Als Villefort wieder zu seinen Schwiegereltern zurückkehrte, fand er die Gäste, die er bei Tisch verlassen hatte,

Als Villefort wieder zu seinen Schwiegereltern zurückkehrte, fand er die Gäste, die er bei Tisch verlassen hatte, im Salon, den Kaffee nehmend. Renée erwartete ihn mit einer Ungeduld, die sich der ganzen Gesellschaft mitteilte. Man empfing ihn nun mit einem Jubelruf.

»Gnädigste Marquise,« sprach Villefort, sich seiner künftigen Schwiegermutter nähernd, »ich bitte um Entschuldigung, wenn ich genötigt bin, Sie zu verlassen. -- Herr Marquis, könnte ich die Ehre haben, mit Ihnen ein paar Worte allein zu sprechen?«


»Hm. die Sache ist also wirklich von Bedeutung?« fragte die Marquise, indem sie die Wolke wahrnahm, die Villeforts Stirn verdunkelte.

»Ja, so bedeutsam, daß ich mich auf einige Tage von Ihnen beurlauben muß.«

»Sie ersuchten mich auf einen Augenblick um eine Unterredung?« fagte der Marquis.

»Ja, gehen wir in Ihr Kabinett, wenn es Ihnen gefällig ist.« Der Marquis faßte Villefort am Arm und ging mit ihm fort.

Als sie allein waren, bat Villefort seinen Schwiegervater, ihm ein Schreiben mit auf den Weg zu geben, das ihm bei Hofe Tür und Tor öffne; er habe Sr. Majestät eine äußerst wichtige Mitteilung zu überbringen. Der greise Marquis erfüllte seinen Wunsch und übergab ihm bald einen Brief von Herrn de Salvieur an den Grafen von Blacas.

Villefort nahm darauf Abschied von seiner reizenden Braut und fuhr mit der Post auf der Straße von Aix davon.

Wenige Tage spater hatte er -- durch Vermittlung des Grafen Blacas -- die Ehre, Ludwig XVIII. gegenüberzustehen und seinen Bericht zu erstatten.

Er stieß zunächst nur einige Worte hervor: »Sire, der Usurpator Bonaparte hat drei Schiffe ausgerüstet und sinnt auf neue Schrecken, die den Thron Ew. Majestät bedrohen!«

Der König bewahrte seine Fassung, doch die Minister erblaßten, und das Gesicht des Polizeiministers zeigte die höchste Bestürzung. »Das kann nur ein Irrtum sein«, meinte er. Doch Villefort bewies durch das, was er wußte, wie ernst die Sache sei. Napoleon habe bereits Elba verlassen und werde demnächst in Neapel, an den Küsten Toskanas oder in Frankreich selbst zu landen versuchen.

Kaum hatte er das gesagt, als ein Sonderbericht an den Kriegsminister eintraf: Bonaparte sei am 1. März bereits in Frankreich gelandet.

Unheimliches Schweigen herrschte im Raum, dann erhob der König seine Stimme:

»Wohlan! So heißt's mit dem Kriegsminister verhandeln.« Doch als die anderen Minister sich zurückziehen wollten, rief er ihnen zu: »Halt, meine Herren? Was haben Sie Neues über die Affäre in der Rue St. Jaques erfahren? Es besteht kein Zweifel, daß der Tod des Generals Epinan mit dem großen Komplott zusammenhängt.«

»Sire,« begann der Polizeiminister, »Ew. Majestät durchschauen die Sache vollkommen; alles weist darauf hin, daß es sich nicht um einen Selbstmord handelt, sondern daß der General ermordet wurde. Ein unbekannter Mann hat ihn frühmorgens aufgesucht und ihn zu einer Besprechung in der Rue St. Jaques geladen.«

Villefort wurde bei diesen Worten bald blaß, bald rot.

»Was war das für ein Mann?« fragte der König weiter.

»Ein dunkelhaariger Fünfziger mit auffallend starken Brauen und Bart. Er trug einen blauen, zugeknöpften Überrock und im Knopfloch die Rosette eines Offiziers der Ehrenlegion.«

»Schafft mir diesen Mann, diesen Meuchelmörder, der uns im Augenblick des besten Generals beraubt hat. Ob er Bonapartist ist oder nicht, ich will, daß er mit aller Strenge bestraft wird«, rief der König voller Zorn.

Villefort stützte sich auf einen Stuhl, denn er fühlte den Boden unter den Füßen wanken.

»Sie fühlen sich von der Reise angegriffen, lieber Baron«, wandte sich der König an Villefort. »Eilen Sie, zu Ihrem Vater zu kommen.«

Ew. Majestät irren; ich habe nicht die Absicht, meinen Vater aufzusuchen, und wohne im Hotel de Madrid.«

»Ah, ich vergaß«, lächelte der König wohlwollend. »Politische Meinungsverschiedenheiten ... so, so. Nun, was Sie heute für Ihren König getan, ist ein Beweis für Ihre Ergebenheit.«

»Die Güte Ew. Majestät ist mir höchster Lohn.«

»Empfangen Sie zunächst dies Kreuz.« Damit nahm der König das Kreuz der Ehrenlegion, das er selbst neben dem Kreuz des heiligen Ludwig auf seinem Rocke trug, ab und reichte es Villefort. »Und sollte ich jemals Ihrer vergessen -- das Gedächtnis der Könige ist kurz --, so scheuen Sie sich nicht, sich wieder in Erinnerung zu bringen.«

Villefort kehrte wie im Taumel nach seinem Hotel zurück. Er war gerade dabei, sich ein Frühstück servieren zu lassen, als er nebenan eine bekannte Stimme zu seinem Diener sagen hörte: »Ist das in Marseille etwa Sitte, daß Söhne ihre Väter im Vorzimmer warten lassen?«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo