Sie nicht länger zurückhalten, denn ich möchte nicht, daß unsere Dankbarkeit Ihnen lästig wird. Hoffentlich haben wir ein andermal das Vergnügen...« Der Graf verbeugte sich stumm und sah dabei noch bleicher aus als sonst.

Als er jedoch unten im Wagen saß, schaute er sich noch einmal um und bemerkte, daß ein Vorhang am Fenster des Salons, in dem die Gräfin weilte, sich heimlich bewegte. Es dauerte keine sechs Minuten, als der Wagen im großen Bogen vor die Freitreppe des prächtigen Gebäudes fuhr, das Monte Christo in Paris als Stadtresidenz dienen sollte. Zwei Männer eilten dienstfertig an den Schlag: der eine war Ali, der seinem Herrn treuherzig zulächelte und sich durch einen Blick von Monte Christo beglückt fühlte, der andere war Bertuccio, der Finanzmeister.

Leichtfüßig sprang der Graf aus dem Wagen.

»Ist der Notar gekommen?«

»Er wartet im kleinen Salon, Exzellenz«, erwiderte Bertuccio.

»Und die Visitenkarten, die Ihr stechen lassen solltet, sobald Euch die Nummer meines Hauses ...«

»Sind besorgt, gnädiger Herr. Ich war beim ersten Kupferstecher von Paris. Die erste Karte, die abgezogen wurde, habe ich sofort auf Euer Gnaden Wunsch an den Baron Danglars, Chaussee d'Antin Nummer sieben, geschickt.«

Monte Christo gab Hut, Handschuhe und Stock seinem französischen Diener und ging in den kleinen Salon zu dem Notar.

»Sind Sie, mein Herr, der Notar, der bevollmächtigt ist, mir das Landhaus zu verkaufen?« fragte Monte Christo.

»Zu dienen, Exzellenz«, entgegnete der Notar.

»Ist der Kaufvertrag aufgesetzt?«

»Hier ist er.«

»Gut. Und wo liegt das Haus, das ich kaufe?« fragte Monte Christo nachlässig, halb zu Bertuccio, halb zum Notar gewendet.

Der Notar sah Monte Christo verwundert an, dann sagte er: »Das Haus ist in Auteuil gelegen.«

Bei diesen Worten wurde Bertuccio sichtlich blaß.

Der Graf unterzeichnete den Kontrakt, nachdem er einen flüchtigen Blick auf die Stelle geworfen hatte, wo die Lage des Hauses und die Namen der Eigentümer angegeben waren.

»Bertuccio,« sprach er, »geben Sie diesem Herrn fünfundfünfzigtausend Franken.«

Der Intendant ging mit wankenden Schritten hinaus und kehrte mit einem Bündel Banknoten zurück, die der Notar zählte wie ein Mann, der gewohnt ist, mit Geld umzugehen.

»Kann ich die Schlüssel haben?«

»Sie befinden sich in den Händen des Portiers, der das Haus behütet; doch es ist ihm Befehl gegeben, den Herrn Grafen in sein neues Besitztum einzuführen.«

»Recht so«, sagte der Graf und entließ mit einem Kopfnicken den Notar, der sich unter tiefen Verbeugungen entfernte.

»Und nun, Bertuccio: auf, nach Auteuil!«

»Nach Auteuil?« rief Bertuccio, dessen kupferige Gesichtsfarbe fast leichenfahl wurde.

»Was ist denn Staunenswertes dabei, daß Sie nach Auteuil gehen sollen? Wenn es mein Haus ist, werden Sie wohl oft dahin gehen müssen.«

Bertuccio senkte den Kopf vor dem gebieterischen Blick seines Herrn und blieb regungslos und stumm.

»Nun,« sagte der Graf, »ist der Wagen vorgefahren?«

Bertuccio sprang mit einem Satze aus dem kleinen Salon in das Nebengemach und rief mit heiserer Stimme:

»Die Pferde Seiner Exzellenz?«

Monte Christo schrieb zwei oder drei Briefe; als er den letzten siegelte, trat der Haushofmeister wieder ein und sprach:

»Der Wagen Seiner Exzellenz wartet.«

»So folgen Sie mir und geben dem Kutscher Bescheid.«

Bertuccio gehorchte ohne Widerspruch; ehe er den Wagen bestieg, rief er dem Kutscher zu:

»Auteuil? Rue Fontaine Nummer dreißig!«

Es war während der Fahrt bereits dunkel geworden. Das Haus befand sich am äußersten Ende des Dorfes. Der Wagen hielt, und der Graf schickte Bertuccio voran, um ihn anzumelden.

Bertuciio klopfte an die Tür, und der Portier fragte: »Was gibt's?«

»Ihr neuer Gebieter ist hier, guter Mann.«

»Das Haus ist also verkauft?« sagte der Portier. »Und der Herr wird darin wohnen?«

»Ja, mein Freund,« sprach der Graf, »und ich werde danach trachten, daß Ihr um den vorigen Herrn kein Leid tragt.«

»Oh, mein Herr,« versetzte der Portier, »wir sahen ihn nur höchst selten; er ist schon über fünf Jahre nicht hierhergekommen.«

»Und wie heißt doch Euer früherer Herr?« fragte Monte Christo.

»Marquis von Saint-Méran. Er ist ein alter Edelmann und getreuer Diener der Bourbonen; er hatte eine einzige Tochter, die er an Herrn von Villefort verheiratete, den königlichen Prokurator in Nimes und dann in Versailles.« Monte Christo warf einen Blick auf Bertuccio, der bleicher als die Wand war, an die er sich lehnte.

»Nun wollen wir uns das Haus einmal ansehen. Können wir ein Licht bekommen, guter Mann?«

»Ach, Herr,« sagte der Portier, nachdem er vergeblich am Gesimse des Kamins und in dessen Nähe gesucht hatte, »hier sind keine Kerzen mehr.«

»Nehmen Sie eine Wagenlaterne, Bertuccio,« sagte der Graf, »und führen Sie mich durch die Zimmer.«

Der Hausmeister gehorchte; doch ließ das Zittern seiner Hand deutlich erkennen, was ihn der Gehorsam kostete.

Man durchschritt ein ziemlich großes Erdgeschoß, dann einen ersten Stock, der aus einem Salon, einem Badesaal und zwei Schlafzimmern bestand. Durch eines dieser Schlafzimmer gelangte man zu einer Wendeltreppe.

»Ah, sieh da! Ein Geheimgang!« rief der Graf. »Wir wollen sehen, wohin er führt.«

»In den Garten, Herr«, erwiderte Bertuccio tonlos.

»Woher wissen Sie das?«

»O Herr, Herr! Nun ist's genug! Ich kann nicht weiter!« stammelte Bertuccio in Todesangst.

»Was heißt das alles?« forschte der Graf.

»Herr, Herr!« schrie Bertuccio außer sich. »Des Schicksals Hand packt mich erbarmungslos. Warum mußtet Ihr gerade dieses Mörderhaus kaufen? Warum wollt Ihr gerade diese Treppe hinabgehen, die er hinabgegangen? Da, da! Gerade auf der Stufe, wo Ihr steht, da -- hab' ich ihm -- den tödlichen Streich versetzt.«

Keuchend preßte er beide Hände auf die Brust. »Und wenn Ihr nun weitergeht hier im Garten bis zwei Schritte vor dieser Platane,« fuhr er in höchster Erregung fort, »da ist's, Herr, wo er das Kind vergraben hat!«

Der Graf packte Bertuccio bei der Schulter und schüttelte ihn: »Mann, seid Ihr von Sinnen? Von wem sprecht Ihr da immerfort?«

»Von Herrn de Villefort, dem ehemaligen Königlichen Prokurator.«

»So so -- von ihm«, sagte Monte Christo. »Ja -- des Schicksals Wege sind gar wunderbar, habt also Achtung vor dieser Macht, und wenn Ihr auf meinen Schutz rechnen wollt, so legt ein ehrliches Bekenntnis ab.«

»Ja, Herr -- das will ich tun«, sagte Bertuccio still und ergeben. »Die Sache geht zurück, Exzellenz, bis in das Jahr 1813«, begann Bertuccio mit leiser Stimme, wahrend er in bescheidener Haltung dem Grafen gegenüberstand, der sich auf eine Bank im Garten niedergelassen hatte. Und Bertuccio erzählte:

»Ich hatte einen älteren Bruder, der im Dienste des Kaisers stand. Er wurde Leutnant in einem ganz aus Korsen bestehenden Regiment. Dieser Bruder war mein einziger Freund; wir sind Waisen geworden, ich mit fünf und er mit achtzehn Jahren; er hat mich erzogen, als ob ich sein Sohn gewesen wäre. Im Jahre 1814, unter den Bourbonen, verheiratete er sich; der Kaiser kehrte von Elba zurück, mein Bruder nahm sogleich wieder Dienste und zog sich mit der Armee hinter die Loire, nachdem er bei Waterloo leicht verwundet worden war. Eines Tages erhielten wir einen Brief; jener Brief war von meinem Bruder. Er meldete uns, die Armee sei entlassen und er käme über Nimes zurück. Ferner ersuchte er mich, wenn ich etwas Geld besäße, es ihm durch einen Wirt in Nimes zukommen zu lassen, mit dem ich in Verbindung stand.«

»In Konterbande«, bemerkte Monte Christo.

»Mein Gott, Herr, man muß doch leben!«

»Allerdings; fahren Sie nur fort.«

»Wie ich sagte, hing ich sehr an meinem Bruder und beschloß daher, ihm das Geld selbst zu überbringen. Es war gerade in den Tagen, wo man im Süden eine wahre Freude daran hatte, alles niederzumetzeln, was man für Bonapartisten hielt. Als ich in Nimes ankam, watete man buchstäblich im Blute. Ich eilte zu unserm Gastwirt; mein Bruder war am Vorabend in Nimes angekommen und vor dem Haus, in dem er Gastfreundschaft zu finden hoffte, meuchlerisch ermordet worden. Ich versuchte alles, um die Mörder ausfindig zu machen, allein sie waren so gefürchtet, daß mir niemand ihre Namen zu nennen wagte. Ich dachte an die französische Justiz und begab mich zum französischen Prokurator.«

»Zu Herrn von Villefort?« fragte Monte Christo.

»Ja, Exzellenz. Doch der drehte die Sache hin und her, daß ich bald merkte, welcher Gesinnung er war. Ich bat ihn flehentlich, sich meiner Angelegenheit anzunehmen und den Tod meines Bruders zu rächen.

›Warum sollte ich das?‹ sagte er. ›Ihr Bruder hat vermutlich Streit angefangen und sich geschlagen. All diese alten Soldaten treiben Exzesse, die ihnen unter der kaiserlichen Regierung hingingen, die aber jetzt übel für sie auslaufen; unsere Leute hier im Süden haben weder Soldaten noch Exzesse gern.‹

›Wie, Herr! Ist's möglich, daß Sie, ein Staatsbeamter, so zu mir sprechen?‹ rief ich.

›Unverschämter?‹ schrie er mich darauf an. ›Ihr Korsen seid ja alle Narren!‹

Kaum hatte er das gesagt, so war ich auch schon neben ihm und raunte ihm zu: ›Gut! Wenn Sie so genau wissen, daß wir Narren sind, sollen Sie auch noch erfahren, wie diese Narren Wort zu halten pflegen. Blutrache schwöre ich Ihnen von diesem Augenblick an. Weh' Ihnen, wenn wir uns wiedersehen!‹

Ehe er sich von seinem Schrecken erholt hatte, war ich längst entflohen.

Ihn aber plagte die Furcht; er blieb nicht länger in Nimes. Er bat um seine Versetzung und kam nach Versailles. Doch für einen Korsen, der Blutrache geschworen, gibt's kein Hemmnis. Drei Monde hindurch lauerte ich auf Herrn von Villefort; drei Monde hindurch tat er keinen Schritt, machte keinen Spaziergang, ohne daß ihm mein Blick nicht gefolgt wäre. Endlich entdeckte ich, daß er öfters insgeheim nach Auteuil ging, ich schlich ihm abermals nach und sah ihn in dies Haus treten. Mochte er zu Wagen oder zu Pferde kommen, er ging nicht vorn durch das Tor, sondern schlich durch jene kleine Tür, die Sie dort sehen. Das Haus gehörte, wie Exzellenz wissen, dem Herrn von Saint-Méran, dem Schwiegervater des Herrn von Villefort. Herr von Saint- Méran wohnte in Marseilles, und man sagte, er habe es an eine junge Witwe vermietet, die man unter dem Namen »die Baronin« kannte.

Als ich eines Abends über die Mauer blickte, sah ich auch eine junge, schöne Frau, die allein in diesem Garten lustwandelte, nach dem kein Fenster zeigte; sie schaute oftmals nach der kleinen Tür hin, und ich begriff, daß sie diesen Abend Herrn von Villefort erwartete. Als sie mir etwas näher kam, sah ich, daß sie schön, blond, groß und achtzehn bis neunzehn Jahre alt war. Da sie ein einfaches Nachtkleid trug, bemerkte ich auch, daß sie hoch schwanger war.

Wenige Augenblicke später trat ein Mann durch jene kleine Pforte, und die junge Frau eilte ihm so schnell als möglich entgegen; sie fielen einander in die Arme, liebkosten sich und traten mitsammen in das Haus.

Dieser Mann war Herr von Villefort. Ich dachte, wenn er zurückkäme, zumal nachts, so müßte er allein durch den Garten kommen.

An diesem Abend wartete ich vergebens. Einige Tage danach sah ich ihn eilends durch die Pforte verschwinden. Mit kühnem Entschluß sprang ich über die Gartenmauer.

Meine erste Sorge war es, nach der Tür zu sehen; er hatte inwendig den Schlüssel stecken lassen, ihn aber aus Vorsicht zweimal umgedreht. Es stand also meiner Flucht nichts im Wege. Ich versteckte mich hinter dichtem Laubwerk. Wollte Herr von Villefort sich nach der kleinen Tür begeben, so mußte er an dieser Baumgruppe vorüberkommen.

Endlich kam ein Mann jene Treppe herab. Er trug ein zwei Fuß langes Kästchen unter dem Mantel und hatte einen Spaten in der Hand.

Er kam direkt auf die Baumgruppe zu, sah sich einen Moment scheu um und begann dann zu graben. Der Mond kam plötzlich hinter den Wolken hervor, und ich sah, daß es Herr von Villefort war. Es schlug zwölf Uhr. Er legte den Kasten in die Grube, schaufelte die Erde wieder darauf und begann dann, mit den Füßen den Boden gleichzutreten, um jede Spur zu vertuschen.

Ich hatte ihm neugierig zugesehen; da er sich nun wieder über jene Treppe ins Haus begeben wollte, stürzte ich auf ihn zu mit den Worten:

»Hier Giovanni Bertuccio! Blutrache heischt deinen Tod für den meines Bruders und deinen Schatz für seine Witwe!«

Ich weiß nicht, ob er diese Worte hörte; ich glaube kaum, denn er fiel zu Boden, ohne einen Laut auszustoßen, ich fühlte den Strahl seines Blutes heiß in mein Gesicht spritzen, allein ich war trunken, ich war wahnsinnig; dieses Blut erfrischte mich, statt daß es mich verbrannte. In einer Sekunde hatte ich darauf noch mittels des Spatens jenes Kistchen wieder ausgegraben, und damit man nicht wahrnehme, daß ich es weggenommen, füllte ich das Loch wieder aus, warf den Spaten über die Mauer, schlüpfte durch die Tür, schloß sie doppelt von außen ab und steckte den Schlüssel zu mir.

Ich kam bis zum Fluß, und da ich neugierig war, was in dem Kistchen sei, habe ich das Schloß mit einem Messer aufgesprengt.

In Windeln von feinstem Battist lag ein neugeborenes Kind; sein purpurrotes Gesicht und die blauen Händchen deuteten an, daß man es erdrosselt hatte. Da aber noch Leben in dem kleinen Körper zu sein schien, nahm ich zuerst die Schnur ab, die um seinen Hals geschlungen war und tat alles, was in solchem Fall ein Arzt tun konnte, das heißt, ich blies ihm Luft in die Lungen, und nach einer Viertelstunde unerhörter Anstrengung sah ich es Atem holen und hörte seinen ersten Schrei.«

»Und was haben Sie mit dem Kinde gemacht?« fragte Monte Christo.

»Ich brachte es zunächst in ein Findelhaus. Da meine Schwägerin aber dies Erlebnis für eine Fügung Gottes ansah, ging sie am nächsten Tag und holte sich das Kind. Nun hatte ich für zwei zu sorgen: für meine arme Schwägerin und den Findling. Um reichlich zu verdienen, gab ich mich ganz dem Schmugglergeschäft hin. Wer das mit Umsicht und Energie betreibt, kann viel erreichen. Assunta war eine gute Hausfrau, und so konnten wir beide ohne Nahrungssorgen das Kind erziehen.

All unsere hingebende Liebe wurde aber bös vergolten. So hübsch der Junge war mit seiner zarten Hautfarbe, seinen blonden Haaren und blauen Augen, so war er doch eine bis in den Grund hinein verdorbene Kreatur. Etwas Nichtswürdigeres als die Schlauheit seines Blicks und die Bosheit seines Lächelns kann man sich gar nicht denken.

Anfangs wollten wir es gar nicht glauben, besonders meine Schwägerin liebte Benedetto, als wäre er ihr eigen Kind. Kaum war er elf Jahre alt geworden, als alle Strolche und Banditen schlimmster Sorte, die seine Wege kreuzten, mit ihm verbündet waren. Schon hatte die Justiz uns eine Warnung zukommen lassen.

Meine Schwägerin weinte, doch nahm sie des Jungen Partei. Da sie mir aber gestand, daß der Junge ihr bereits größere Summen entwendet hatte, gab ich ihr den Rat, unseren kleinen Schatz an einem sicheren Orte zu vergraben. Ich selbst war nur wenig zu Hause, und wieder mußte ich meinem Geschäft nachgehen. Diesmal sollten alle unsere Operationen im Golf von Lyon ausgeführt werden, doch wurde das immer schwieriger, denn wir waren im Jahre 1829. Die Ruhe war wiederhergestellt, der Küstendienst regelmäßiger und strenger als je.

Anfangs ging alles gut; als wir aber nachts dabei waren, die verbotene Ware auszupacken, sahen wir einige Gendarmen auf uns zukommen. Durch eine verborgene Falltür im Boote gelangte ich ungesehen in den Fluß und schwamm eine Strecke unter Wasser fort bis zu einem Graben, von wo aus ich ziemlich sicher bis zu einem Gasthaus in Nimes gelangen konnte, das ein Verbündeter von uns besaß.«

»Wie nannte sich dieser Mann?« fragte der Graf.

»Gaspard Caderousse. Er war mit einer Frau aus dem Dorfe Carronte verheiratet, die am Sumpffieber litt und elend hinsiechte. Der Mann war ein rüstiger Kerl von vierzig bis fünfundvierzig Jahren, der uns in schwierigen Umständen öfter Proben von seiner Gewandtheit gab. Ich hatte also die Absicht, bei Caderousse Zuflucht zu suchen; da wir jedoch nie durch die Tür eintraten, die nach der Straße führt, so kletterte ich über den Gartenzaun, arbeitete mich kriechend durch ein Dickicht von Oliven- und Feigenbäumen und erreichte eine Art von Schuppen, worin ich schon manche Nacht ebenso gut zugebracht hatte wie im besten Bett. Dieser Schuppen war von der Schenkstube im Erdgeschoß nur durch eine Bretterwand geschieden, die zu unserer Sicherheit mit winzigen Gucklöchern versehen war. Während ich nun auf der Lauer liege, Caderousse meine Anwesenheit kundzutun, sehe ich ihn mit einem Fremden die Gaststube betreten.

