Die russische Revolution als tragisches Ereignis

In denselben Tagen des vorigen November, als in Deutschland die Revolution ausbrach, veranstaltete die Regierung der russischen Räterepublik in allen Städten Russlands eine sogenannte Rote Woche mit Festlichkeiten, Paraden und Denkmalsenthüllungen zu Ehren der Novemberrevolution von 1917. In jenen Tagen stand an die lange weiße Kasernenmauer der Moskauer Alexander-Kriegsschule von ungeübter Hand mit roter Farbe eine Menge Namen von „Kämpfern für die Freiheit“ angeschrieben. Ich habe mir das eigentümliche psychologische Zickzack dieser Namen, wie es dastand, aufgezeichnet: Hugo, Zola, Ibsen, Verhaeren, Heine, Nekrassow, Ssaltykow, Michaelowski, Tutschew, Byron, Chopin, Montschalow, Kommissariowski, Schewtschenko, Koltzow, Meunieur, Mussorgski, Rymski-Korssakow, Skryäbin, Beethoven, Marx, Engels, Blanqui, Bebel, Lassalle, Jaures, Plechanow, Spartacus, Tiberius Gracchus, Garibaldi, Pestel, Danton, Robespierre, Chalturin, Rylejew, Sheljäsow, Perowskaja, Kaljajew, Karakow, Bakunin, Herzen, Robert Owen, Rousseau, Raditschew, Nowikow, Skoworoda, Voltaire, Rublew, Iwanowo, Lurikow, Kiprenski, Wrubel, Koslowski, Kasakow, Cezanne.

Die Mauerfläche war, wie gesagt, sehr groß und von weißer Grundfarbe. Sie bot daher dem Manne, der einmal angefangen hatte, aus seinem Gedächtnis diese Menge von Namen hervorzukramen und sie mit triefendem Pinsel hinzumalen, einen beneidenswerten Spielraum. In diesem parnassischen Gewimmel finden wir Bekannte und Unbekannte, Musiker, Maler, Dichter, Philosophen, Staatsmänner und Attentäter. Ich weiß nicht, ob Beethoven ein Bolschewik oder der Vorläufer eines geistigen Bolschewismus war, so sehr er sich auch in seinem Benehmen von dem Hofmann Goethe unterschied; immerhin war er ein Stürmer und Revolutionär in seiner Kunst; und nur das macht den Entschluss jenes russischen Wandmalers begreiflich, ihn einem Manne wie Kaljajew gleichzusetzen, dessen Name auf die Nachwelt gekommen ist, weil er der Mörder des Großfürsten Sergius war, oder auch dem trockenen gütigen Menschenfreund, dem Engländer Robert Owen. Auf einen historischen Gelehrtenverstand müsste es allerdings beinahe verbitternd wirken, in dieser bunten Reihe die Namen Thomas Münzer und Knipperdolling nicht vorzufinden, ebenso, daß der Name des Gajus Gracchus vergessen wurde, der wohl derselben Auszeichnung würdig gewesen wäre, wie sein älterer Bruder Tiberius. Den übrigen Namen dieses an die Kasernenwand geschriebenen Kataloges, Franzosen und Russen, würde man wohl nicht ohne Neugier zusehen, wie sie sich in ihrer revolutionären Unsterblichkeit miteinander vertragen. Die Rangfrage der Geister war in Moskau vollkommen kommunistisch gelöst. Eine Revision im Olymp würde wahrscheinlich mit dem Ausschluss einiger kühn hineingeschobener Eindringlinge geendet haben.


Das Ganze beweist indessen auf eine naive und schöne Weise eines, nämlich den alten Satz, daß jedes Ideelle zu revolutionären Zwecken dienlich ist. Es beweist weiterhin einen ausgeprägten Ahnenstolz der kommunistischen Täter von heute, die von vielen ganz irrtümlich als Menschen ohne geistige Vergangenheit aufgefasst werden. Dieser Ahnenstolz macht gelegentlich auch vor Annexionen und Requisitionen nicht halt. Der Trieb zu einer idealistischen Genealogie der russischen Revolution kam in jener erwähnten Roten Woche in Moskau auch in anderer Weise zum Durchbruch, nämlich in der Enthüllung von neuen Denkmälern auf den öffentlichen Plätzen, wo vorher die Denkmäler von Zaren, Generälen und Ministern mit grobem Werkzeug beseitigt worden waren. Vor der Duma der ehemaligen russischen Hauptstadt schauen jetzt die scharfen Züge von Ferdinand Lassalle in das Straßenleben des Newski Prospektes. In Moskau hat man Tolstoi und Dostojewski und außer diesen Großen auch einigen kleineren Dichtern Denkmäler errichtet. Jaures und Verhaeren, Marx und Engels, Lord Byron und der Satiriker Ssaltykow-Schtschedrin schauen jetzt in das Straßenleben der Stadt, und das Straßenleben der Stadt schaut auf sie zurück; tatsächlich verleihen diese Gestalten und Gesichter der Stadt etwas wie eine neue Atmosphäre, eine Atmosphäre von aufreizender Geistigkeit, die sie vorher nicht kannte. Nur der eine Unterschied ist da: die Denkmäler der alten Zeit waren oft pompös bis zum Stumpfsinn, aber solide Arbeit aus Stein und Kanonenbronze. Die neuen Denkmäler dagegen bestehen nicht selten nur aus Zement, der mit Bronzefarbe überstrichen wurde, oder sie sind hölzerne Obelisken, mit Gips verkleidet, und rufen nur von fern den Eindruck des Marmors hervor. Diese Gebrechlichkeit ist schon dem Denkmal des Robespierre nicht gut bekommen, das eines Morgens zerschlagen auf dem Boden vorgefunden wurde. Aber was macht das? Ist nicht der Wechsel ebenso geistig oder geistiger als die Beständigkeit, auch auf dem Gebiet der Denkmäler und des Verhältnisses der Menschen zu ihnen?

Für das Verständnis der modernen Revolution, die bisher in Deutschland zwar Könige und Generäle gestürzt, aber Siegesalleen verschont hat, wie für das Verständnis der russischen Revolution im besonderen wären einige Vorbemerkungen nötig.

Es wäre hier von den zwei großen Strömungen der europäischen Literatur zu reden, die durch die Namen Rousseau und Voltaire und durch die Namen Dostojewski und Tolstoi nur angedeutet zu werden brauchen. Wie jene Literatur der französischen Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert, so ist auch jene große russische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, in die durch Schiller der Funke des westeuropäischen Freiheitsideales übersprang, um sich mit dem Freiheitsideal der russischen Seele zu vermählen, revolutionär in jeder Zeile. Sie ist das in einem Maße, wie es auch die jetzige Revolution in ihrem politisch rechtlichen Idealismus noch bei weitem nicht ausschöpft. Es hieße Bekanntes wiederholen, wollte ich auf die geistesgeschichtliche Wirkung dieser Literaturen hinweisen oder auf die sozialen Bewegungen im Europa des neunzehnten Jahrhunderts eingehen, die als die wichtigsten Vorläufer der russischen Revolution zu betrachten sind. Uns könnte allerdings die parteipolitische Vorgeschichte des jetzigen Stadiums der Herrschaft einer einzigen Partei, nämlich der kommunistischen Partei in Russland interessieren, aber es mag genügen, später auf diese Vorgeschichte einen Blick zu werfen. Die beiden Urkunden, die der jetzigen Revolution in Russland ihr typisch proletarisches und bürgerfeindliches Gepräge geben: das Kommunistische Manifest und die Verfassung der russischen Räterepublik, münden in der Statuierung eines neuen menschlichen Typus und damit bei einer Umwandlung des Staatsbegriffes.

Aus den Buchstaben der Verfassung in die Wirklichkeit übertragen, gleicht nun das Gebäude des jetzigen russischen Staates — und einen Staat haben wir durchaus vor uns — noch keineswegs der im Kommunistischen Manifest geforderten Aufhebung des Staates durch seine Umwandlung in eine bloße Verwaltung der Produktion. Er ist eine Übergangsform. Wir wissen noch heute nicht, ob sie wirklich zur Verdrängung des Staates, insbesondere des russischen Großstaates mit seinen alten Grenzen und Tendenzen durch eine Menge selbständiger Rätegebiete, zur Verdrängung des Löwen durch eine Herde von Wölfen oder Schafen führen wird. In den Betrieben, in den Stadtteilen, in den Städten, in den Dörfern, in den Landkreisen und den Provinzen herrschen die ausschließlich aus Proletariern zusammengesetzten Räte. Ihre Führer, Männer oder auch Frauen, sind gewählt mehr nach ihren Fähigkeiten zum rücksichtslosen Gebrauch der rohen bewaffneten Macht als nach den Fähigkeiten ihres Intellekts, mit den Verwaltungsaufgaben des veränderten öffentlichen Lebens fertig zu werden. Und die Führer gerade von dieser Beschaffenheit, in vielen Fällen dem Lumpenproletariat entnommen, finden ihren Rückhalt in einer Zentralgewalt, die ihre eigene Stellung nur durch die Mittel des rohen Machtgebrauches aufrecht zu erhalten vermag und ihre Kunst des Regierens wiederum nur auf die Zuverlässigkeit der Räte und ihre Nachsicht gegen die Fehler dieser Räte stützt. Die russische Staatsform der Gegenwart sieht folgendermaßen aus: Über die große Mehrheit des Volkes, über das Bürgertum nicht allein, in das der Hof, der Adel, die Militär- und Beamtenkaste des alten Staatswesens übergegangen sind, sondern auch über die große Mehrheit der Arbeiterschaft und des Bauerntums herrscht eine durch wohlüberlegte, rücksichtslose Anwendung der im Kommunistischen Manifest aufgestellten Leitsätze zur Macht gelangte, in ihren Maximen unerschütterliche Minderheit. Die allrussischen Rätekongresse tagen. Wir haben im vergangenen Jahr der Existenz des kommunistischen russischen Staates nicht nur die zwei in der Verfassung vorgeschriebenen Rätekongresse erlebt, sondern deren sechs. Diese Rätekongresse mit ihren dem Stande der Arbeiter, Bauern und Soldaten und der proletarisierten Intelligenz angehörenden Mitglieder haben tatsächlich die entscheidenden Beschlüsse über Fragen von allgemein staatlicher Bedeutung gefaßt, wie sie ihnen nach der Verfassung als der obersten Instanz im Staate zusteht: vor allem die Erklärung der Menschenrechte, die Einführung der Räteverfassung, die Ratifikation wie später die Aufhebung des Brester Friedensvertrages mit den Mittelmächten, die Annullierung alter Staatsanleihen, der Erlass von Amnestien, der Erlass von Gesetzen, unter denen die die Armee, die Bauernfragen und das Steuerwesen betreffenden wohl die wichtigsten sind. Der Rätekongress ist aber in dem bisherigen Jahr seiner Existenz nicht derselbe geblieben. Er veränderte sich immer aufs neue in seiner Zusammensetzung, er weist in dieser eine auffallend zunehmende Vereinfachung auf. Seine Teilnehmer bestanden anfangs noch aus Vertretern der verschiedenen, auf dem revolutionären Boden stehenden Parteien, wie der Kommunisten, der Sozialrevolutionären Maximalisten, der Sozialrevolutionären Linken, einiger anarchistischer und einiger parteiloser Gruppen. Durch die gewaltsame Unterdrückung der starken Bauernpartei der linken Sozialrevolutionäre ist der Rätekongress allmählich fast rein bolschewistisch geworden. In den Zeiten zwischen den Sessionen des Kongresses ist der Zentral-Exekutivausschuss in seinem Bestände von nicht mehr als zweihundert vom Kongress gewählten Personen der Träger der obersten Gewalt. Dieser Ausschuss pflegt sich in Moskau ein oder auch zweimal wöchentlich zu versammeln. Er nimmt die Berichte der Kommissare über die Lage in den einzelnen Verwaltungsressorts entgegen und fasst auf Grund dieser Berichte seine Entschlüsse. Ich glaube beobachtet zu haben, daß der Inhalt der Beschlüsse gewöhnlich schon vor dem Beginn der Sitzungen in der Fraktionsbesprechung der herrschenden, kommunistischen, Partei festgelegt wurde, welche nicht selten Dinge gut hieß, die bei einem weniger autokratischen Verfahren wohl nicht immer ohne weiteres gutgeheißen worden wären, wie beispielsweise die Stiftung eines revolutionären Militärordens, auch die Ausführung des Roten Terrors, oder die Ermordung der Familie Romanow. Von diesem Ausschuss nimmt ständig eine Menge von Dekreten, Aufrufen und Verfügungen ihren Ausgang. Noch mehr aber vom Rat der Volkskommissare selbst. Dieser, der den Engeren oder Hohen Rat darstellt, zählt nicht mehr als einige dreißig Mitglieder, unter ihnen die eigentlichen Führer und Verwalter des jetzigen Russland, deren Name in aller Munde ist. Die Zahl der bisher erlassenen Dekrete beläuft sich schon auf viele Hundert, die eine ansehnliche Sammlung darstellen, aber schon durch ihre Menge, zum Teil auch durch ihre Fassung, die an die nicht immer klare, juristische Sprache der alten russischen Gesetzschreibung erinnert, neben der zweifellosen Klarheit über den revolutionären Grundriss des Staates viel Verwirrung im einzelnen hervorgerufen haben und daher die Möglichkeit autokratischer Auslegungen von der Seite der bewaffneten Zivilgewalten offen lassen, gegen die es dann gesetzliche Handhaben nicht gibt.

Die Ausführung der Dekrete und deren Ergänzung durch neue Beschlüsse, welche die Durchführung regelt, obliegt nun vor allem dem Rat der Volkskommissare, der ja der unmittelbare Erbe des Ministerrates im alten Reiche ist. Das jetzige Kommissariat des Innern hat vor allem eine Behörde innerhalb seines Ressorts behalten, die schon in dem Innenministerium des Zarenreiches eine Hauptrolle spielte, nämlich die Polizei. Die alte Polizei war von der ersten Revolutionsregierung sofort abgeschafft worden. Diese Maßnahme führte gerade dem Bolschewismus, der damals die zweite Revolution vorbereitete, viele Gendarmen und Polizisten zu, und aus diesen Elementen bildete sich unter der Regierung Lenins allmählich eine „Allrussische außerordentliche Kommission zum Kampf mit der Gegenrevolution, Spekulation und Sabotage , die in ihrer Zusammensetzung wie in ihren Methoden nichts anderes ist, als die Wiederkehr der ehemaligen Gendarmerie mit einem neuen Beigeschmack von Inquisition, geheimer Fehme und Volksrache. Sie ist eine typisch russische Organisation, die auf das öffentliche Leben im revolutionären Russland von furchtbaren Wirkungen gewesen ist. Sie hat zweifellos ihr Teil dazu beigetragen, mehrere gefährliche Komplotte, die die Räteregierung bedrohten, zu ersticken, andererseits aber auch der russischen Revolution jenen Juchtengeruch zu geben, der an die Knute Iwans des Schrecklichen erinnert. Sie arbeitet zwar mit dem obersten Revolutionstribunal zusammen und ist in dieser Verbindung auch ein Organ des Justizkommissariates. Die Revolution, die damit begann, daß sie die Todesstrafe abschaffte und die Gefängnisse öffnete, ist durch die Außerordentliche Kommission zu einer Schreckensherrschaft geworden, die sich nur durch das Elend unzähliger Menschen, durch eine enorme •Zunahme der Gefängnisse und der Todesurteile aufrecht erhält.

Noch einige Worte über den Unterschied zwischen den Kommissariaten der sozialistischen Räterepublik und ihren Vorgängern, den Ministerien der alten Regierung. Aus dem früheren Ministerium des Innern ist als ein Kommissariat hervorgegangen, dessen Selbständigkeit von der größten Bedeutung ist, das Kommissariat für Nationale Angelegenheiten. Die Bedeutung dieses Kommissariats für die innere und äußere Politik des Rätestaates wird noch mehr hervortreten, je mehr die Beziehungen Russlands zu fremden Nationen beginnen sollten eine gemeinsame revolutionäre Grundlage zu finden. Es ergänzt schon jetzt in einem interessanten Maße das Kommissariat der auswärtigen Angelegenheiten, dem die Regelung der Beziehungen zu den unrevolutionierten Staaten obliegt. Der amtliche Austausch von Noten mit fremden Regierungen, die Gegenseitigkeit von diplomatischen Missionen, Kommissionen und Konsulaten hat seit dem November des vorigen Jahres fast aufgehört. Das Außenamt wurde im Grunde immer als das Kommissariat zur Agitation für das Staatsprinzip der russischen Räterepublik betrachtet. Seine Tätigkeit ist vor allem auf die Herstellung von Beziehungen zu den von den Aufrufen des Sozialismus erreichten Volksmassen in allen Erdteilen und auf die propagandistische Unterhöhlung der Herrschaft des Kapitals und der Bürgerklasse gerichtet. Das Kommissariat für Kriegswesen, dessen Leitung Trotzki im Frühjahr 1918 übernahm, dient dem Aufbau der Roten Armee und der Organisation der zum Arbeitsdienst gezwungenen, durch Verhaftungen und Razzias der rohesten Art aus dem Bürgertum gesammelten Staatsheloten. Durch die Organisation der Mobilmachungen und des Ausbildungswesens sowie durch den Wiederaufbau eines Offizierkorps und der Disziplin hat Trotzki aus einem Haufen zerlumpter Banden eine Armee geschaffen, die jetzt einen beachtenswerten Faktor der Gesamtpolitik des Rätestaates und der Weltrevolution darstellt. Das Kriegskommissariat bereitet den Endkampf vor, der dem bolschewistischen Russland von der Gegenrevolution auf russischem Boden selbst wie auch von den alten Großmächten eines Tages aufgenötigt werden wird.

Was die übrigen Staatsbehörden betrifft, so bilden das Kommissariat für Arbeit, dem beispielsweise die Aufstellung der Lohntarife und die Durchführung des Arbeitszwanges für die Bürgerlichen obliegt, das Kommissariat für soziale Versorgung, das Kommissariat für Volksverpflegung und das Kommissariat für Hygiene die aus dem einstigen Innenministerium hervorgegangene soziale und bevölkerungspolitische Gruppe, der das neue Zivil- und Arbeiterrecht mit der vom Justizkommissariat überwachten Rechtspflege die Grundlagen der Einheitlichkeit darbieten. In der Gruppe der wirtschaftlichen Kommissariate gibt der Oberste Volkswirtschaftsrat in allen grundsätzlichen Fragen den Kommissariaten der Industrie und des Handels, aber auch denen der Finanzen wie des Verkehrswesens und der Landwirtschaft die Richtlinien. Faktisch bilden also in den Verwaltungsorganen der Räterepublik die Kommissariate für Auswärtiges und Nationale Angelegenheiten, für Kriegswesen, Marine, Inneres und Justiz zusammen die politische Hauptgruppe. Die übrigen stellen, mit Ausnahme des Kommissariats für Volksaufklärung, dem das gesamte Bildungswesen und die Auseinanderetzung mit der Kirche obliegt, die wirtschaftliche Gruppe dar.

Dieser so geordnete Rätestaat erfreut sich indessen bis jetzt noch nicht der Möglichkeit einer ungestörten Entwicklung. Er hat mit den inneren und äußeren Feinden einen unablässigen, aufreibenden Krieg zu führen. Dieser Umstand bestimmt sehr wesentlich seinen Charakter; er gibt den revolutionären Energien fast auf allen Gebieten eine ans Krankhafte streifende Empfindlichkeit. Das Räte-Russland war bis vor kurzem von seinen Hauptversorgungsgebieten abgetrennt, abgeschnitten von dem ukrainischen und sibirischen Getreide, von den Fischreichtümern des Weißen und des Kaspischen Meeres, von der Kohle und dem Erz des Donezgebietes, vom Naphta des Kaukasus und von der Baumwolle Turkestans. Zugleich führt dieser Staat, der nur aus aufgespeicherten Vorräten und vom Feinde leben kann, mit verbissener Konsequenz eine Art von Selbstblockade gegen alle ausländischen Staaten durch, um auf diese Weise die Warenkäufer und Lieferanten des alten Russlands zu sabotieren, den Prozess der Reduktion und Kommunisierung des Weithandels zu fördern, und das Proletariat aller Länder in seinem Widerstand gegen das private Unternehmertum noch mehr aufzubringen. Dieser Staat hat die Ansprüche der wirtschaftlich herrschenden Klassen in seinen eigenen Grenzen ebenso aufgehoben, wie er die Forderungen dieser Klassen und ihrer Regierungen im Auslande an Russland leugnet. Die Leistungen des Verkehrswesens und der Fabriken sind zurückgegangen; viele Fabriken stehen still, teils aus Mangel an Kohlen und Rohstoffen und wegen des Zerfalles ihrer Betriebsmittel, teils wegen der Schwierigkeiten der Um-Organisation. Mit einer staatlichen Zentralisierung der Industrien und der Handelszweige ist der Anfang gemacht worden; der Unternehmergewinn ist durch die Gesetze abgeschafft; wo er sich trotzdem noch erzielen ließe, ist er durch die Höhe der Löhne unmöglich gemacht; den unentbehrlichen Leitern der Betriebe fließt er heute nur noch in der Form von großen Gehältern zu. Die ökonomische Zusammenziehung der Geschäftszweige hat die Möglichkeiten der Überproduktion und ihre Folgen, die Konkurrenz, die Doppelarbeit, das unterbietende Angebot und damit alles Anpreisungs-, Reklame- und Ausstellungswesen beseitigt. Die meisten Geschäfte sind geschlossen, die meisten Firmen aufgelöst, schon allein weil nicht mehr genug Waren produziert oder eingeführt werden, um die Schaufenster und Lager zu füllen. Selbst die Lebensmittelhandlungen der alten Art haben den öffentlichen Ausgabestellen der Konsumgenossenschaften Platz gemacht, die ohne die früheren bunten Firmenschilder, nur noch mit ihren jetzigen administrativen Bezeichnungen die Straßenecken einnehmen. Das Geld ist durch die Beschlagnahme alles Geldmetalles und durch eine systematische Massenfabrikation von Zetteln in seinem Tauschwert verblasst. Die Zuteilung von Lebensmitteln, Werkzeugen und Gebrauchswaren ist an eine staatliche Rationierung gebunden, die nach vier Kategorien eingeteilt ist und dem Schwerarbeiter das meiste und beste, dem Nichtarbeiter das wenigste und schlechteste zuerkennt. Die Summe der Konsumgenossenschaften in Russland, denen die Aufbringung und Verteilung der Lebensmittel obliegt, verzeichnet bereits größere Umsätze als die ehemalige Zentraleinkaufsgesellschaft und Kriegsrohstoffabteilung in Deutschland, die mit ihren riesigen Beamtenstäben eine Art Ministerium bildeten. Die russische Regierung steht vor der Frage, Eisenbahnen, Landstraßen, Lastautomobile, Barken, Lagerhäuser für diesen Verband der Genossenschaften bauen zu lassen. Diesem Zweck haben die staatlichen Werkstätten zu dienen, die aber nicht etwa nach dem alten System in den Vororten der Großstädte zusammengezogen, sondern über das ganze Land verteilt werden. Der Unterschied zwischen Stadt und Land ist in Russland niemals sehr groß gewesen. Durch die Maßnahmen zur Verländlichung der Städte und zur Verstädterung des Landes geschieht planmäßig alles weitere, um die letzten Unterschiede fast ganz aufzuheben. Was die Bauernfrage anlangt, so findet der Kommunismus keinen Sinn in der Verteilung des Bodens als Privateigentum an die Bauern. Denn dieser Verteilungsprozess würde niemals zur Ruhe gelangen. Darum hat auf dem Lande eine Agitation begonnen, die dahin zielt, die Bewirtschaftung des Bodens als Gemeineigentum durchzuführen, aber ohne Rückfall in die alte bodenständige Form der russischen Dorfgemeinde, sondern durch industriell landwirtschaftliche Arbeiterarmeen, die der Staat kommandiert, denen der Staat Musterfarmen hinstellt, Wege baut, Vieh, Saaten, Maschinen und Vorarbeiter liefert.

Auch auf den geistigen Gebieten herrscht nichts als starke Bewegung, heftige Neuerung, kühnes Zerbrechen überkommener Formen. Die Kirchen Russlands bestehen noch in ihrer goldenen Schönheit samt ihren Priestern, aber losgelöst vom Staat, wirtschaftlich ihrem Schicksal preisgegeben, allen früheren offiziellen Einflusses auf die Schulen, auf das bürgerliche Leben entkleidet, auf tausenderlei Weise genötigt, sich durch die Tapferkeit ihrer Diener gegen die Strenge der Räte, in öffentlichen Disputationen gegen die Angriffe, Fragen und Forderungen aus dem Volk, gegen Skepsis, neuen Glauben, Unglauben, gegen den autoritätenfeindlichen Enthusiasmus der jungen republikanischen Generation zu verteidigen. Der Bolschewismus war in seinen populären Anfängen nicht ohne die Einwirkung urchristlicher Gedanken. Er hat in seiner Propaganda für den sofortigen Frieden, für den Frieden um jeden Preis, selbst um den Preis des Nachgebens an den tief gefürchteten deutschen Imperialismus, die Tolstoische Lehre vom Nichtwiderstehen angerufen. Heute ist dieser Gedanke über Bord geworfen. Der neuchristliche Zug in ihm ist feierlich widerrufen und ausgelöscht. Der Kommunismus bekämpft schonungslos die Jenseitslehren der Kirche. Hier geht das Kommissariat für Volksaufklärung an der Spitze. Dieses Kommissariat hat in kurzer Zeit eine Menge von Einrichtungen geschaffen, die dazu dienen sollen, dem Volk an der Stelle der Kirche die Kunst zu geben. Es rief die jungen Künstler auf, dem Leben und Sehnen der Massen neue Gleichnisse zu schaffen. Es sieht eine revolutionäre Aufgabe darin, die Künste und die Wissenschaften ihrer esoterischen Ausschließlichkeiten zu entkleiden, alles Handwerkliche daran ins Volk zu verweisen, alles Geistige an ihnen mit dem schroffen faustischen Geist der Revolution zu durchglühen. So sind Kräfte entfesselt worden, die bisher im russischen Volk geschlummert haben und eigentlich in jedem europäischen Volk bis zu diesem Augenblick nach dem Ausdruck suchen.

Der Kontrast dieses auf entschieden experimenteller Basis entstandenen, mit den Ideen eines neuen Aufbaues gesättigten Staatswesens zu allen Formen bisherigen Staatslebens ist offenbar. Wir erkennen in ihm eine ganze Reihe von Motiven, die unmittelbar dem Arsenal der platonischen und utopischen Staatsphilosophie entnommen scheinen. Es ist dabei nicht schwer, festzustellen, daß selbst im jetzigen Russland keineswegs die breiten, plebejischen Volksmassen in ihrer Vertretung durch die Räte es sind, die wirklich den Staat regieren. Würde das der Fall sein, so hätten wir in Russland doch wohl nicht die konsequente Entwicklung des zentralistischen Staatsgedankens, der so deutlich hervortritt. Der Kurs der Regierung wäre mehr als einmal geändert worden entsprechend den Schwankungen ungeführter Volksmassen. In Wirklichkeit werden auch hier die Angelegenheiten des Staates durch wenige Männer bestimmt, die allerdings die Ideen der Moderne, den gereizten Überdruss der Menschen gegen das alt und unschöpferisch Gewordene verstanden haben. Diese Führer verfügen allerdings über das Ohr und die Hand der Masse. Sie sind unbedenklich, wo das nötig erscheint, alle Mittel anzuwenden, um ihre Beziehung zu den Massen aufrecht zu erhalten, sei es selbst durch gracchische Speisungen und Theatervorstellungen auf Staatskosten, durch Bevorzugung der Armen, selbst um den Preis der Unmenschlichkeit gegen die anderen, durch die Duldung und selbst die Förderung von Ausschreitungen des Klassenhasses. Der Rat der Volkskommissare, der sich fast allnächtlich unter dem Vorsitz Lenins im Moskauer Kreml versammelt, erinnert an den aus siebenunddreißig der besten Bürger gebildeten nächtlichen Rat, der sich nach Plato immer in den frühesten Morgenstunden zur Besprechung der Angelegenheiten des Staates zu versammeln hätte. Platonisch ist an dem gedachten Idealstaate auf dem Boden Russlands die Verbannung des Privatbesitzes und die Vereinigung der Menschen zu einer einzigen, durch gleiche bürgerliche Vorschriften und ein gemeinsames Erziehungswesen durchgebildete Familie, platonisch die Gleichstellung von Ackerbau, Handel und Gewerbe in den Beschäftigungen der Staatsbürger, denen als Wächter die Heere der Krieger und Beamten, aus denen die Regenten hervorzugehen haben, gegenüberstehen. Gold und Silber besitzen im neuen Staate, der den Goldschatz der alten russischen Regierung und Reichsbank unbedenklich in das Ausland abführte und die Gegenstände der notwendigen Einfuhr lieber mit Gold und Effekten, als mit Baumwolle, Lebensmitteln und Brennmaterialien bezahlt, keinen Wert mehr. Auch das ist platonisch, wie ebenso im platonischen Staate die Einfuhr von Luxuswaren und die Anpreisung von Waren verboten ist. An die Utopia des Thomas Morus erinnert die Ähre im Wappen der Sowjetrepublik, erinnern die ledernen, schmucklosen Anzüge ihrer Beamten und Soldaten. Die Einwohner des utopischen Staates sind alle der Landwirtschaft kundig und betreiben nur nebenher ein Gewerbe oder dienen einer Wissenschaft. Es herrscht der sechsstündige Arbeitstag, in dem niemand müßig gehen darf, aber auch keiner genötigt ist übermäßig zu arbeiten. Im utopischen Staat gibt es keine Diener, keine Bettler, keine Edelleute und keine Priester. Im Lande Utopien gibt es Städte mit großen Magazinen und Werkstätten, aus denen jeder Familienvater frei holen kann was er braucht, gemeinsame Speisehallen, vortrefflich eingerichtete öffentliche Herbergen und Spitäler. In Russland sieht man das Bestreben nach ähnlichen Dingen. Die Kommunen im utopischen Lande haben einander, wie die Räte im heutigen Russland, ihren Bedarf anzuzeigen und tauschen das ihnen Nötige ohne Entgelt einfach aus. Der Staat hat große Geldguthaben im Inlande gar nicht nötig. Er hat sie nur im Auslande. Sie dienen Utopien im Kriegsfalle zur Anwerbung von Söldnerheeren oder zur Bestechung fremder Regierungen; dem bolschewistischen Russland dienen sie zur Agitation.

Nach den Propheten des Sozialismus aus vergangenen Jahrhunderten eröffnet Babeuf die Reihe der Evangelisten der modernen Revolutionen. Babeuf stellte das Programm auf, daß alle Güter, die geistigen wie die körperlichen, der Gesamtheit gehören sollen. Jeder habe das Recht, auf ein glückliches Leben, aber auch die Pflicht zur Arbeit. Die Zentralgewalt habe jeden Menschen dem Wirkungskreise zuzuführen, dem er gewachsen sei und ihn anzuhalten, die Frucht seiner Arbeit den gemeinsamen Speichern abzuliefern; große Städte würden nicht geduldet, das Leben der Bevölkerung sei hauptsächlich auf die Landwirtschaft zu gründen, Künste und Wissenschaften seien auf ein Geringes einzuschränken. Saint-Simon bezeichnet in seinen Schriften über die Umwandlung der Gesellschaft durch den neuchristlichen Gedanken den Verlust von Tausenden von Arbeitern als für Frankreich nachteiliger, als den Verlust der königlichen Familie, des gesamten Hofstaates, des höchsten Klerus und der oberen Beamten. Fourier hat die beinahe Freudsche Theorie ausgesprochen, daß alles Böse aus Nichtbefriedigung entstehe, folglich bedürfe es einer auf den Genuss gegründeten Organisation der Gesellschaft, die in Phalangen vorgenommen werden müsse; die Menschen sollten in Kasernen oder Lagern wohnen und sich in freien Serien zur landwirtschaftlichen und gewerblichen Arbeit zusammenschließen; das Kapital solle in der Form von Aktien in den Händen aller sein, Grund und Boden wie die Werkzeuge sollen allen gehören. Er fordert für die Produktion den Großbetrieb, verlangt im öffentlichen Leben die volle Gleichstellung der Geschlechter und weissagt endlich, daß mit den über die ganze Erde verbreiteten, von einem in Konstantinopel residierenden Omniarchen regierten Phalansterien der ganze Zustand der Erdoberfläche eine Änderung erfahren werde: um den Nordpol werde sich eine Lichtkrone bilden, die Leben und Wärme über die kalten Länder verbreite. Dann werde die Erde überall bewohnbar sein, die Menschen würden 144 Jahre alt werden, in einer Erdbevölkerung von drei Milliarden würden dann nicht weniger als 37 Millionen Dichter wie Homer vorhanden sein, desgleichen 37 Millionen Mathematiker wie Newton, 37 Millionen Schauspieler wie Moliere. Proudhon wollte alle Staatsgewalt durch eine einfache staatenlose Regierung der Vernünftigen ersetzt wissen. Eigentum ist Diebstahl, Geld und Zins sind ihm die Hauptursachen allen Übels. Er errichtet eine Tauschbank und gründet sie auf den Satz, daß die Entwicklung der Gesellschaft auf fortdauernder Ermäßigung der Herstellungskosten beruhe, während die erzielten Produkte eine wachsende Bedeutung im menschlichen Leben gewinnen. Proudhon hat für seine Gedanken schon die schärfsten Formeln gefunden. Er ist, wie es scheint, der moderne Urheber des syndikalistischen Gedankens und des aus ihm entsprossenen Rätegedankens, der den Staat durch eine Föderation von Gruppen ersetzen will, das heißt, durch eine Organisation der Bevölkerungen in kleinen politischen Gruppen mit weitgehender Dezentralisation, die ihre Verhältnisse durch freie Verträge ordnen und bei denen die Zentralgewalt nichts zu tun hat, als die Einhaltung der Verträge zu überwachen. Cabet, der Verfasser der Reise in Ikarien, sieht die Vision eines t in Gütergemeinschaft lebenden Volkes und wird in Frankreich und Amerika zum Gründer kommunistischer Siedelungen. Louis Blanc vollzieht durch seinen Eintritt in die provisorische Regierung von 1848 noch mehr die Annäherung an die Praxis. In seinem Regierungsprogramm gibt es bereits einen obersten Volkswirtschaftsrat wie in der heutigen Räterepublik und unter ihm die nationalisierten Produktionszweige und Zentralbetriebsstellen samt der Bestimmung der Preise und Löhne durch den Staat. Ihren Gipfel und ihr vorläufiges Ende erreichte die kommunistische Bewegung im westlichen Europa in der Episode der Pariser Kommune von 1871.

Aus dem bisher Gesagten wird es dem Hörer schon klar geworden sein, da? der russische Rätestaat in seiner jetzigen Erscheinung eine eigentümliche Mischung zentralistischer und föderalistischer Elemente darstellt. In dieser Vermischung scheint sich schon in der Gegenwart ein latenter Konflikt zwischen der Autonomie der Räte und der Zentralgewalt auszuprägen, der die Krisis in sich trägt, ein Widerstreit, der letzten Endes auf die Unvereinbarkeit von Ideen zurückgeht, die in Proudhon und in Marx ihren Ursprung haben. Es scheint, daß die Zentralgewalt, die Oligarchie und ihr ewiges Charakteristikum in Russland, der Despotismus, in diesem Konflikte schon sehr siegreich fortgeschritten sei gegen die zur Anarchie neigende Macht der Räte, deren Führer im kleinen einen finsteren Despotismus ausüben, der nur durch aufgeklärten Despotismus von oben allmählich überlistet und überwunden werden kann. Aber ein ungeheurer gedanklicher Aufschwung liegt trotz alledem in den Anfängen zur Verwirklichung dieser von der Menschheit lange gehegten sozialen Befreiungsideen. Erkennen wir in der russischen Revolution erst einmal ganz deutlich die schroffe Kurve dieses Aufschwunges, so muss es uns vorkommen, als sei die moderne Revolution die größte Betonung des Optimismus, des Glaubens an das Ideal, an Güte und Gerechtigkeit im Menschen, als sei im Bolschewismus selbst der Optimismus zur Staatsmacht geworden! Ein neuer Menschheitsglaube, der ja auch in Wirklichkeit vielen Vorkämpfern der Revolution das Sterben leicht gemacht hat. Der sich zuweilen in enthusiastischen Kundgebungen der Massen äußert, ebenso wie in den orgiastischen Festen einer revolutionären jugendlichen Kunst. Der aber auch diesen Enthusiasten gegen die Schreie der Gequälten auf ihrem Wege die Ohren schließt.

Indessen wird ja derselbe Bolschewismus von Vielen, die ihn plötzlich wie ein Evangelium ergreifen oder ihn fürchten, als das gerade Gegenteil des Glaubens an das Gute und des Willens zur Gerechtigkeit empfunden. Ist er nicht einfach die soziale Form tiefster nationaler Verzweiflung nach verlorenen Kriegen, die Ausgeburt trostloser, durch die Kurzsichtigkeit der herrschenden Klassen ins Unerträgliche gesteigerten Leidenszustände, das Emporkommen des Verbrecherischen, Ungesunden und Dumpfen im Menschen, der Träger der Zerstörung und des Verfalles der gesetzgebenden Mächte? Hat die Zeit der Herrschaft Lenins und der Räte in Russland einen Menschen froher gemacht? Wo sind die Lieder dieser Zeit? Und was verspricht der Kommunismus uns, wenn er in unserem alten, einst wohlgeordneten Vaterlande den Kampf aufnimmt und sich mit Demokratie und dem Versprechen der allmählichen Sozialisierung nicht begnügen will? Ist er nicht eine Ausgeburt des elendesten Pessimismus? Ein schweres Fieber, dessen Kurve sinkt, sobald die Entente dem Kranken Lebensmittel und Rohstoffe für seine Industrien löffelweise wie Medizin zukommen lässt, aber beileibe nicht zu viel, um nicht diesen Kranken allzu rasch wieder gesund werden zu lassen? Nun, wer im Kommunismus nichts als den Vorboten unsinniger Auflösung erblickt, der glaubt freilich an den Satz, daß man von Revolutionen in siegreichen Ländern noch niemals gehört habe. Der leugnet in ihm das seelische Ereignis des Willens der Massen zum Stillstande in dieser Zeit der geschäftigen Hast und des prahlerischen Fortschritts. Der behauptet, daß außerhalb Russlands und außerhalb Mitteleuropas Ereignisse wie dieses unmöglich seien, der erklärt auch den Gedanken der Weltrevolution für ein Hirngespinst. Ich teile die Theorie des Pessimismus nicht. Als ob die französische Revolution des Jahres 1789 bei einem im Kriege geschlagenen Frankreich ausgebrochen wäre! Nein, jenes Frankreich bot nur das Bild eines von den regierenden Ständen ruinierten, aber von Ideen durchgärten Staates, und ein ähnliches Bild bieten selbst die siegreichen Ententeländer mit ihren Toten und Krüppeln, mit ihren zahllosen zerstörten Existenzen, mit der die Völker immer aufs neue beunruhigenden Herrschsucht ihrer Regierungen, die auch dort mit der Seele des Menschen in den Kampf auf Leben und Tod verwickelt ist. Waren etwa die Revolutionen in der Mitte des 19. Jahrhunderts Folgeerscheinungen nationaler Katastrophen? Sind die Folgen des Weltkrieges Katastrophen nur für die geschlagenen Nationen? Schließen sich nicht alle diese einzelnen Katastrophen zu einer einzigen zusammen, deren Ausdehnung so groß ist, wie das Gebiet aller jener Staaten, die am Weltkriege teilgenommen haben? Und liegt nicht in ihnen allein auch die Aussicht auf die wahre, menschheitliche Erweiterung der Nationen? Auch in Nationen, die Kriege gewonnen haben, sind Revolutionen möglich. Wenn diese Behauptung noch der Stütze bedürfte, so wäre es der Hinweis auf den Aufstand der Dekabristen im alten Russland Alexanders I. Alexander Herzen nannte die Dekabristen, diese nach IV2 jährigem siegreichem Kriege von den .napoleonischen Schlachtfeldern und aus den Hauptstädten Europas heimgekehrten Gardeoffiziere, Sozialisten vor dem Sozialismus. Diese Revolutionäre lebten vor Marx, vor Proudhon; sie wussten wahrscheinlich sehr wenig von der Utopie des Thomas Monis, vielleicht kannten sie Plato. In den hinterlassenen Fragmenten und Entwürfen dieser Bewegung ist ein sehr merkwürdiges Material enthalten, eine solche Antizipation der späteren sozialen Strömungen in Russland, daß es nicht wunder nimmt, wenn fast alle politischen Richtungen der späteren Zeit, die theoretischen zuerst und dann die praktischen, auf sie zurückgreifen können und selbst die Bolschewisten von heute beim Revolutionsfest die Bilder jener Männer ausstellten, zu Ehren ihres Pioniertums für die jetzt erworbene Freiheit. Ich will einige Gedanken der Dekabristen wiedergeben.

Die Psychologie der Dekabristen gibt in vieler Beziehung Aufschluss über die Psychologie der jetzigen Revolution in Russland. Pestel, der unter jenen überzeugten Revolutionären und Republikanern der Bedeutendste war, Sohn eines früheren Generalgouverneurs in Sibirien, in Dresden erzogen, glänzender Generalstabsoffizier, Ritter des preußischen Ordens pour le merite, Mitbegründer des revolutionären Wohlfahrtsvereins und der allslawischen „Südlichen Gesellschaft“, dieser Denker, der mit der seherischen Tatkraft des Staatsmannes, mit der weltlichen Frömmigkeit des Protestanten dem Problem des Ostens, der russischen Allheit verfallen war, erblickte den Charakter des neunzehnten Jahrhunderts in dem Kampf des Volkes gegen die Aristokratie; er bekämpfte den russischen Absolutismus, und dennoch war ihm wie den heutigen Inhabern der Rätegewalt, eingestandener Absolutismus lieber als die Halbheit des verfassungsmäßigen und parlamentarischen Betriebes. Auch Pestel fordert die Bauernbefreiung, will aber den freien Boden der Bauern zum Gemeinbesitz machen; Aristokratie des Geldbesitzes scheint ihm schlimmer als die Feudalaristokratie. Ganz sozialistisch nennt er die Arbeit das Kapital der Armen. Er fasst das Erbrecht sozialistisch, er verlangt eine bessere Bildung der Geistlichen und will nur Menschen über 60 Jahre erlauben Mönche zu werden. Ihm schwebt ein großes, einheitliches Russland vor. Im Gedanken an die europäische und asiatische Hälfte des Riesenreiches, an seine durch die Wolga verbundenen nördlichen und südlichen Gebiete bringt er an Stelle Petersburgs und des noch zu westlich gelegenen Moskau als Hauptstadt Nishni Nowgorod in Vorschlag. Gedanken, die auch die bolschewistische Regierung seit dem Bestehen ihrer Herrschaft mehrmals erwogen hat; im übrigen kennen wir noch nicht die Formen und das Entwicklungsgesetz des künftigen russischen Reiches. Pestel verlangte die Verschmelzung aller russischen Völker zu einem Volke. Er fordert die vollkommene Verrussung selbst der Finnen und der Deutschen, fordert die russische Sprache als die herrschende auch in den südslawischen Gebieten bis an das Mittelmeer. Russland soll, in gleicher Regierungsform wie Polen, mit diesem ein enges Bündnis schließen, Polen aber seines Katholizismus wegen als einen unabhängigen Staat behandeln. In der Judenheit Russlands wie Polens erkennt Pestel einen Staat im Staate. Er will daher den eigenartigen engen Zusammenhalt der Juden brechen und macht — als erster unter allen modernen Politikern, aber vielleicht nicht, ohne von chiliastischen Strömungen des damaligen Deutschland berührt worden zu sein — den Vorschlag zu einem riesenhaften Auswanderungsunternehmen von typisch zionistischer Art mit dem Ziel der Errichtung eines selbständigen Staates für zwei Millionen russischer und polnischer Juden in Kleinasien.

Pestel und seine Freunde haben vor jetzt hundert Jahren in Russland nicht nur die Revolution, sondern auch den Panslawismus verbreitet, zwei Ideen, die sich erst später voneinander getrennt haben. Der Bolschewismus und die russische Revolution gebärden sich zwar noch heute als international, und sie sind es noch heute, aber es ist unverkennbar, daß sie auch auf nationalistische Instinkte einen großen Reiz ausüben, ja diese erst erweckt haben, wo sie bisher am wenigsten nachzuweisen waren, nämlich im unteren Volk. In vielen Zügen seiner Weltagitation erinnert der Bolschewismus an den Panslawismus, nur daß diesem nicht mehr die kirchliche Rechtgläubigkeit im Mittelpunkte steht, sondern der Marxismus. Die Losungen dieses neuen Panslawismus unterscheiden sich von den alten nur dadurch, daß er auch Juden, Letten, Kaukasiern erlaubt, Träger seines Gedankens zu sein. So ist der Bolschewismus, so sehr er für Lenin die Verwirklichung der proletarischen Internationale ist, für weite Kreise im Volke und namentlich die bewaffneten, der verwandelte Träger der slawischen Allheit geworden. Zwar trug Lenin über den Widerstand der Sozialrevolutionären Partei, die nie aufgehört hat nationalistisch zu sein, den Sieg davon, als er unter den Brester Frieden seine Unterschrift setzte. Aber das war nur ein knapper Sieg, der ihm durch die niemals aufgegebenen Angriffe nicht nur der reaktionären Presse, sondern auch eines großen Flügels der revolutionären Parteien streitig gemacht wurde. Wenn das revolutionäre russische Programm in unklaren Wendungen auf Finnland, Polen, die Ukraine und sonstige Grenzgebiete unter Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker verzichtet, so versucht es doch die Nationen einem geistigen Russland anzuschließen. Bei den Dekabristen waren noch Revolution und Allslawentum zwei Pferde am selben Wagen. Wir werden das Zusammengehen dieser beiden Tendenzen in den künftigen europäischen Entwicklungen wieder erleben. Noch sind die Schicksale Polens, des tschechoslowakischen Staates und der balkanslawischen Staaten nicht zu Ende. Bezeichnenderweise aber sind in erster Linie rassefremde Idealisten oder Gewaltmenschen, wie schon im Jahre 1905, im jetzigen Russland die Träger der neuen Staatsidee geworden. Letzten Endes stützt sich die Gewalt der Moskauer Regierung immer mehr auf die Energie ihrer zentralistischen Tendenzen und auf die Ergebenheit weniger aus Fremden bestehender Söldnerbataillone. Den Massen waren im Anfang diese Dinge gleichgültig, allmählich aber bilden sie die Ursache eines Abgrundes von Misstrauen zwischen Volk und Führern, der einen niederschlagenden Eindruck hervorruft. Jenen aus dem Gefängnis, aus dem Exil heimgekehrten Männern, die die Zaren des heutigen Russlands geworden sind, ist das Volk im äußersten Falle Materie wie einem Gelehrten in seinem Laboratorium. Wie sollen auch Menschen, die immer aus dem Koffer gelebt haben und auch heute noch wie fremde Quartiergäste in den Bojarenpalästen des Moskauer Kremls leben, ein Gefühl haben für den Mitmenschen, der durch ihre Dekrete plötzlich mit rauer Hand aus seinem bisherigen Beruf und Heim auf die Straße geworfen wurde. Wie sollen Menschen, die als politische Verschwörer und als Flüchtlinge jahrelang in allen Krisen der Not und der Todesgefahr hart geworden sind, bereit sein, von der Idee, der sie leben, nur um der Barmherzigkeit willen das geringste abzulassen, Menschen, die an Moskau oder auch an Russland innerlich so wenig hängen, daß sie bereit wären im Augenblick des Zusammenbruchs vom bisherigen Schauplatz ihrer Taten davonzufliegen und ihren Beruf als Revolutionäre in Berlin oder in Budapest, in Warschau oder in Bochum, in Genf oder in Stockholm fortzusetzen, Europäer allerdings in einem schon von vielen miterlebten, aber noch immer nicht vom Brandmal der Heimatlosigkeit und der Unverantwortlichkeit befreiten Sinne.

Vielleicht ist es gerade dieses stumme Misstrauen im Volke und die innere Zwiespältigkeit der Roten Armee, was den Kampf der eigentlichen Führer so hart, so despotisch macht, was ihre Hingabe an die Idee in die Spielwut von Desperados, ihre Agitation in lärmende amerikanische Reklame verwandelt. Das ewige unruhige Hasten von Dekret zu Dekret, von der sensationellen Drohung zum sensationellen Gewaltakt, das oft lieblose und fahrlässige Umgehen mit den materiellen und geistigen Reichtümern des Volkes und endlich das Fehlen eines religiösen Trägers der Revolution, das alles ist wahrlich das tragische Bild eines Chaos. Erst dadurch erhält die russische Revolution das nihilistische Antlitz, das dem Westen wie eine düstere Wolke am Firmamente droht.

Es wird immer merkwürdig bleiben, daß Männer wie Pestel schon im Anfang des vorigen Jahrhunderts die großen Gärungen des Ostens, darunter die weltgeschichtlich so bedeutungsvolle Emanzipation der Juden, die erst wir Heutigen seit dem Ausbruch des Weltkrieges erleben, vorausgesehen haben und ihren Folgen, soweit sie die geistigen und gesellschaftlichen Schicksale Europas berühren, zuvorzukommen trachteten. Wir wissen heute noch nicht, ob Verschmelzung oder Sonderung das Ende dieses Gärungsprozesses sein wird. Mit der Emanzipation der russischen Mohammedaner, mit dem Aufstehen aller nichtchristlichen Elemente des Ostens ist in der russischen Revolution ein Schritt geschehen, der die großen Mächte des Ostens auf den Plan gerufen hat.

Wenn jene „Kämpfer für die Freiheit“, die auf der großen weißen Mauer der Alexander-Kriegsschule in Moskau aufgezeichnet wurden, plötzlich leibhaftig durch die Straßen des heutigen Moskau gehen würden, es wäre interessant, was sie beim Anblick des ebenso heroischen wie tragischen Bildes der russischen Revolution empfänden. Neben den Mächten der Befreiung, die in dieser Umwälzung emporstiegen, neben den Blumen und Sternen, die als Symbole von maurerischer Bedeutung bei dem Fest auf den Moskauer Straßen als Schmuck erschienen, fänden sie in der russischen Revolution ein Satanisches, das den Gedanken nicht ruhen lässt, daß die Erde ein Spielball der Dämonen geworden sei. Denn in die erhabene Grundidee der Völkerverbrüderung mischt sich bereits aufs neue der Gedanke der Rassenfeindschaft und des Militarismus. Und es bedarf schon jetzt eines neuen Aufschwunges, es bedarf der unerschöpflichen Energien des revolutionären Idealismus, um diesen furchtbaren Rückfall unmöglich zu machen. Nur aus den tiefen Wurzeln des Humanismus der westlichen Nationen, nicht aus den unverbrauchten, aber rohen Kräften des Ostens allein kann dieser Aufschwung kommen.

Um das tragische Bild der russischen Revolution zu vollenden, bedarf es aber endlich nur eines Blickes auf den bisherigen Verlauf der Revolution in Deutschland. Trügerisch wäre der Gedanke, daß die Zeit der Umwälzungen in diesen Teilen des alten Europas, dessen Antlitz von den Zügen des Haders und des Sadismus entstellt ist, in diesem dennoch uns allen teuren Europa, das unser aller Mutter ist, zu Ende wäre. Glauben Sie nicht, daß ein Ende der Revolution bei uns kommen kann, ehe eine große geistige Bewegung da ist, die wir erst in den Anfängen spüren. Die Welt hat einen tiefen, lang aufgespeicherten Fonds von unverbrauchten Idealen, also hat sie auch einen Fonds von revolutionären Gedanken und Antrieben. Diese Gedanken waren Keime in den Werken der Propheten und der Dichter, Im Leben jener Ideologen und Schriftsteller, deren Denkmäler jetzt an Stelle der Denkmäler von Zaren und Generälen errichtet werden. Beklemmend an dem heutigen Deutschland ist die Fremdheit, ja die Feindschaft dieses ehemaligen Volkes der Dichter und Denker gegen den Geist. Wäre es nicht so sehr entgeistet, es würde Männer wie Eisner nicht als Literaten beschimpfen und schließlich ermorden. Denn dort in München vollzog sich mehr als nur eine Absage an Berlin, es vollzog sich dort ein erster Versuch zur Wiederherstellung eines wahrhaftigen europäischen Lebens. In den Erhebungen, die sich an allen Enden des Landes vollziehen, steckt mehr als nur der Umtrieb von Störenfrieden und Verbrechern. Es steckt in ihnen die Unruhe der Volksmassen und jedes Einzelnen in diesen Volksmassen darüber, durch das alte Wahlsystem, wie es der Nationalversammlung zugrunde liegt, noch einmal um jene Unmittelbarkeit der Mitbestimmung im politischen Leben betrogen worden zu sein, die die Gabe der Revolution an jeden Einzelnen sein soll. Es scheint für diese Bewegung nur dieselbe Lösung übrig zu bleiben, die sich das aufgewühlte Russland von den westeuropäischen Denkern hat darbieten lassen, die Lösung, durch die Organisation der Bevölkerungen in politischen Gruppen und in einem System solcher Gruppen, den Bruch mit der alten Zivilisation, das Todesurteil der Städte, eine Art von Heimkehr zu vollziehen.

Das alte römische Reich deutscher Nation war ein wunderbarer Bau von kleinen Kreisen, die durch selbstgewählte Führer vertreten waren, die wieder höheren Führern dienten, mit dem Gipfel des Kaisers, dessen Kraft im freien Volke wurzelte. Das war Gemeinschaft in feudaler Bindung, deren elastische Kräfte erst spät durch die starren Gefüge des Zentralismus vernichtet wurden. Kein Staat ist zentralistischer als Frankreich. Aber in den Ideen des Kommunismus brachte das französische Genie schon einmal die Idee des Föderalismus seinem Siege über die strenge Idee des Zentralismus gerade in Frankreich am nächsten. Lässt nicht diese Tatsache, daß das zentralistisch wiederaufgebaute deutsche Reich zerbrach, und daß in Frankreich die stärksten Traditionen eines neuen Föderalismus vorhanden sind, die Hoffnung zurück, daß eines Tages die Idee des Kommunismus wieder zu einer europäischen werden könne, wenn sie auf jene unterdrückten Strebungen zurückgreift, die bis heute in den Reaktionen des Partikularismus und des Regionalismus ihr Dasein gefristet haben.

In den Ländern der Entente steht heute die der Überspannung nahe Kraft des alten kapitalistischen Geistes dem märzlich sprossenden Geiste, der durch ganz Europa geht, gegenüber wie ein Eisberg aus dem Norden, der auf seinem Treibwege noch einmal Kälte und Verzweiflung verbreitet. In Deutschland ist es nicht so sehr die Erschöpfung der Menschen oder die bewaffnete Reaktion, die das große Blühen zurückhält, als das Zögern der Intellektuellen. Ihr Mangel an Verständnis für die Einmaligkeit des Augenblicks, für die Größe der Chance — ihr Zögern, das nichts als Trägheit ist, so sehr sie es mit dem Hinweis auf die Verantwortung für die Gefahren eines wirtschaftlichen und biologischen Zusammenbruchs entschuldigen. Ich frage mich, was in Deutschland schlimmer werden kann, wenn wir der Revolution den ganzen Geist und Willen hingeben, über den wir zu verfügen haben. Denn der Geist allein ist imstande, auch ein vom Feind ausgeraubtes und geknechtetes Deutschland unüberwindlich zu machen. Ich frage mich, welches Interesse wir haben, den Sturmwind der Revolution durch die Notdächer, die wir bei uns errichten, von den anderen Ländern abzuhalten, deren Regierungen schon jetzt Mühe haben, die Gegensätze untereinander und den Abstand gegen ihre eigenen Völker weiter zu vertuschen und die Katastrophe immer noch einmal hinauszuschieben. Alle diplomatischen Manöver um mit diesen Regierungen fertig zu werden, sind vergeblich, aber auch alle diplomatischen Manöver dieser Regierungen, um mit uns fertig zu werden, sind vergeblich. Dieselben neuen Formen, die bei uns den Kapitalismus im alten Sinne abtöten, können der Rettung des ganzen Volksbestandes dienen. Nur ein Deutschland, das solche Formen schafft, höhere soziale Formen, als sie Russland auszubilden vermochte, wird allen Eingriffen Trotz bieten. Ein solches Deutschland wird eine neue Bedeutung für die Welt gewinnen. Es wird in allen Ländern einen unwiderstehlichen Reiz ausüben, auf die Proletarier nicht allein, sondern auch auf die Geistigen. Dieses neue Deutschland ist aber nicht möglich, ohne die Stimmung der Hingabe, die nach einer schönen Legende in der Nacht der französischen Revolution die Privilegierten von damals zum freudigen Verzicht auf ihre Vorrechte hinriss. Man kann Russland und den Russen viel Gutes und viel Böses nachsagen, nur Philister sind sie nicht. Der Deutsche aber ist selbst heute noch in erster Linie Philister. Bei seinen Anlagen, bei seinem Reichtum an Bildung, an Fähigkeiten, an Aufopferung, die er im Kriege bewiesen hat, wie er sie in der Zeit des äußeren Glanzes vor dem Kriege auf den Gebieten der Wirtschaft und der Technik bewies, ist es nur das Philistertum, das ihn so hilflos macht und ihm den Weg in die Welt verschließt. Die Wege zur Welt werden sich ihm durch den Zauberschlüssel des Enthusiasmus wieder öffnen.

Das Bild der russischen Revolution, ein Bild von gewaltiger Größe und grober Tragik, steht vor aller Augen. Ich habe versucht, es in wenigen Strichen zu zeichnen. Wo das deutsche Proletariat steht, das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Wir geistigen, im eigenen Volke fast in Verbannung lebenden Individuen fühlen uns in revolutionären Dingen dem Proletariat verwandt und zu ihm hingezogen, trotz seiner Masse. Aber wir beten diese Masse nicht an, und wir fürchten sie auch nicht. Bei uns allein ist doch die Zukunft. In den Willen der Geistigen unter den Deutschen ist die Entscheidung gegeben, wie der Weltkampf ausgehen wird, dessen Feuerbrände bereits über unser eigenes Dach hinüberschlagen. Zu ersticken vermag diesen Brand niemand mehr, wohl aber können wir noch immer einen Einfluss darauf gewinnen, wie der Kampf der Klassen, der aus einem versteckten Kampf jetzt zu einem offenen geworden ist, enden wird: in einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft, einer Umgestaltung, deren Wohltaten dauernder sein werden als die Leiden, die der Prozess verursacht, oder mit dem gemeinsamen Untergang der Kämpfenden, im Untergang des Abendlandes.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Geist der russischen Revolution