Der Geist der russischen Revolution

Nichts scheint mir nötiger in den gegenwärtigen Tagen, die vom Getöse des Bürgerkrieges, von dröhnenden Alarmrufen, von den Schlagworten der Massen erfüllt sind und wo eine Liga zur Bekämpfung des Bolschewismus mit höchst untergeordneten Mitteln Sachverhalte zu vermengen trachtet, als auf den Geist eines Ereignisses wie der russischen Revolution hinzuweisen. Denn die russische Revolution erscheint mir, trotz des Medusenantlitzes, das sie uns entgegenhebt, als das Urbild der Revolution schlechthin. Sie greift an das Wesen der Dinge. Sie erscheint mir, trotz des Meeres von Tränen, Blut und Trümmern, das ihren Weg besudelt, als eines der gewaltigsten Geschehnisse der menschlichen Geschichte, gewaltig wie der Zusammenbruch der alten europäischen Zivilisation im Weltkriege, dessen Rückschlag sie darstellt. Sie erscheint mir, welches auch ihr Ausgang sei, den ich mir nicht anders als tragisch denken kann, eben als ein tragisches Ereignis, ein Titanenkampf, dessen Wirkungen die der französischen Revolution weit übertreffen werden. Denn mit ihm betritt eine neue Klasse, das Proletariat, den Schauplatz der Geschichte, aufbegehrend und mit entflammtem rohem, unverstandenem utopischem Geist und schiebt mit einer Fußbewegung das Herbstreisig der alten Staatlichkeit, des alten Machtgedankens und des alten nationalen Herrschaftswillens beiseite. Sie ist Sklavenaufstand im größten Maßstabe, unwiderstehlich in ihren Losungen für jene, die sich zu empören einen Grund hatten, furchtbar für die anderen, die bisher gegen ihre Vorzeichen taub gewesen sind und die sich schließlich im letzten Augenblick mit allen zur Verfügung stehenden Feuerspritzen aufmachen, um den Brand zu dämpfen. Als historisches Ereignis trägt die russische Revolution die Keime ihres Zerfalles nur in sich selber; als geistiges Ereignis ist sie unvergänglich.

Als ich vor einigen Wochen aus Russland zurückkehrte, war die deutsche Revolution schon ausgebrochen. Ich sah die damals noch ruhigen Straßen Berlins in ihrer trägen Ordnung; es war, trotzdem ein unerhörter Umsturz sich bereits vollzogen hatte, nichts Drohendes im Äußeren zu erkennen, als nur eine gewisse Mattigkeit und Freudlosigkeit des Lebens. Nur unter der Oberfläche rührte sich das Fieber, lebte Sorge und erregte Vorahnung der kommenden eigentlichen Krise. Das Auge wird einem geschärft für die Symptome dessen, was kommen muss. Ich behaupte, daß die Revolution in Russland auch bei einem leidlichen Ausgang des Krieges, wenngleich später, gekommen wäre, aber militärische Niederlagen mit ihrem Gefolge von Panik, Meuterei und Lohnkämpfen beschleunigen den Ausbruch, treiben den Gärungsprozess, den Prozess der Auseinandersetzung zwischen den Massen, bis zum Sturz ihrer alten Führer, die nicht weiter wissen, und bis zum Aufstand, der neue Führer wachruft. Krisen wie diese führen vor allem zu einem Zusammenbruch des bisher so selbstverständlichen, summarischen Parteigefühles für das Vaterland. Ich meine nicht das Vaterlandsgefühl, das in allen, auch den sogenannten Internationalisten unter uns lebendig ist, sondern die Bewegung dieses Parteigefühles, seine Vermischung mit früher unterdrückten Interessen. Sie werden vielleicht besser verstehen, was ich damit meine, wenn ich sage, daß heute gleichsam zur Überführung des alten zerschlagenen Vaterlandes in eine neue, sieghafte menschheitliche Form bei uns drei Internationale sich erhoben haben, die schwarze, die rote und die goldene. Die Internationale des Klerikalismus, des Sozialismus und des Kapitalismus. Dass ich hier den Liberalismus nicht mitzähle, hat seinen Grund darin, daß er nur eine Vertuschungsform, eine Abschwächungsform, eine Form der Verflachung in allen dreien ist. Dem Zentrum, das heute auf seine Weise seine Interessen mit denen des deutschen Gesamtreiches am besten durch die Einführung eines provinzialen oder regionalen Partikularismus glaubt sichern zu können, wird von den anderen Gruppen ebenso Landesverrat vorgeworfen, wie der Großfinanz und der Groß-Industrie, die bewusst und von sich aus durchaus logisch und vernünftig auf etwas hinstrebt, was man die Amerikanisierung Deutschlands nennen könnte. Und aus diesen Lagern wiederum erhebt sich gegen die angebliche Vaterlandsvergessenheit der menschheitlich fühlenden Arbeitermassen der gleiche Vorwurf. Wenn wirklich, wie es ja den Anschein hat, ein schwarz rot goldenes Deutschland zustande kommt, so wird es zustande kommen aus einer Art Gleichgewicht dieser drei Internationalen, die jede auf ihre Weise den Krieg überstanden haben. Wir in Deutschland befinden uns gegenwärtig mitten in der Auseinandersetzung zwischen diesen Dreien. Und gerade das deutsche Bürgertum wird von dieser Auseinandersetzung am meisten in Mitleidenschaft gezogen: seine Revolution scheint sich ja beinahe in diesem Nebeneinander der Auseinandersetzungen zu vollziehen. Je nach dem Vorwiegen von erhaltenden oder erneuernden Tendenzen in seinen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen vollzieht sich in ihm die schwarze, die rote oder die goldene Gruppierung. Ich begreife daher sehr wohl seinen Abstand gegen eine Lösung, die ausschließlich rot wäre.


Aber zu billigen ist dieser Abstand nicht! Ich stehe nicht hier, um Abstand und Passivität zu predigen, sondern um von dem Geiste zu reden, der bei politischen und sozialen Revolutionen lebendig ist. Wir wollen den Geist der jetzigen deutschen Revolution verstehen, und er ist mehr als nur Panik, mehr als nur Meuterei, mehr als nur Lohnkampf! Wir sehen, welchen starken Einfluss die Vorkommnisse und Beispiele aus Russland auf sie geübt haben und noch immer üben. Welches ist der Geist der russischen Revolution? Denn so groß auch die Verschiedenheiten der sozialen und nationalen Voraussetzungen zwischen beiden Völkern sein mögen, so scheint es doch, als bestünde zwischen der russischen und der jetzigen deutschen Revolution eine Identität der Beweggründe und der Ziele, die uns als ein großes Problem beschäftigen muss.

Die Frage nach dem Geist der russischen Revolution lässt sich leicht beantworten, zunächst durch einen Rückblick auf die russische Literatur, die große Literatur, die sich etwa durch die Namen Gogol, Dostojewski, Tolstoi vor uns hinstellt, wie auf die kultur- und sozialkritische Literatur eines Herzen oder Mereschkowski; durch die Haltung der legalen und illegalen Presse in Russland seit dem Anfang des vorigen Jahrhunderts, durch eine uns allen mehr oder weniger vertraute geistige Vorgeschichte. Aber bei dieser Vorgeschichte brauchen wir uns jetzt ebensowenig aufzuhalten wie bei der parteipolitischen Vorgeschichte, bei den Taten und Meinungen der Dekabristen, der Nihilisten, der Sozialrevolutionäre oder der jungen bürgerlichen Opposition, die sich seit Jahrzehnten nacheinander um die Gestaltung eines neuen russischen Staates mühten. Bis dahin ist sie nationale russische Angelegenheit. Aber mit dem Auftreten und dem schließlichen Siege einer kleinen radikalen Minderheit, dem Siege der Bolschewisten, in dem die russische Revolution ihr vorläufiges, äußerstes, denkbares Ziel erreicht hat, ist sie allerdings, im guten oder im bösen, eine internationale Angelegenheit geworden.

In dieser Partei der Bolschewisten erscheint tatsächlich in der Gegenwart der Geist der russischen Revolution ausschließlich verkörpert. Dieser Geist ist vorwärtstreibend, er warf und wirft noch immer weiter ein Maximum von revolutionären Antrieben in die Massen, er wagt es, die Dinge bei neuen Namen zu nennen, er ließ an Vehemenz, an Rücksichtslosigkeit, an Unerschütterlichkeit und Klarheit des Willens alle anderen Parteien hinter sich, er legt das Alte mit einem Radikalismus nieder, der sich über Tod und Leben der Menschen einfach hinwegsetzt, er sucht das Neue, das ihm vorschwebt, zu schaffen, trotz ungeheurer Hindernisse. Er arbeitet unermüdlich, er kämpft löwenhaft und er hat rein dank der Macht seines Gedankens, die da war, noch ehe die Macht der Maschinengewehre und der bewaffneten Massen ihm den Nachdruck gab, das Unerhörte fertiggebracht, seine Hand auf den Staatsmechanismus eines europäischen Riesenreiches zu legen. Er fordert alle Welt in die Schranken, er macht die Staatsmänner der alten und der neuen Welt mobil, ganz zu schweigen von den hunderttausend kleinen Beamten in ihrem Gefolge. Sie haben den Geist des Bolschewismus gemerkt in dem Aufruf der Räteregierung vom 9. November 1917 an alle unterdrückten Völker. Sie haben ihn gemerkt in Brest-Litowsk, in der kalten und schonungslosen Antwort an Wilson, der das arme Russland der Liebe des kapitalistischen und demokratischen Amerika versicherte, in der schroffen Antwort an die Neutralen, die gegen den roten Terror in Russland protestierten. Dieser Geist der russischen Revolution ist der Geist eines staatlichen, sozialen Utopismus, verbunden mit dem Geist einer orientalischen, rasenden Rachsucht, ein Geist, der daherstiebt wie Feuer, und überall stille Gluten entzündet.

Wir hören ihn ja täglich, den Warnungsruf gegen den Bolschewismus, auch aus Völkern, die ihn, scheint's, noch gar nicht zu fürchten haben, selbst aus Amerika. Man erzählt Ihnen von den Scheußlichkeiten des Terrors, von der maßlosen Unordnung und dem Elend des gegenwärtigen Russlands. Ich selbst habe dieses Russland gesehen und habe es ganz gewiss in meinen Schilderungen nicht liebenswürdiger, nicht harmloser gemacht, als es ist. Aber das ist nicht der Bolschewismus in seiner Idee, sondern es ist der Bolschewismus plus Russland, plus Russland in seiner Zerrüttung nach einem überlangen und verlorenen Kriege, in seiner Zerrissenheit, Russland mit den sozialen Folgeerscheinungen des Weltkrieges, die einen Bolschewismus von oben notwendig gemacht hätten, wenn er nicht von unten gekommen wäre. Ebenso ist das, was jetzt in Berlin und anderen Städten unseres leidenden Vaterlandes vor sich geht, allerdings Bolschewismus, Bolschewismus als Versuch, die neue sozialistische Ordnung herzustellen, und zwar so radikal, daß sie jeden Rückfall in die alte Ordnung ausschließt. Ein Versuch, der in Deutschland andersherum den Generalkommandos oder den Regierungspräsidenten zugefallen wäre.

Der Bolschewismus ist die Peitsche, die alle antreibt, über die Möglichkeiten einer besseren Zukunft nicht nur sehr ernsthaft nachzudenken, sondern auch diese Möglichkeiten an einer notwendigen neuen Komposition des gesellschaftlichen Lebens zu versuchen. Bolschewismus ist also der Sozialismus in seinem Aufmarsch zur sofortigen aggressiven Verwirklichung. Bolschewismus ist Kommunismus, und nur der Kommunismus, die Urform des modernen Sozialismus, ist für solche radikale Verwirklichungen. Wollen Sie wissen, was Kommunismus ist, so lesen Sie seinen Koran, das Kommunistische Manifest; jeder kann es sich für ein paar Groschen kaufen. Dieses Manifest ist entstanden, als ein Kongress des alten Bundes der Kommunisten, der im Jahre 1847 in London stattfand, die Männer Marx und Engels mit der Abfassung eines theoretischen Parteiprogramms beauftragte. Dieses Programm umfasst die Lehre von den Bedingungen des Sieges der Arbeiterklasse. Es ist ein höchst besonnener Feldzugsplan gegen die industrietreibende, kapitalistische bürgerliche Gesellschaft. Es ist nicht mehr Anklageschrift und Streitschrift, sondern Ansage und Entwurf des Klassenkrieges, Kriegsplan gegen den Mammonismus. Das Kommunistische Manifest entstand in dem industrialisierten England der 1840 er Jahre, dem England der Kinderarbeit, dem England des Slums und der Dickensschen Jammerbilder, dem England, dessen obere Klassen seit Jahrhunderten von den Reichtümern Irlands und Indiens, von der schonungslosen Ausbeutung der unteren Klassen ihres eigenen Volkes gelebt haben. Vor der Geschichte wird das Kommunistische Manifest einst als die Axt erscheinen, die an die Wurzel des englischen Imperialismus gelegt wurde, wie an die Wurzel jedes aus Eigennutz entstandenen Imperialismus. Der Weltkrieg von 1914 hat sich immer mehr als der Kampf eines nachahmenden Imperialismus gegen einen längst gefestigten, zehnfach überlegenen Hyperimperialismus erwiesen. Als Kampf gegen den außerordentlich mächtigen und selbstsicheren Imperialismus und Kapitalismus der Ententeländer war er also ein Kampf mit untauglichen Mitteln. Als die wuchtigere Waffe, die diesen Baum einst fällen wird, ist der Geist des Kommunistischen Manifestes übriggeblieben, diese Waffe, die vor Jahrzehnten auf englischem Boden von dem gelehrten und scharfsinnigen Juden Marx aus Trier und dem vorausschauenden und vitalen Engels aus dem puritanisch-kaufmännischen Elberfeld geschmiedet wurde. Der Kommunismus ist für Karl Marx eine Wissenschaft gewesen, für seine Schüler eine Offenbarung, für die Massen, die nicht erst seit vier Jahren, sondern seit zwei Menschenaltern unter der Herrschaft der Maschine und der Materie seufzten, ein Glaube, der Ausdruck ihrer Menschheitshoffnung und der Liebe zu ihren Kindern, eine Stimmung des Kontrastes zu der bedrückenden Umwelt. Der Sozialismus, erst durch Karl Marx zur Wissenschaft geworden, war bei Thomas Morus, seinem großen Vorgänger, ein Sinngedicht, eine Utopie; er war bei Plato reine Spekulation, er war bei diesem griechischen Aristokraten eine gleichsam im luftleeren Raum aufgebaute Theorie vom besten Staat. Und diese Theorie ist nach allen den geschichtlichen Wandlungen und Drehungen, die sie durch die Reihe der utopistischen Schriftsteller, zuletzt noch der französischen unpraktischen Sozialisten erfahren hat, in der Verfassung der russischen Räterepublik zur Tat geworden. Eines ist er allerdings: die abgesagte Feindschaft gegen den Kapitalismus, und er bekämpft diesen auf seinem eigenen Boden, dem Boden einer scheinbar rein materialistischen Lebensauffassung. Gerade weil er, wie dieser, den Boden einer materialistischen Geschichtsauffassung als gegeben annimmt, hat er den Mammonismus in seiner Menschenfeindlichkeit am schärfsten erkannt und entlarvt. Ich denke, wir sind uns darüber einig, daß der Kapitalismus nicht nur eine ökonomische Tatsache ist, nicht nur ein ökonomisches Gesetz, nicht nur die Physik eines ganzen sozialen Hebelsystemes von Nutzbarmachungen und Ausbeutungen, sondern auch eine psychologische Tatsache, die unserer modernen Zivilisation neben dem Stolz auf ihre technischen Errungenschaften, auf ihre Schnellbahnen, auf ihre kolonialen Expeditionen, auf ihre Rekordziffern der Gussstahlerzeugung jene Leere und jenen materiellen Zug gegeben hat, den die Geistigen aller Generationen mit zunehmendem Pessimismus beklagt haben. Er ist der alte, nur tausendfach brutalisierte und zugleich raffinierte Geist des Wuchers, gegen den schon der Heilbronner Verfassungsentwurf der aufständischen fränkischen Bauern von 1525 seine denkwürdigen zwölf Sätze gerichtet hat. Derselbe Geist, der sich seitdem aus halb patriarchalischen Formen, wie wir sie bei uns in Deutschland noch vielfach finden und die uns den Blick für das trüben, was draußen ist, zu jener Dollaranbetung und Machtverehrung gesteigert hat, die durch ihre Übermacht von puren Geschäftsinteressen ein Land wie China zu dem zivilisierte, was es heute ist, und Europa mit allen seinen Schätzen an Geist und Schönheit dahin führte, wo es sich jetzt befindet, nämlich in den Abgrund.

Ich nannte bereits die Verfassung der russischen Räterepublik. Sie ist das zweite Dokument, das uns über den Geist der russischen Revolution Aufschluss gibt. Die Sowjets der Arbeiter-, Bauern-, Soldaten-, Matrosen- und Kosakendeputierten in Russland, jene vielgenannten russischen Arbeiter- und Soldatenräte, sind nicht die Erfindung Lenins oder überhaupt eines einzelnen Hirnes im Verlaufe der russischen Revolution. Nach einer Erläuterung Lenins sind sie zwar den Einrichtungen der Pariser Kommunisten von 1871 nachgebildet. Sie sind in Russland gleichsam von selbst entstanden, sozusagen aus Aufläufen, aus regellosen Zusammenkünften und Ausschüssen der Arbeiter und Soldaten, die plötzlich vor der Frage standen, eine willenlos gewordene Fabrik, ein Gaswerk, ein Warenhaus, eine Eisenbahnstation, eine Stadtverwaltung in die Hand zu nehmen wie Riesenspielzeuge, die allerdings rasch durch das Zugreifen plumper Hände zu ruinieren sind, und doch mussten sie in die Hand genommen werden, wenigstens so lange, bis sie vom Geist eines neuen Wirtschaftsaufbaues durchflössen waren. Die Räte waren die Formen der revolutionären Kontrolle, die die Massen zunächst über die konkreten Organe der Arbeit und des Zusammenlebens, über Fabriken und Kommunen, über Gesellschaften und Verbände, über militärische oder wirtschaftliche Einheiten auszuüben begannen. Aber sie waren nicht nur Ausdruck des Misstrauens, sondern auch Beginn der Umgestaltung. Auch die bisherige alte Gesellschaft kennt ja die Form der Räte in ihren Kollegien und Aufsichtsräten, in ihren Gemeinderäten, Staatsräten, Senaten, die aus Kontrollorganen der zur Macht gelangten bürgerlichen Idee über feudale Einrichtungen entstanden sind. Die Räte der Arbeiter entstanden in Russland zuerst in der Revolution von 1905. Sie verschwanden wieder und waren sofort wieder da, als sich die von der liberalen Bourgeoisie der Reichsduma mit Hilfe der Entente eingeleitete Revolution im März 1917 außerstande zeigte, die Führung der russischen Massen zu übernehmen. Der berühmte Petersburger Arbeiter- und Soldatenrat vom Frühjahr 1917 war noch ganz in den Händen der Mehrheitssozialdemokratie, der sogenannten Menschewiki. Er war alles in einem: Massenklub, Speiseanstalt und rudimentäres Parlament, Ansatz einer National-Versammlung, teilweise eine Arbeitsund Produktenbörse, Auflauf in Permanenz, Windmühle aller revolutionären Wallungen und Stimmungen, von denen des „Krieges bis zum Ende“ bis zur internationalen Verbrüderung; Organ der auswärtigen Politik im Verkehr mit den Agenten der Entente wie der Mittelmächte und Initiator der Stockholmer Friedenskonferenz. Es war der Tummelplatz aller geborenen Redner, Forum des Volkes, Richterstuhl, regierender Mehrheitsfaktor, Olymp, der mit Maschinengewehren donnert, Pathos der versteckten Konterrevolutionäre wie Kerenski, und Pathos der Kanaille . . . und er war doch zugleich der Kern der neuen Staatsmacht.

Es dauerte ein ganzes Jahr, bis aus diesem Chaos das politische System der Räte sich herausschälte, als die Form der Diktatur des Proletariats, als die Form, in der nach ihm die Arbeiter Europas, in Deutschland wie in England, begonnen haben aufzumarschieren. Der Gedanke der Räte ist, wie seine russischen Verfechter sagen, von der sinnreichen Einfachheit der Urzelle, des Kristalles. Die in der Fabrik, in der Stadtgemeinde, im Heer, auf dem Dorfe geschaffenen Räte zu einem System zu verbinden, ergab sich plötzlich als die einfachste Lösung der Frage, mit welchen Mitteln und Organen der Wille jener Volksmassen durchzuführen sei, die in den Räten vertreten sind. Die Räteregierung, wie sie in Russland jetzt besteht, ist alles andere als eine demokratische Regierungsform. Sie ist die reinste Form der Klassenregierung. Sie ist nicht Parlament, sondern Belagerung. Sie macht sich anheischig, auf ihre Weise auch das Problem der Bureaukratie, der Verwaltung eines Reiches zu lösen, das Problem, das in der bürgerlichen Demokratie anscheinend unlösbar war. Wir wollen diesen Anspruch dahingestellt sein lassen; jedenfalls halte ich die Diktatur der Räte für einen Durchgangspunkt auf dem Wege, der zu einer Ergänzung und Erneuerung der Bureaukratie durch die Arbeiterelemente führen wird.

Der begrenzte Umfang meiner Ausführungen macht es mir unmöglich, hier eine ganze Darstellung der russischen Räteverfassung zu geben und sie mit der eingehenden Kritik zu erörtern, die sie fordert. Nur so viel lassen Sie mich sagen: die vom fünften Allrussischen Rätekongress im Juli 1918 in Moskau beschlossene Verfassung der russischen Räterepublik bildet zusammen mit der vom dritten Rätekongress im Januar 1918 proklamierten Erklärung der Menschenrechte, oder nach offiziellem Wortlaut, der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes, das Grundgesetz der russischen Sozialistischen Förderation Sowjetrepublik. Sie besteht aus sechs Abschnitten: erstens jener Erklärung der Menschenrechte; zweitens der allgemeinen Bestimmungen über die Funktionen der Räte und deren Organe; drittens über den Aufbau der Sowjetregierung, deren oberste Instanz nicht ein Präsident ist, sondern der Allrussische Rätekongress, der sich jährlich mindestens zweimal versammeln muss, während in der Zeit zwischen den Sessionen der Zentral-Exekutivausschuss an seine Stelle tritt mit dem Rat der Volkskommissare als Spitze und mit den ihm untergeordneten 18 Kommissariaten als ausführende Organe; viertens über das Wahlrecht; fünftens über das Budgetrecht; sechstens über die Hoheitszeichen wie Wappen und Flagge.

Das Dokument der Räte Verfassung, das jetzt an allen Schulen Russlands gelehrt wird, scheidet sich deutlich, sogar stilistisch, in zwei Hauptteile, einen aktuellen, der der Liquidation des Weltkrieges gewidmet ist, und einen konstitutionellen. Der Abschnitt I ist gleichsam das kondensierte Protokoll des dritten Rätekongresses, der im Januar 1918 stattfand, des ersten, der sich nach den heißen Anfangsmonaten der zweiten Revolution, im Angesicht des Brester Friedens, mit einer Formulierung der Grundlagen der Revolution befasste. Er proklamiert in Worten, die von der Tribüne der Volksversammlungen gleichsam in die Sprache der Gesetzgebung überfließen, die Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Dabei kein Wort mehr von der sentimentalen Rousseauischen Gleichheit der Menschen. Kein Wort der Schonung gegen die Angehörigen einer anderen Klasse als der des Proletariats. Hart und unversöhnlich, mit einer ganz anderen Geste als jene, mit der einst die französische Revolution die Menschenrechte ausrief, zieht er den Trennungsstrich zwischen den Typen Mensch und Unmensch, weist er mit misstrauisch und drohend erhobener Faust in das Gesicht des Nichtproletariers, will sagen in das Gesicht der ganzen bisherigen abendländischen Zivilisation. Er dekretiert die Aufhebung alles Privateigentums an Grund und Boden, den Übergang der Fabriken und der sonstigen Produktions- und Beförderungsmittel ohne Entschädigung in den Besitz des Arbeiter- und Bauernstaates, dekretiert die allgemeine Arbeitspflicht, die Bewaffnung der Werktätigen und die Entwaffnung der Besitzenden. Der Absatz d im zweiten Artikel lautet dann: ,,Als ersten Schlag gegen das internationale Bank- und Finanzkapital betrachtet der dritte Rätekongress das Rätegesetz über die Annullierung der von der Regierung des Zaren, der Großgrundbesitzer und des Bürgertums aufgenommenen Anleihen und gibt der Hoffnung Ausdruck, daß die Räteregierung unbeugsam diesen Weg weiter verfolgen werde bis zum endgültigen Sieg der internationalen Arbeitererhebung gegen das Joch des Kapitals.“ Weiter der fünfte Punkt des dritten Artikels: ,,Zu diesem Zweck besteht der dritte Sowjetkongress auf dem völligen Bruch mit der barbarischen Politik der bürgerlichen Zivilisation, die auf die Knechtung Hunderter von Millionen der werktätigen Bevölkerung in Asien, in den Kolonien überhaupt und in den kleinen Ländern den Wohlstand der Ausbeuter unter wenigen auserwählten Nationen gründete.“ Dieser hier skizzierte erste Abschnitt der russischen Räteverfassung, ausgesprochen von der ganzen Regierungsmacht eines ehemaligen und künftigen Großstaates, ist in Posaunentönen das Signal des Klassenkrieges, der nicht eher enden wird, als bis alle Reiche dieser Welt, von dem hochkapitalistischen Amerika bis zu dem auf Kuliarbeit gegründeten China und Indien neue Formen ihres Bestandes gefunden haben werden. Er ist, wie ich vorhin sagte, die Aufhebung des Rousseauischen Naturrechtsevangeliums, aber auch seine Erfüllung in einem: er ist Rousseauisch nur noch Völkern, Kontinenten gegenüber, er sät, sagen wir das offen, um eines fernen Idealbildes willen, satanischen Hass, unsäglichen Jammer, er bringt, wie das junge Christentum, das Schwert um der künftigen Palme willen. Seit dem Tag, da der Draht den Völkern diesen Aufruf übermittelte, musste von den Börsen und Kabinetten von London, Paris, Neuyork und Berlin die Vernichtung dessen beschlossen werden, was Räte heißt, begann die Leidenszeit des heutigen, von einer ganzen Welt blockierten Russland. Seit jenem Tage begann in Deutschland die Agitation für den Kommunismus; seit jenem Tage aber auch legte sich auf die glänzende Bildsäule des Imperialismus und des Kapitalismus der erste Schatten des Sonnenunterganges. Die Herren der Börse wissen es schon, sie sind nicht mehr Selbstzweck, sie sind nur noch die Vorläufer eines neuen Menschen, der eines Tages an ihrer Stelle auf den Knopf des Räderwerkes drücken wird, das sie jetzt noch so vollendet beherrschen. In ihren eigenen Reihen beginnen sie sich vor den Abtrünnigen und Umkehrenden nicht mehr sicher zu fühlen.

Der zweite, ausführliche Teil der Räteverfassung mit den übrigen fünf Hauptabschnitten ist erst ein halbes Jahr später beendet worden, als der einleitende Teil, der in seinen barschen Worten für alle Zeiten die kämpferischen Energien des Augenblicks seiner Entstehung festhält. Dieser zweite Teil ist Arbeit bei der Studierlampe, entstanden aus der Beratung von Experten des Marxismus; des weitblickenden und odyssisch verschlagenen Lenin, des praktischen Rykow, des kultivierten Bontsch-Brujewitsch, des Juristen Reisner, des Historikers Pokrowski. Es ist erkaltete, trockene Kombinationsarbeit, einfach und sinnreich wie ein Geduldspiel, oder wie das Statut einer Aktiengesellschaft. Unhistorisch, antihistorisch, nicht mehr neunzehntes, achtzehntes oder siebzehntes Jahrhundert. Es gibt den Schlüssel des Rätesystems, das sich jetzt, vom Dorfsowjet und vom Fabriksowjet bis zum Zentralkongress der Räte über ganz Russland ausbreitet, eines äußerst elastisch und anpassungsfähig gedachten Systems, das so, wie es hier entworfen ist, über alle Welt gedacht ist, bis zu den Menschen Amerikas und Indiens; der Essig, in dem sich die alten historischen Staatengebilde einst auflösen sollen. Zwanzigstes oder einundzwanzigstes Jahrhundert vielleicht; die Verfassung des Tausendjährigen Reiches.

Ich habe hier zunächst mit allem Nachdruck die grundsätzliche Bedeutung des Gedankens der Räteverfassung herausstellen wollen. Mag man gegen die Losungen des Kommunismus und des Rätesystems protestieren wie gegen ein zersetzendes Gift: nichts beweist so sehr wie diese Proteste die starke chemische Kraft, die selbst einer geringen Dosis dieses Medikamentes innewohnt. Dass die Wirklichkeit der Räte allerdings keineswegs, weder bei uns noch auch in Russland, dem Idealbilde entspricht, das kann ich nun erst und ebenso offen sagen. In der Wirklichkeit ist bei den Räten vor allem die Grenze gegen die Anarchie, deren absolute Aufhebung sie sein sollen, noch nirgends klar gezogen, noch ruht in ihren jetzigen infantilen Formen nirgends eine Versicherung gegen Untergang und Zerstörung an Stelle des Aufbaues, dem sie dienen sollen. Es müsste nicht Russland sein, wenn nicht in den zahllosen Räten, die dort seit einem Jahr zu funktionieren begonnen haben, alles zu finden wäre, was an dem früheren Russland beanstandet wurde: wenn nicht hier neben den Idealisten und Arbeitenden, Fanatiker und Schurken, Bestechliche und Faulenzer, Unwissende und Rachsüchtige ihr Wesen trieben. Wenn nicht die Unausgeglichenheit dieser örtlichen Organisationen Widersprüche, Reibungen, Gegensätze hervorkommen ließe und den Aufbau eines normalen Berufslebens verzögerte; wenn die Fragen der Kompetenzen und der Schichtungen klar wären, wenn hier alle Leute von selbst ihre bescheidene Pflicht täten. Das ganze Räderwerk des Rätesystems in Russland mit seiner neugebackenen, noch ungeübten, oft despotischen, schmarotzerischen und zerfahrenen Bureaukratie, mit seiner Überorganisation und seiner Starrheit entbehrt vor allem der kundigen Mithilfe einer an die Technik der Verwaltung, auch der Selbstverwaltung, bereits gewöhnten Intelligenz. Vielleicht ist dieses ganze Räderwerk, so wie es jetzt in Russland dasteht, und wie es in Deutschland nachgeahmt worden ist, mit allen seinen Ungereimtheiten und Unmöglichkeiten dazu verurteilt, noch einmal untergepflügt zu werden, so wie der erste Arbeiterrat nach der Revolution von 1905. Aber seine Idee wird nicht wieder aus der Geschichte der Revolutionen verschwinden, in welchem Lande sie sich auch vollziehen mögen. Sie ist wie dazu geschaffen, eines Tages aus den dumpfen Formen der Massen- und Sklavendiktatur hinüberzuführen zu den Formen einer mit einem Minimum von Apparat arbeitenden Diktatur der Vernünftigen. Sie ist wie geschaffen zur Lösung größter politischer Probleme, zu Konstruktionen und Überbrückungen, die durch keinen Eifer des Nationalismus zu bereinigen sind. Ich nenne nur, als eine von sehr vielen, die Frage der politischen Binnengrenzen Europas. Fragen wie die des Rheinweges, der Scheidemündung, des Donauweges, des Weichselweges, des Wolgaweges, der Ostsee, der Adria, des Schwarzen Meeres tragen ohne eine grundsätzliche Form der Regelung, wie sie durch den Ausdruck der internationalen Solidarität in den Räten gegeben ist, den Keim immer neuen Zankes der Völker in sich und werden immer neue Nationalitäten auf den Plan rufen, die eigens entdeckt werden, um hier ihre Energien in die Wagschale des Kampfes zwischen großen Interessengruppen zu legen, deren Kerne kapitalistisch, deren Drahtzieher an den Plätzen des Börsenspieles zu suchen sind.

Wir wollen gewiss in der heutigen Betrachtung die noch nirgends abgestreiften Unvollkommenheiten des Rätesystems nicht übersehen, aber auch den Fehler vermeiden, uns an die abstoßenden Nebenerscheinungen der russischen Revolution zu halten. Wir suchen das Wesentliche. Nicht die Individuen übler Mitläufer sind typisch, sondern die Führer, die Männer der Idee, die in dieser Umdrehungszeit mit einer Entschlossenheit ihr Ziel im Auge haben, die des Opfergeistes der Vorgänger würdig ist. Wenn aus einer allgemeinen Bücherverbrennung dieser Zeit nur das Kommunistische Manifest und die Räteverfassung übrigblieben, so ließe sich aus ihnen die ganze Revolution wiederaufbauen. Das ist das Entscheidende. Und diese beiden Dokumente sagen eines: Krieg zwischen Kapital und Arbeit! Nirgends ist das Problem dieses Krieges so klar gestellt wie in diesen beiden Urkunden.

Stellen Sie sich vor, was geschieht, wenn die russische Revolution verliert (und sie wird, aus äußeren Umständen, wahrscheinlich zusammenbrechen): eine ungeheuere Stärkung jenes Imperialismus, der jetzt bei den englischen Parlamentswahlen den Sieg des Lloyd George entschieden hat, den Sieg des Rentier-Imperialismus um Clemenceau, den Sieg des Trustkapitales und des Tay lorsy stemes, nicht nur in Amerika. Stellen Sie sich vor, was es heißt, daß die Entente sich heute an dem Gedanken berauschen kann, ganz Deutschland, Österreich, Ungarn, die Balkanländer, Polen, das europäische und asiatische Russland, Vorderasien bis an die Grenzen Indiens, selbst China zu beherrschen. Zwar warnen schon heute die Vernünftigen, auch in den siegreichen Ländern, vor den Gefahren des rohen Machtfriedens. Einst fühlten in Deutschland viele das gleiche, als der unbefriedigende Friede von Brest-Litowsk geschlossen wurde; die Widerstandslosigkeit des geschlagenen Russlands zwang zur Besetzung immer weiterer Gebiete, zu immer gewagteren, steileren Abenteuern in der Ukraine, im Dongebiet, in der Krim, im Kaukasus. Aber wie damals die Stimmen der Besinnung sich zwar hören lassen durften und dennoch ohne Wirkung blieben, so ist es heute auf jener Seite, wo die Männer der Macht schon in ihrer Mitte einen Akademiker der Idee wie Wilson als unbequem empfinden und sich nur mit einer ironisch kühlen Höflichkeit gegen ihn bereit erklären, den Völkerbundgedanken zu erörtern. Ihre Hintergedanken liegen selbst im Schweigen zutage. Es sind Gedanken an Beute und Unterdrückung, geboren aus einer Frechheit des Herzens, die nach Friedensverhandlungen nicht verlangt um des Friedens willen, sondern nur, um sich an der Demut eines geschlagenen, in der Zerrissenheit verächtlich gewordenen Gegners neue Triumphe zu bereiten. Mag es denn so kommen! Sie tragen die Keime des Zusammenbruchs schon in sich. Um so früher sehen wir, vielleicht in Monaten schon, die Arbeiter von diesseits und jenseits des Rheins wieder vereinigt, unsere Grenzen im Osten wie im Süden wieder hergestellt. Wir werden wieder frei sein, nicht um zu nehmen, was uns nicht gehört, sondern weil unsere Freiheit auch den anderen Völkern, die wie wir ihre Freiheit erst noch erringen müssen, heilig ist! Zuerst die Freiheit, und dann erst die Ordnung!

Soll das deutsche Volk, das diesen Krieg mit übermenschlichen Anstrengungen geführt und ihn verloren hat, scheinbar, weil es ihn entweder zwei Jahre zu spät oder ein Vierteljahr zu früh einstellte — soll das deutsche Volk die Hände in den Schoß legen und den Dingen ihren Lauf lassen? Soll es, wie ein geprügelter Hund, die geringste der Beleidigungen hinnehmen, die ihm jetzt von Männern ausgesonnen werden, die sich noch mit dem Flitter und der blanken Macht eines Zeitalters schmücken, das nach diesem Kriege ein für allemal gerichtet ist? Ja, es muss sie so hinnehmen, wo nicht bereits eine neue unverletzliche und abweisende Würde in ihm lebendig wurde, die Würde des Unrechts, das in seiner Niederlage liegt, mag es noch so stark den göttlichen Blitzstrahl, der es niederwarf, als Strafe seiner eigensten Schuld und Vermessenheit empfinden. Der Geist der Augusttage von 1914 war nicht nur der wüste Machtrausch eines zur Weltherrschaft drängenden Volkes. In ihm ergriff uns noch mehr die Ahnung eines geistigen deutschen Schicksals, einer Bestimmung. Uns Deutschen ist die ungeheuere Aufgabe zugewiesen — ich werde nüchterne Worte gebrauchen — , nicht an der Spitze der Völker zu marschieren, sondern überhaupt zu marschieren. Dasselbe zu tun, was der Mensch der russischen Revolution will und gewollt hat und was dieser wegen der Unzulänglichkeit und Plumpheit der Mittel vielleicht in den gewaltigen Anläufen seiner jetzigen Revolution noch nicht wird vollbringen können. Er setzte auf die Weltrevolution seine Hoffnung, roh und kosakisch. Auch wir setzen unsere Hoffnung, unsere einzige, große Hoffnung auf die Revolution der ganzen Menschheit, jene Revolution, die in Völkern und Kontinenten denkt wie die Verfassung der Räterepublik, sei es selbst durch neue Leiden, so doch in einem Geiste, der im Hass nicht minder stark ist als in der Liebe.

Und das deutsche Bürgertum? Es steht in diesen Tagen hinter Ebert und Scheidemann und der sozialistischen Mehrheit und bereitet sich doch gleichzeitig vor, in der Nationalversammlung diese selbe Regierung, die ihm trotz alledem nicht ganz geheuer ist, zu Fall zu bringen. Die Mehrheit, zu der es sich im Augenblick zählt, ist ein gar merkwürdiges Konglomerat von höchst verschieden gearteten Minderheiten. Mir scheint, das deutsche Bürgertum ist ein wenig feige und unaufrichtig. Sonst würde es sich nicht nur für den Augenblick hinter eine Führung stellen, die freilich marxistisch ist, aber den großen Fehler begeht, ihre Versöhnung mit dem Bürgertum aus Gründen der Gelegenheit vor den endgültigen Sieg über den Kapitalismus im eigenen Lande zu verlegen. Es würde entweder ehrlich kämpfen oder sich ehrlich anschließen. Für den Gedanken der Revolution aber wäre es weit besser, die Versöhnung zwischen Proletariat und Bürgertum erst dann und mit allen Mitteln anzubahnen, wenn sein Sieg gesichert ist. So unfertig, wie die Dinge heute stehen, verbündet sich das Bürgertum doch mit dieser Regierung nur, um durch sie der roten Internationale Zügel anzulegen, um ihr Vorwärtsdrängen zugunsten der schwarzen oder der goldenen Internationale zurückzuhalten. Ich stehe hier als einer aus. dem Bürgertum. Ich will nicht Proletarier sein und nicht das ganze deutsche Volk, wie in Russland, zu Proletariern werden sehen, sei es in einer Gleichheit des Elends oder des Glückes. Erstrebenswert scheint mir ein Welt-Bürgertum des deutschen Volkes, ein innerlich anständiges und wohlgebildetes Volk, dem ehemalige Großherzöge wie ehemalige Demagogen mit der gleichen Grandezza angehören und das in seinem einfachsten Werktätigen daheim oder auf fremdem Boden ein Träger des neuen Europas ist.

Aber dieses frische Bürgertum, dem die unabhängig Denkenden sich zuzählen, das heute erst eine sehr kleine Partei von unabhängigen Demokraten oder unabhängigen Sozialisten ist, wird nicht entstehen ohne den Untergang des alten Bürgertums, das schon 1848 auf halbem Wege stehenblieb, das sich im vergangenen Reich auf die Militärmacht gestützt hat, statt auf die Arbeitermassen, und das sich heute im besten Falle auf die Deklaration der Menschenrechte von 1789 besinnt. Welch ein treuherziges Aufatmen geht doch heute durch das Bürgertum, daß sich die Häuser Mosse, Scherl und Ullstein in Berlin, diese drei ganz besonders großen und heiligen Palmenkübel im deutschen Blätterwalde, diese drei so besonders wichtigen Stützen der modernen deutschen Geisteskultur, wieder in den Händen ihrer bisherigen Besitzer befinden und sich weiterhin der vollen Freiheit erfreuen, in Massenauflagen dem deutschen Volke in Berlin und draußen ihre angebliche unparteiische und liberale öffentliche Meinung mitzuteilen, dem deutschen Volke wie bisher das Selbstdenken zu ersparen, und ihm in diesen Tagen die Notwendigkeit vorzutragen, die Waffenstillstandsbedingungen der Herren Foch und Erzberger mit möglichst wenig Erregung hinzunehmen! Das Problem des Kampfes gegen den Kapitalismus in seinen Formen des privaten und staatlichen Eigennutzes unbedingt und mit grandioser Härte aufgestellt zu haben, das ist der unvergängliche Primat der russischen Revolution, das ist das Verdienst des geschmähten Bolschewismus, das ist sein Utopismus der Tat. Dieser Geist in seiner vollen kosmopolitischen Bedeutung muss die wahren Träger der deutschen Revolution beseelen, wenn nicht alles, was sich jetzt bei uns vollzieht, im Missverständnis und im Sumpfe enden soll. Der Zusammenbruch Europas wird sich vor unseren Augen noch vollenden, aber zum Wiederaufbau ist schon der Grund gelegt. Lasst uns den Gedanken der Revolution tief verstehen und aus ihm die Hoffnungen der Zukunft schöpfen!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Geist der russischen Revolution