»He, Weib!« schrie er. »Der Stein ist echt. Der Herr Juwelier will uns fünfzigtausend Franken dafür geben; doch sollst du ihm noch einmal erzählen, wie wir zu dem Diamanten gekommen.«

›Oh, Herr,‹ sagte die Frau, ›das kam so unerwartet, wie der Segen des Himmels immer kommt.‹ Und dann begann sie zu erzählen, wie ein armer, sterbender Gefangener den Abbé Busoni beauftragt habe, diesen Stein seinem Freunde Caderousse zu überbringen.

›So --‹, murmelte der Juwelier, ›nun, es ist ja möglich, daß die Sache sich so verhält. Doch mehr als fünfundvierzigtausend Franken kann ich dafür nicht zahlen.‹

›Der Abbé sagte, der Stein sei fünfzigtausend Franken wert.‹

›Mag sein, doch ihn unterzubringen, würde Ihnen Schwierigkeiten bereiten‹, sagte lächelnd der Juwelier.

Caderousse wechselte mit seiner Frau einen Blick. ›Nun gut‹, sagte er darauf. ›Ich überlasse Ihnen den Diamanten für fünfundvierzigtausend Franken; doch will meine Frau noch eine goldene Kette haben und ich ein Paar silberne Schnallen.‹

Der Juwelier zog aus seiner Tasche ein langes, plattes Kästchen, das mehrere Muster der verlangten Gegenstände enthielt.

›Hier‹, sagte er, ›Sie sollen sich nicht beklagen.‹

›Und wo sind die fünfundvierzigtausend Franken?‹ fragte das Weib mit heiserer Stimme.

›Hier sind sie!‹ entgegnete der Juwelier und zählte das Geld auf den Tisch. Dann nahm er das Etui mit dem Stein und ließ ihn im Lampenlicht funkeln. Draußen war inzwischen ein Unwetter ausgebrochen, und die Frau bot dem Juwelier an, bei ihnen zu übernachten. Schweigend nahmen die drei darauf miteinander das Abendessen ein; sie waren zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt. Doch wenn die Habgier sich derselben bemächtigt, dann sind sie niemals gut.

O Herr, lassen Sie's mich kurz erzählen: ich wurde mitten in der Nacht durch einen Pistolenschuß aus dem Schlaf getrieben. Ein gräßlicher Schrei folgte nach. Die Treppe knarrte, ein Mann stürzte in die Schenkstube und zündete ein Licht an. Dieser Mann war Caderousse. Sein Gesicht war verzerrt und sein Hemd blutig. Er lief zum Schrank, holte das Geld hervor, stopfte sich die Taschen voll. Das Etui hielt er fest in der Hand.

Ich kroch aus meinem Versteck hervor; als ich jedoch das Zimmer betrat, war Caderousse auf und davon.

Nun eilte ich die Treppe hinauf. Ein Leichnam versperrte mir den Weg. Es war die Frau. Der Pistolenschuß, den ich gehört, hatte ihr gegolten. Ich stieg über sie hinweg, um nach dem Juwelier zu sehen. Der schwamm, im Bett liegend, in seinem Blut, von vier Messerstichen durchbohrt.

Jetzt wurden Stimmen unten laut: Gendarmen und Zollbeamte eilten herbei. Man hielt mich für den Mörder, nahm mich fest und schleppte mich vor die Richter. Bald wär's mir schlecht ergangen, Herr, hätte sich nicht der Abbé Busoni eingefunden, der meine Aussagen betreffs des Diamanten bestätigen konnte. Nicht lange danach wurde auch Caderousse ergriffen. Er gestand alles, wurde zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verurteilt, ich aber in Freiheit gesetzt.«

»Damals war's, als der Abbé Busoni Euch mit einem Empfehlungsschreiben zu mir sandte?« fragte der Graf.

»Ja, Herr, und ich frage Eure Exzellenz voller Stolz, ob Sie sich jemals über mich zu beklagen hatten?«

»Nein, Bertuccio; Ihr waret ein getreuer Untergebener. Doch warum habt Ihr mir nie erzählt, daß Ihr eine Schwägerin und einen Pflegesohn hattet?«

»Ach, Herr, erfahrt auch das letzte. Meine Schwägerin hatte meinen Rat nicht befolgt; der mißratene Junge vermutete das Geld im Hause und fiel mit zwei seiner Kumpanen über die Pflegemutter her. Da die Ärmste ihr Geheimnis nicht verraten wollte, haben die Unholde sie gebunden an das Herdfeuer gelegt. Man fand sie am nächsten Tage tot -- ganz verkohlt. Die Schränke waren erbrochen, unser kleines Vermögen fort.

Gott gebe, daß ich nie wieder in meinem Leben diesem Muttermörder begegnen möge!

Begreift Ihr nun, Herr, weshalb mir vor diesem Hause graut?«

»Ich begreife das wohl, Bertuccio. Seit Ihr mir nun aber alles gesagt habt, wird Euch leichter zumute sein, besonders, da Ihr wißt, daß Ihr unter meinem Schutze steht.« Bertuccio verneigte sich tief.

Darauf kehrten sie nach Paris zurück, ohne noch weiter mit einem Wort all diese Dinge zu berühren. An seiner Stadtresidenz wieder angelangt, durchwanderte Monte Christo noch, obgleich es schon sehr spät war, die ganze Wohnung. Er tat dies mit einer Sicherheit, als wäre er längst zu Hause darin. Ali begleitete ihn auf diesem nächtlichen Rundgang und nahm einige Befehle in Empfang, die vorzunehmende Änderungen in der Einrichtung betrafen. Nun zog der Graf seine Uhr und sagte:

»Es ist halb zwölf; Haydee wird alsbald ankommen, sind die französischen Kammerfrauen schon da?«

Ali streckte seine Hand nach der für die schöne Griechin bestimmten Wohnung aus, die durch eine Tapetentür so verborgen war, daß man das ganze Haus besichtigen konnte, ohne zu vermuten, daß es hier noch einen Salon und zwei Wohnzimmer gäbe: Ali streckte also seine Hand aus, deutete die Zahl drei mit den Fingern an, legte dann auf diese seinen Kopf und schloß die Augen, als ob er schliefe.

»Ah,« sagte Monte Christo, der an diese Sprache gewöhnt war, »nicht wahr, es sind ihrer drei, die im Schlafzimmer warten?«

Ali bejahte, indem er mit dem Kopf nickte.

»Die Herrin wird diesen Abend sehr müde sein und gern schlafen wollen,« sagte Monte Christo; »die französischen Frauen sollen daher ihre neue Gebieterin begrüßen und sich gleich zurückziehen. Du wachst darüber, daß die griechische Kammerfrau mit den französischen nicht in Berührung kommt.«

Ali verneigte sich.

Bald darauf hörte man den Portier rufen, das Gitter ging auf, ein Wagen rollte in die Allee und hielt vor der Freitreppe. Der Graf ging hinab und begrüßte eine junge Frau, die in einen grünseidenen, goldgestickten Mantel gehüllt war. Die junge Frau ergriff die dargebotene Hand des Grafen und küßte sie mit Liebe und Ehrfurcht. Es wurden nun einige Worte gewechselt in der sang- und klangreichen Sprache des alten Vater Homer. Hierauf geleitete man die schöne Griechin, die man schon in Rom an der Seite des Grafen gesehen, in ihre Wohnung, und der Graf zog sich in seine Gemächer zurück.

Um halb ein Uhr waren alle Lichter im Hause gelöscht, daß man glauben konnte, alles schliefe.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo