Als Franz wieder zu sich kam, dünkten ihn die äußeren Gegenstände wie ein zweiter Teil seines Traumes;

Als Franz wieder zu sich kam, dünkten ihn die äußeren Gegenstände wie ein zweiter Teil seines Traumes; er glaubte sich in einem Grabe, in das mühevoll ein Sonnenstrahl wie ein Blick des Mitleids hineindrang; er streckte die Hand aus und fühlte Stein; er richtete sich sitzend auf und sah, daß er in seinem Burnus auf einem Bett von dürrem, sehr weichem und wohlriechendem Heidekraut lag. Die Erscheinungen waren verschwunden. Er tat einige Schritte ostwärts, wo der Tag anbrach; auf die Erregung des Traumes folgte die Ruhe der Wirklichkeit. Er sah sich in einer Grotte, ging nach der Öffnung zu und erblickte durch die Bogentür den blauen Himmel und das azurne Meer. Luft und Wasser glänzten in den Strahlen der aufgehenden Sonne. Am Ufer saßen die Matrosen, wo sie schwatzten und lachten; zehn Schritt davon auf dem Meere schaukelte die Barke, die vor Anker lag.

Hierauf ließ er sich eine Zeitlang von dem erquickenden Westwinde die Stirn fächeln, er horchte auf das schwache Plätschern der Welle, die sich am Ufer brach, indem sie an den Felsen Spitzen von silberweißem Schaum zurückließ; er gab sich ohne Nachdenken und Überlegung jenem göttlichen Zauber hin, der in den Dingen der Natur liegt, zumal, wenn man aus einem phantastischen Traume erwacht; hierauf rief jenes äußere Leben, das so ruhig, so rein und großartig war, das Unwahrscheinliche seines Traumes in ihm zurück, und die Erinnerungen fingen an, in seinem Gedächtnisse aufzutauchen, übrigens war sein Kopf vollkommen frei, sein Körper vollkommen ausgeruht; sein Gehirn war nicht verdüstert, im Gegenteil fühlte er durchaus ein gewisses Wohlbehagen, eine Fähigkeit, Luft und Licht mehr als je in sich zu schlürfen. Er näherte sich also wohlgemut seinen Matrosen. Als sie ihn sahen, standen sie auf, und der Patron trat zu ihm.


»Herr Sindbad«, sprach er zu ihm, »hat uns alle seine besten Komplimente für Eure Exzellenz aufgetragen und uns gesagt, wie er bedaure, daß er von Ihnen nicht Abschied nehmen konnte; allein er hofft, Sie werden ihn entschuldigen, da ihn ein sehr wichtiges Geschäft nach Malaga beruft.«

»So ist denn alles Wahrheit gewesen? Existiert wirklich ein Mann, der mich auf dieser Insel empfangen, der mich königlich bewirtet hat und fortgereist ist, während ich noch schlief?«

»Er existiert dermaßen, daß Sie dort seine kleine Jacht mit vollen Segeln fortfahren sehen, und wenn Sie Ihre Lorgnette nehmen, so werden Sie Ihren Wirt wahrscheinlich mitten unter seiner Mannschaft erkennen.«

Während Gaetano dieses sprach, streckte er seine Hand in der Richtung eines kleinen Fahrzeuges aus, das gegen die Südspitze von Korsika lossteuerte. Franz zog seine Lorgnette hervor und wandte sich nach der angedeuteten Richtung. Gaetano hatte sich nicht geirrt. Auf dem Hinterteil des Schiffes stand der geheimnisvolle Fremde, ebenfalls wie er, ein Fernglas in der Hand. Er trug dieselbe Kleidung wie tags zuvor beim Empfange seines Gastes und wehte mit einem Schnupftuche zum Zeichen des Abschieds. Franz erwiderte seinen Gruß, indem er gleichfalls sein Taschentuch in der Luft flattern ließ.

»Was befehlen Eure Exzellenz nun?« fragte Gaetano.

»Fürs erste, daß Ihr mir eine Fackel anzündet.«

»O ja, ich verstehe, um den Eingang in die Zauberwohnung zu suchen. Viel Vergnügen, Exzellenz! Gern will ich Ihnen die verlangte Fackel geben. Auch ich machte schon mehrmals den Versuch, habe aber jedesmal wieder abgelassen.«

»Giovanni,« rief er, »zünde eine Fackel an und bringe sie Seiner Exzellenz.«

Giovanni gehorchte. Franz nahm die Fackel und trat in den unterirdischen Raum, wohin Gaetano ihm folgte.

Er erkannte die Stelle wieder, auf der er erwachte, an dem Lager von Heidekraut, das ganz zerdrückt war; er konnte aber seine Fackel noch so gut an der äußeren Oberfläche der Grotte hin und her wenden, er sah nichts, außer Spuren von Rauch, da bereits andere vor ihm vergeblich dieselbe Nachforschung gemacht hatten. Indes ließ er nicht einen Fußbreit ununtersucht an dieser Granitmauer, die undurchdringlich war wie die Zukunft. Er bemerkte keine Spalte, in die er nicht die Klinge seines Weidmessers gestoßen hätte. Er gewahrte keinen hervorspringenden Punkt, an dem er nicht in der Hoffnung rüttelte, daß er weichen würde; aber alles war fruchtlos, er verlor ohne jeden Erfolg zwei Stunden mit diesen Nachforschungen. Da hörte er auf zu suchen. Gaetano triumphierte.

Als Franz zum Seegestade zurückkehrte, zeigte sich die Jacht nur noch als ein weißer Punkt am Horizonte; er nahm wieder sein Fernglas zur Hand, aber selbst mit diesem Instrumente vermochte er nichts mehr zu unterscheiden. Gaetano erinnerte ihn, daß er hierher gekommen sei, um Ziegen zu jagen, was er wohl ganz vergessen habe. Er griff nach seiner Flinte und durcheilte die Insel mit der Miene eines Menschen, der viel mehr einer Pflichterfüllung als seinem Vergnügen nachkommt, und erlegte nach Verlauf einer Viertelstunde eine alte und zwei junge Ziegen. Obwohl aber diese Ziegen wild und behende waren wie Gemsen, so hatten sie doch eine zu große Ähnlichkeit mit unsern Hausziegen, und Franz betrachtete sie nicht als ein Wildbret.

Hierauf beschäftigte sich sein Geist mit ganz anderen Gedanken. Er war seit gestern in der Tat ein Träumer aus Tausendundeiner Nacht, und unwiderstehlich zog es ihn nach der Grotte hin. Obschon seine erste Nachforschung nutzlos war, begann er doch noch eine zweite, nachdem er Gaetano den Auftrag erteilt hatte, zwei junge Ziegen zu braten. Diese zweite Nachsuchung dauerte sehr lange, denn als er zurückkehrte, waren die Ziegen gebraten, und das Frühmahl stand bereit.

Franz setzte sich an die Stelle, wo er tags zuvor von dem geheimnisvollen Wirte zum Nachtmahl eingeladen worden war, und sah noch, wie die kleine Jacht gleich einer Möwe, die über eine Welle hinschwebt, die Fahrt in der Richtung gegen Korsika fortsetzte.

»Aber«, sprach er zu Gaetano, »Ihr habt mir ja gesagt, Herr Sindbad segle nach Malaga, indes er, wie mir scheint, seine Richtung nach Porto Dechio nimmt.«

»Erinnern Sie sich nicht mehr,« entgegnete der Patron, »daß ich Ihnen gesagt habe, es befänden sich zwei korsische Banditen unter seiner Schiffsmannschaft?«

»Allerdings,« sprach Franz, »und er wird sie an der Küste aussetzen.«

»Richtig. Oh, das ist ein Mann,« sprach Gaetano, »der weder Gott noch den Teufel fürchtet, wie man sagt, und der einen Umweg von fünfzig Meilen macht, um einem armen Menschen einen Dienst zu erweisen.«

»Aber diese Art Dienstleistung könnte ihm wohl Verdruß von seiten der Behörden dieses Landes bringen, wo er diese Philanthropie ausübt.«

»Das wohl,« sagte Gaetano lachend, »aber was kümmert er sich um Behörden. Man möge ihn nur einmal verfolgen. Fürs erste ist seine Jacht kein Schiff, sondern ein Vogel, er würde einer Fregatte bei zwölf Knoten drei vorgeben, und dann brauchte er sich nur an die Küste zu flüchten, wo er überall Freunde finden würde.«

Bei alledem war es klar, daß Herr Sindbad, der Gastfreund Franzens, die Ehre hatte, mit den Schleichhändlern und Banditen aller Küsten des Mittelmeeres in Verbindung zu stehen, was ihn in eine seltsame Stellung bringen mußte. Franz hielt nun nichts länger auf Monte Christo zurück; er hatte alle Hoffnung aufgegeben, die Geheimnisse der Grotte aufzufinden. Er beeilte sich demnach, zu frühstücken, und befahl seinen Leuten, die Barke in Bereitschaft zu halten. Eine halbe Stunde darauf war er an Bord. Er schickte der Jacht einen letzten Blick nach; sie war eben im Begriff, im Golf von Porto Vechio zu verschwinden. Er gab das Zeichen zur Abfahrt. In dem Moment, wo die Barke sich in Bewegung setzte, verschwand die Jacht; mit ihr erlosch die letzte Wirklichkeit der vergangenen Nacht.

Die Barke steuerte den ganzen Tag und die ganze Nacht, und als sich am folgenden Morgen die Sonne erhob, war auch die Insel Monte Christo aus den Augen entschwunden. Als Franz seinen Fuß auf das Festland gesetzt, vergaß er, wenigstens für den Augenblick, alle die erlebten Vorfälle, um seine Angelegenheiten in Florenz zu erledigen und sich wieder mit seinem Gefährten zu vereinigen, der ihn in Rom erwartete. Er reiste somit ab, und Sonnabendabends war er mit der Mallepost auf dem Douanenplatz angelangt. Die Wohnung war, wie gesagt, schon im voraus gemietet, er brauchte sich also nur nach dem Hotel des Maestro Pastrini zu begeben, was keine leichte Sache war, indem die Menge die Gassen erfüllte, weil in Rom das dumpfe, fieberhafte Leben herrschte, das großen Ereignissen vorangeht. Nun gibt es in Rom jährlich vier großartige Ereignisse: den Karneval, die Karwoche, das Fronleichnamsfest und den heiligen Peterstag. Übrigens verharrt die Stadt das ganze Jahr hindurch in ihrer düstern Melancholie, einem Mittelzustande zwischen Leben und Tod, wodurch sie eine Art Station zwischen dieser und jener Welt wird, eine erhabene Station, ein Halt von Poesie und von Charakter, den Franz schon fünf- bis sechsmal erfahren und jedesmal wunderbarer und sinnvoller gefunden hatte. Endlich durchschritt er das Gedränge, das immer mehr zunahm, immer ungestümer wurde, und erreichte das Hotel. Auf seine erste Frage antworteten ihm die Kutscher und Fiaker mit ihrer eigentümlichen Unverschämtheit: im »Hotel von London« gäbe es keinen Platz mehr. Da schickte er seine Karte zu Maestro Pastrini und ließ Albert von Morcerf rufen. Dieses Mittel gelang: Maestro Pastrini lief selbst herbei und entschuldigte sich, daß er Seine Exzellenz warten ließ, zankte mit seinen Kellnern, nahm den Leuchter aus der Hand des Cicerone, der sich bereits an den Reisenden gehängt hatte, und schickte sich an, ihn zu Albert zu geleiten, als ihm dieser schon entgegeneilte.

Die vorbehaltene Wohnung bestand aus zwei Zimmern und einem Kabinett. Beide Zimmer gingen auf die Gasse, ein Umstand, dem Maestro einen unschätzbaren Wert beizulegen bemüht war. Der übrige Teil des Stockwerkes ward von einem reichen Manne gemietet, der für einen Sizilianer oder Malteser galt; allein der Wirt konnte nicht bestimmt sagen, welcher von beiden Nationen der Reisende angehörte.

»Das ist recht gut, Maestro Pastrini,« sagte Franz, »allein wir bedürfen für diesen Abend unumgänglich ein Nachtmahl und für morgen und die folgenden Tage einen Wagen.«

»Was das Souper betrifft, so sollen Sie alsogleich bedient werden,« sagte der Wirt, »was aber den Wagen anbelangt...«

»Warum den Wagen?« rief Albert. »Keinen Scherz, Maestro, wir müssen ohne weiteres eine Kalesche haben.«

»Mein Herr,« erwiderte der Gastwirt, »man wird tun, was nur möglich ist; mehr kann ich nicht versprechen.«

»Und wann werden wir Antwort bekommen?« fragte Franz.

»Morgen früh«, entgegnete der Gastwirt.

»Zum Teufel!« sagte Albert. »Ich zahle gern mehr als den üblichen Preis.«

»Ich bedauere sehr, wenn die Herren auch das Doppelte böten, würde es nichts helfen.«

»So lasse man Pferde an meine Kutsche spannen -- sie ist von der Reise zwar ein wenig mitgenommen, doch daran liegt nichts.«

»Man wird keine Pferde finden.«

Albert blickte Franz an wie ein Mensch, dem man eine Antwort gibt, die ihm unverständlich ist.

»Begreifen Sie das, Franz, keine Pferde? Aber Postpferde, kann man auch diese nicht bekommen?«

»Sie sind schon seid vierzehn Tagen vermietet, und man hat nur noch diejenigen, die man unumgänglich zum Dienst benötigt.«

»Was sagen Sie dazu?« sagte Franz.

»Ich sage, wenn etwas über meinen Verstand geht, so bleibe ich nicht dabei, sondern gehe auf etwas anderes über. Maestro Pastrini, ist das Souper bereit?«

»Ja, Exzellenz!«

»Gut, so wollen wir fürs erste essen.«

»Aber die Kalesche und die Pferde?« sagte Franz. »Seien Sie ganz ruhig, Freund, sie kommen von selbst, es wird sich nur um den Preis handeln.«

Morcerf setzte sich mit jener bewunderungswürdigen Philosophie eines Menschen, der nichts für unmöglich hält, solange er seine Börse rund und den Reisesack wohlgefüllt weiß, zu Tisch, legte sich zu Bett, schlief fest ein und träumte, daß er in einer Kalesche mit sechs Pferden im Karneval herumkutschiere.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo