Das revolutionäre Russland und die Deutschen

Der Mensch unterscheidet sich dadurch vom Tier, daß er sich im Elend mit anderen Dingen zu trösten vermag, wo jenem ein wenig Futter, Schlaf und Wärme schon genügen. So tröstet sich der Mensch über das Hässliche, das ihn umgibt, durch die Übertreibung dieses Hässlichen in die Groteske; so bekommt er es fertig, auf der Wacht vor dem Feinde sich in Träume über den Sternenhimmel über ihm und das Glitzern der Tannen einzuspinnen; so setzt er sich über die Verdunkelung unserer Städte und alles was sein Herz dabei an Kummer bedrücken mag, hinweg durch das bewundernde Stillstehen vor dem geheimnisvollen Spiel der Baumschatten an einem der großstädtischen Häuser, die sonst immer im grellen Glanz der Bogenlampen standen. Hier in diesem Kreise von Zuhörern, die nach dem Sinn fragen, den das revolutionäre Russland für uns als deutsche Menschen habe, — und wir fühlen ja überall, daß eine solche Beziehung des Sinnes vorhanden ist — fühle ich mich beinahe veranlasst, etwas wie eine nachträgliche Entschuldigung auszusprechen für einen Aufsatz, den ich kürzlich über Moskau veröffentlichte und der mir leidenschaftlichen Beifall eintrug, weil ich von dieser verwilderten Stadt ihre Schönheit geschildert hatte, — die außerordentliche Schönheit ihrer Verwilderung. O, es wäre mir ein Leichtes, den Hymnus auf die Schönheit eines Landes fortzusetzen, dessen geringe Ansätze von Zivilisation im vollen Zerfall begriffen sind, auf die wilde Naturschönheit des jetzigen Russlands, in dem der Mensch wieder schweift wie das Tier im Urwald, mögen auch der Urwald die Häusermeere von Petersburg und Moskau sein, dieser Millionenstädte, die durch den Krieg und die Revolution mehr als die Hälfte ihrer früheren Bevölkerung verloren haben. Auf deren Straßen Gras wächst; deren Häuser von Kugelspuren gestreift, deren Paläste verödet sind, deren Fabriken still stehen, deren Warenhäuser von Horden armer Menschen als Obdach benutzt werden. Es ist wirklich, als kehre die Natur mit ihren Gräsern und Büschen, ja auch mit ihren Vogelschwärmen und ihren Raubtieren in das Reich des Menschen zurück, aus der einst der rodende Verstand sie vertrieben hat; jener menschliche Verstand, der das Gefüge von Staaten aufbaut und in diesen Staaten jedem Menschen und jedem Ding seinen Rang und seinen Dienst anweist. Wir haben plötzlich keinen Grund mehr, uns über grelle Odolplakate in der Landschaft zu beschweren, hören nicht mehr in der Einsamkeit des Waldes den fernen Ton der Fabrikpfeife. Der Mensch hat gegen die Natur eine Schlacht gekämpft, und er ist unterlegen. Und er zahlt seine Überhebung von früher, den Stolz auf seine glänzenden Armeen, seine sinnreichen Maschinen, seine kühnen Herrschaftspläne, die sich weit über Meere und Festländer erstrecken, mit Gefühlen der Buße; er erleidet seine Niederlage in unbeschreiblichem Elend, in Hunger und Heimatlosigkeit, in Kämpfen von Bruder gegen Bruder, in Entflammungen des Hasses, in Kriegen, die immer neue Kriege gebären und sich in Revolutionen umsetzen, in einer Vermehrung der rohen Gewalt und der Gefängnisse und Lazarette, statt in ihrer Verminderung.

Über das, was ich in den Monaten meines Aufenthaltes in dem revolutionären Russland gesehen habe, würde ich Ihnen vor einem Vierteljahre vielleicht noch mit der philosophischen Ruhe des unbeteiligten Zuschauers haben sprechen mögen. Aber ich bin in ein Deutschland zurückgekehrt, wo ähnliche Dinge begonnen haben sich zuzutragen, wie sie uns Russland vor einem bis zwei Jahren vormachte; und ich fühle, daß jedes Wort, mit dem ich Ihnen das jetzige Russland nur schildern wollte, die Bedeutung einer heimlichen Parallele gewinnen müsste, die dennoch der wahren Erkenntnis nicht ohne weiteres zuträglich wäre. Die Revolution gibt letzten Endes auch jenen augenblicklichen Sieg der Natur über die Zivilisation den Sinn eines Geschehnisses, das sich nicht außerhalb der menschlichen Seele abspielt, sondern in der menschlichen Seele selbst. Alles Grausige, das wir da erleben, gibt uns noch nicht genügend Gründe zu sagen, daß das Alte in seiner Gesamtheit besser gewesen wäre, als das, was wir jetzt erleben: nämlich die Geburt der Idee einer neuen Menschheitsepoche. Auch für uns ist die Revolution mehr als ein Schauspiel geworden, das die Deutschen nur berührt und angeht, sobald das Kapitel der Beziehungen zwischen Deutschen und Russen, zwischen Russland und Deutschland in seinen Lichtkreis fällt. Bei der Betrachtung dieser Beziehungen wird sich zeigen, daß die Art, wie wir die russische Revolution verstehen, ein Prüfstein für uns selber ist und daß von unserer Haltung gegenüber dem Problem, das sie in sich birgt, vieles, ich möchte eher sagen alles abhängt, auch für unser äußeres, künftiges Schicksal, für unsere auf den drei Böden, Geist, Politik und Wirtschaft beruhenden Lebensführung als Nation.


Man wende nicht ein, daß wir allen Grund hätten, uns gegen eine Verrussung der deutschen Revolution, die eigentlich doch etwas anderes sei als die russische, zur Wehr zu setzen. Es gibt nationalistische Russen genug, die an ihrer eigenen Revolution auch auszusetzen haben, daß sie Gedanken verwirklichen wolle, die von Westeuropäern gedacht, als westeuropäisches Gift in den Organismus der alten russischen Welt eingeführt worden seien. Dieser Internationalismus ist also gegenseitig, und wir brauchen auf die gegenseitigen Vorwürfe, so viel auch über sie zu sagen wäre, hier nicht einzugehen, weil sie sich aufheben. Ist der Internationalismus eine Krankheit, dann ist er eine Krankheit, die aus der Zivilisation überhaupt hervorgeht, und die wir in unserem Maß der Dinge nicht bekämpfen können. Der soziale Internationalismus tritt jetzt an die Stelle des Imperialismus. Dieser ist nichts als eine gewaltsame und autokratische Form des Internationalismus. Wir deuten den Internationalismus noch keineswegs als eine Krankheit, sondern eher als notwendig für die Gesundung ganzer Nationen.

In die fünf Monate meines Aufenthaltes in Moskau fallen Ereignisse wie die Ermordung des Grafen Mirbach, der Putsch der Sozialrevolutionären Linken gegen die Räteregierung, das Attentat auf Lenin, der Rote Schrecken, die Sabotierung der Brester Verträge gegenüber einem Deutschland, dessen Heeresgruppen, als ob Deutschland träume, sich bis nach Finnland und nach Astrachan vorschoben, während im Westen eine einzige, ununterbrochene Schlacht tobte, und schließlich die Aufhebung der Brester Verträge auf die erste Nachricht vom Ausbruch der deutschen Revolution. Zum Schluss ereignete sich die gewaltsame Absetzung der deutschen Generalkonsulate in Moskau und Petersburg durch einen von internationalen Agitatoren angeführten, aus deutschen Kriegsgefangenen gebildeten revolutionären Soldatenrat. Es kam damit die volle Katastrophe unserer bis dahin von einer Reihe amtlicher Personen vertretenen wirtschaftlichen Interessen, unserer auf alten Rechten und Urkunden beruhenden Ansprüche und unserer auf materielle Bedürfnisse gestützten Zukunftshoffnungen in Russland; der Verzicht auf einen unserer schönsten nationalen Gedanken, nämlich uns endlich und besser als bisher der in schwerer Lage befindlichen Deutschrussen, der Wolgakolonisten, der Balten und aller sonstigen deutschen Schutzgenossen auf russischem Boden annehmen zu können; der Zwang, alles, was da in Russland an deutschen Werten noch vorhanden war und die furchtbaren Schädigungen und Verfolgungen während des Weltkrieges überdauert hatte, im Stich zu lassen, den Schutz aller dieser Dinge dem Gutdünken der Räteregierung und dem vielleicht ehrlichen Willen, aber schwachen Können des revolutionären deutschen Soldatenrates im Gebäude der ehemaligen kaiserlichen Gesandtschaft in Moskau zu übertragen. Wahrlich ein Zusammenbruch, dessen Vollendung als ein schwarzer Tag von allen Deutschen empfunden werden musste. Ich möchte durch keinerlei Beschönigung den Eindruck jenes Tages abschwächen. Und dennoch, wie kam es, daß wir schon am ersten Tage nach dieser Katastrophe und obwohl die Lage der Angehörigen des Konsulates, die mit Frauen und Kindern schon zur Abreise fertig waren, obwohl die Lage der deutschen Schutzbefohlenen, von denen viele verhaftet worden waren, die unangenehmste und kläglichste war: wie kam es, daß wir schon bald nach diesem Umsturz wieder lernten ein wenig Mut zu schöpfen? Der aus kriegsgefangenen Soldaten gebildete Ausschuss machte sich an die Arbeit, die in seine Gewalt gegebene kleine Schar von Deutschen zu versorgen, das Haus, in dem sie sich befanden, zu schützen und sich, so gut es ging, der deutschen Interessen anzunehmen. Die Autonomie dieses Soldatenrates war von der Räteregierung ausdrücklich anerkannt, und er zögerte nicht, von seinem revolutionären Recht Gebrauch zu machen.

Ich richtete damals in einer Versammlung der Deutschen in Moskau, die in eines der Konsulatsgebäude einberufen wurde, um den Bericht der neuen Gewalthaber über den Umsturz anzuhören, an das revolutionäre Komitee entschiedene Vorwürfe wegen der herben Art dieses Umsturzes. Lettische Soldaten hatten, nicht etwa am hellen Tage, sondern bei Nacht und Nebel vom deutschen Gebäude die schwedische Flagge herabgeholt und sie durch einen roten Fetzen ersetzt, der niemals eine rote Fahne war; man hatte am Tage jenes Umsturzes russisch und amerikanisch und jüdisch radebrechenden Unbekannten in das Haus der Gesandtschaft Einlass gegeben, eine Zeitlang waren alle Insassen des Hauses Gefangene unter der Bewachung von tschechischen, polnischen, ungarischen Soldaten und eines fanatischen Weibes von der, „Außerordentlichen Kommission“. Die deutschen Revolutionäre schienen im Anfang bereit, der russischen Sowjetdiplomatie durch ihren Schrei nach den Akten des Generalkonsulates einen billigen Trumpf in die Hände zu spielen. Aber ich muss zur Ehre jener deutschen Soldaten und ihrer Führer sagen, daß es gelang, ihnen klar zu machen, wie unsinnig es gewesen wäre, eine kleine Schar von Landsleuten, Beamten, die bis dahin unter den schwierigsten Umständen nichts als ihre Pflicht getan, in Märtyrer zu verwandeln. Schließlich wussten auch die deutschen Revolutionäre gegen die früheren kaiserlichen Vertretungen in Russland nicht viel mehr vorzubringen, als den Vorwurf, gewisse konterrevolutionäre Bestrebungen begünstigt zu haben, sowie ferner, daß die Bankabteilung sich der Überweisung von Guthaben deutscher Reichsangehöriger und Schutzgenossen aus Russland nach Deutschland angenommen und durch ihre von der Reichsbank vorgeschriebene Valutapolitik bei der Übertragung solcher Guthaben sowohl

Reichsangehörige wie deutsche Rückwanderer um den Gewinn gebracht habe. Einen Augenblick hatte der Putsch in Moskau gedroht, sich zu einem Standgericht an der amtlichen deutschen Russlandpolitik zuzuspitzen. Schließlich aber vollzog sich die Auflösung der alten Ordnung, wenigstens in Moskau, unter menschlichen Umständen.

Wir brauchen uns auch hier mit einer Kritik der deutschen amtlichen Politik gegenüber Russland im letzten Sommer nicht zu befassen. Um die russische Frage, so wie sie damals noch aussah, nach der alten Methode zu lösen, dafür schien es damals nur ein Mittel zu geben, den deutschen Einmarsch auch in Moskau. Aber dazu fehlte die Basis. Berlin wusste wohl schon damals, als Graf Mirbach fiel, daß der Einmarsch nicht möglich war. Helfferich zog sich nach achttägigem Aufenthalt aus Moskau zurück, weil er das Reich nicht vor die Notwendigkeit stellen durfte, ein mögliches Attentat auf den zweiten Gesandten ebenso ruhig hinzunehmen. So verließ sich das Auswärtige Amt auf die berühmten Zusatzverträge zum Brester Frieden, die während des Sommers in Berlin verhandelt wurden, mit ihrer Anerkennung der Nationalisierung der russischen Industrien und der Pauschalierung der deutschen Ansprüche auf Ersatz der im Krieg erlittenen Schäden. Der Einfluss des Herrn Joffe mag dazu beigetragen haben, daß Berlin der Täuschung erlag, eine Einigung zwischen dem kaiserlichen Deutschland und dem kommunistischen Russland, so dringend sie für die Wiederanknüpfung des wirtschaftlichen Verkehrs zwischen beiden Ländern erwünscht erschien, sei denkbar auf Grund rein juristischer Konstruktionen. Dank dem listigen Verhalten der Sowjetregierung hatte selbst nach dem von Deutschland gegen Russland gewonnenen Kriege ein neues deutsches Machtgebäude in Russland nur in geringen Anfängen aufgerichtet werden können. Nach dem Putsch vom 9. November blieb nun nichts übrig, als auch die letzten Scherben dieses Machtgebäudes fortzukehren. Die Bahn für eine vollkommene Neuordnung war frei. Niemand weiß noch heute, wie diese Neuordnung in Wirklichkeit aussehen wird. Jedenfalls wird sie vom Erbe der Vergangenheit, das will sagen von gültigen alten Ansprüchen und Überlieferungen, nicht allzusehr belastet sein. Ich werde später auf die Voraussetzungen einer künftigen deutschrussischen Handelspolitik zu sprechen kommen, möchte aber zuvor über die Idee des kommunistischen Staatswesens und seiner Verfassung noch einiges Notwendige sagen. So sehr auch das Prinzip der Räteverfassung noch umstritten sein mag, so müssen wir doch bei ihr einen Augenblick verweilen, um zu untersuchen, was sie an Elementen enthält, die bei einem Verkehr kommunistischer Staaten untereinander in Wirksamkeit treten würden.

Uns könnte natürlich, wenn wir den unfertigen Zustand der jetzigen, in breiter Umbildung begriffenen Formen unseres deutschen Reiches betrachten und in der Weimarer Nationalversammlung nichts als Reste des früheren Berliner Reichstages in seiner Zusammensetzung aus Parteifunktionären und einander opponierenden Interessenvertretern wiedererkennen, sehr wohl die Frage beschäftigen, ob das Dokument der russischen Räteverfassung etwa Elemente enthalte, denen auch für eine ideale deutsche Vertretungsform Sinn und Bedeutung sich irgendwie abgewinnen ließe. Ich denke vor allem an den wichtigen Punkt 78 im vierten Abschnitt der Räteverfassung, der das enthält, was die Räteorganisation wohl am glücklichsten von den alten parlamentarischen Volksvertretungen unterscheidet, nämlich das Recht der Wähler, ihren Abgeordneten jederzeit abzuberufen sobald sie es richtig finden. Sodann aber auch an eine schöpferische Neukonstruktion des Reiches, welche die Stammeszusammengehörigkeit der ländlichen Bevölkerungen, die überprovinzialen Interessen der Großstädte, Verkehrsund wirtschaftspolitische Verhältnisse im Maße der Reichsentwickelung und der europäischen Entwickelung zur Grundlage eines staatsrechtlichen Aufbaues macht, der die versteinerten

Zufälligkeiten aus den Zeiten der dynastisch -partikularistischen Vorentwickelung beseitigt. Aber wir begeben uns hier auf einen allzu lockeren Boden und würden Dingen, die bei uns jetzt in tiefer Entwicklung stehen, allzu verwegen vorgreifen müssen.

Uns interessieren von den allgemeinen Bestimmungen, die vor dem Aufbau des Rätesystemes gesetzt sind, einige besonders, die sich auf die Form beziehen, in der künftig Ausländer und Rassefremde auf dem Gebiet der Räterepublik leben sollen. Denn wir denken hier an die völkerrechtliche Lage der deutschen Staatsangehörigen in Russland, wie an die Millionen deutscher Kolonisten an der Wolga und im Süden Russlands, an den Kulturbesitz der deutschen Diaspora in Russland an Schulen und Kirchen, an die Grundlagen überhaupt, auf denen künftig der Deutsche als Fremder oder als Einheimischer in Russland seinem Berufe nachgehen kann. Wir bemerken in den verfassungsmäßigen Bestimmungen, die diese Frage betreffen, eine starke Ineinanderschiebung des völkerrechtlichen und des staatsrechtlichen Gesichtspunktes. Nach dem fünften Artikel der Verfassung gewährt die russische Räterepublik den in ihrem Gebiete tätigen, dem Arbeiter- oder Bauernstande angehörenden Ausländern alle politischen Rechte der russischen Bürger. Ein besonderes Dekret im Sommer 1918 hat dann alle Ausländer auf russischem Boden den russischen Bürgern an Rechten und Pflichten gleichgesetzt. So weit es sich dabei nicht um Proletarier handelt, bezieht sich dieses Dekret im Grunde ausschließlich auf die Pflichten, zum Beispiel die der Wehrleistung und der Steuerzahlung. Die praktische Durchführung dieses wichtigen Dekretes war allerdings suspendiert, solange sich noch die diplomatischen Vertretungen und Konsulate der Mächte, die dieses Dekret nicht anerkannten und die Rechte ihrer Staatsangehörigen zu vertreten vermochten, auf russischem Boden befanden. Seitdem diese Vertretungen verschwunden sind, besitzen die fremden Staatsangehörigen auf russischem Boden ihre frühere Exterritorialität nicht mehr. Die Räteverfassung gibt weiterhin auf Grund der Voraussetzung, daß in allen Gebieten der Republik die Räte die einzigen Träger der Verwaltung sind, (den Räten der Gebiete, die sich durch besondere Daseinseigentümlichkeiten oder eine besondere nationale Zusammensetzung auszeichnen, das Recht sich zu autonomen Verbänden zusammenzuschließen, die der Räterepublik als Teile des Föderativstaates angehören. Das bedeutet mit anderen Worten die Anerkennung einer weitgehenden Selbstverwaltung der Gebiete von eigener nationaler Zusammensetzung, handele es sich da um die von Kalmücken bewohnten Landstriche im Altai, oder um die historischen deutschen Kolonien. Ferner gewährt die Räteverfassung auf Grund der Trennung von Kirche und Staat und Schule und Kirche allen werktätigen Bürgern Gewissensfreiheit, die Freiheit der religiösen und antireligiösen Propaganda. Diese Sätze sind auch für die deutschen Kolonien, noch mehr aber auch für die zum Teil aus Staatsmitteln unterstützten deutschen Kirchen und Schulen in Russland von Bedeutung; sie sind für das herkömmliche Leben der Deutschen in Russland bereits von großen Folgen gewesen. Andererseits beseitigen oder mindern sie die bisherigen ungeheuren Einflüsse der orthodoxen Kirche auf das bürgerliche Leben, insbesondere auch auf die Anstellung im Staatsdienst, auf Eheschließung, Erziehung, Niederlassungsrecht. Dadurch eröffnen sie den freien Wettstreit aller auf russischem Boden lebenden Werktätigen zur Teilnahme am öffentlichen Leben unter völlig gleichen Bedingungen und enthalten im ganzen die Möglichkeit geistiger und gesellschaftlicher Neuentwicklungen des russischen Volkes, die in ihren praktischen Folgen kaum überschätzt werden können. Die Räteverfassung gewährt ferner allen örtlichen Räten in Russland das Recht, von sich aus Ausländern ohne erschwerende Formalitäten das russische Bürgertum zuzuerkennen. Auch diese Bestimmung ist einschneidend. Sie kann dazu führen, daß gelegentlich geradezu eine Aufsaugung von Ausländern stattfindet. Sie erschließt aber auch Räten, in denen einmal eine nationale Mehrheit vorhanden ist, die Möglichkeit, sich durch den Zuzug national verwandter Elemente noch mehr zu stärken. Die Verkündung des Asylrechts für alle Ausländer, die wegen politischer oder religiöser Vergehen Verfolgungen ausgesetzt sind, in der russischen Räterepublik ist ebenfalls zu erwähnen. Sie ist nur die logische Folge ihres neuen Geistes. Alle diese großen Neuerungen stellen die Beziehungen Russlands zum Auslande auf einen Boden, der von der bisherigen bürgerlichen Regelung der internationalen Beziehungen weit entfernt ist, und jedenfalls auf die Einwanderung nach Russland aus dem Westen oder aus dem Osten nicht ohne Einfluss bleiben kann. In Bezug auf den nationalen Gedanken ist das neue Russland, wie es hier den Anschein hat, so weitherzig wie möglich. Die Einheitlichkeit der russischen Räterepublik beruht nach ihrer Verfassung ausschließlich auf der anerkannten Macht der untereinander gleichberechtigten Räte, die ihrer nationalen Zusammensetzung nach so verschieden sein können wie sie wollen.

Die vollziehende Gewalt der revolutionären russischen Staatsregierung ruht in den Händen von 18 Volkskommissariaten. Diese Kommissariate der Republik sind zum großen Teil aus den Ministerien des alten Kaiserreiches entstanden. Neu ist unter ihnen nur der Oberste Wirtschaftsrat und das Kommissariat für Nationale Angelegenheiten. Die letzteren hat früher das Ministerium des Innern verwaltet. Dieses Volkskommissariat fasst nun wiederum die Kommissariate der in Russland vertretenen verschiedenen Nationen zusammen. Es gibt im jetzigen Groß-Russland beispielsweise ein mohamedanisches Kommissariat, wie ein weißrussisches, ukrainisches, ein jüdisches oder lettisches. Es gibt Kommissariate der in Russland lebenden Burjaten oder Koreaner, wie auch der Polen und schließlich der Deutschen. Die Grundlage dieser Räte ist allerdings stets der Kommunismus, und bei der Einführung dieser neuen Vertretungsform, z. B. im Gebiet der Deutschen an der Wolga, ist es nicht ohne Gewalt abgegangen; hier waren es die von der revolutionären Räteregierung unterstützten sogenannten Landlosen, die mit Hilfe von deutschen bewaffneten Kriegsgefangenen als Minderheit gegen die Mehrheit ihren Willen durchsetzten. Ohne weiteres könnte es auch ein englisches oder ein spanisches Kommissariat in Russland geben, vorausgesetzt, daß es auch nur eine geringe Minderheit von kommunistischen Werktätigen dieser Nationen in Russland gäbe. Diese Nationalkommissariate haben aber nicht nur die Interessen der auf russischem Boden ansässigen Fremden zu vertreten. Sondern sie würden auch die Interessen der gleichnamigen fremden Länder vorstellen können, wenn diese einmal der idealen Welt-Räterepublik angehören. Solange dieses nicht der Fall ist, besteht eine Art Zwischenzustand. Neben der Vertretung des fremden Staates bei der Moskauer Sowjetregierung durch die diplomatische Mission und die Konsulate des fremden Staates im alten Sinne ist oft ein aus Kommunisten zusammengesetzter Rat jener Nationalität vorhanden, der so beschaffen ist, daß er jederzeit beginnen kann, als eine Art kommunistisches Konsulat zu funktionieren. So war es im vorigen Sommer, als neben der kaiserlichen deutschen diplomatischen Vertretung in Moskau bereits die Ansätze zu einem deutschen revolutionären Arbeiter- und Soldatenrat existierten, oder neben der Vertretung des polnischen Regentschaftsrates ein revolutionärer polnischer Sowjet. Das gleiche war der Fall bei Österreichern und Ungarn, Bulgaren, Serben, Finnen. Was das bedeutet hatte, zeigte sich, als sofort nach der gewaltsamen Beseitigung der alten Vertretungen des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarns, auch Polens und der Ukraine, die sich ja jetzt im Kriegszustand mit Russland befinden, die autonomen A.u. S.-Räte dieser Nationen, die auch den Umsturz selber besorgten, sozusagen als kommunistische Bundesgesandtschaften beim Kommissariat des Auswärtigen in Moskau in Funktion traten. Sozusagen, — denn noch fehlt ihnen die Anerkennung und der Auftrag der Regierungen ihrer Länder. Wir haben hier aber in der Tat eine primitive Verwirklichung des Völkerbundgedankens vor uns, allerdings eine solche, die) ausschließlich auf die internationale Solidarität der proletarischen Klasseninteressen, in unserem Falle also auch auf die Revolutionierung eines Teiles der Deutschen in Russland, gegründet ist. Diese Solidarität hat bisher auf dem Wege der Weltrevolution einzelne starke Wirkungen hervorgebracht. Ihre großen Zukunftsaufgaben liegen auf dem Gebiet der Weltverwaltung. Sie ist jedenfalls bereits mehr als nur eine aus dem revolutionären Optimismus entstandene Fiktion.

Aus diesen Anfängen, falls sie nicht Anfänge bleiben, muss für die Zukunft eine bisher noch nicht gekannte Form der gegenseitigen internationalen Beziehungen hervorgehen, die die Grundlagen der alten Diplomatie radikal beseitigt. Sie würde dem, was man bisher Diplomatie nannte, einen ganz neuen Sinn geben, ohne sie indessen etwa überflüssig zu machen. Ein Kommissariat mit konsularischen Funktionen würde die Interessen einer fremden Nation als Gesamtinteressen vertreten können, falls in ihm neben den Abgesandten der Regierung jener fremden Nation auch diejenigen Stammesangehörigen derselben Nation Einfluss haben, die selbst auf dem fremden Boden wohnen. Ich spreche hier zwar von einer Form der Vertretung, die es bisher, außer in Ansätzen, noch nicht gibt. Das Vorhandensein abgesprengter Volksteile, deren Autonomie im fremden Staatsgebiete ausdrücklich anerkannt ist, gibt dem Stammvolk das Recht auf einen eigenen Minister oder auf Kommissare für solche Volksteile. Dass die Sowjetregierung im Gegensatz zu diesem von ihr zum erstenmal anerkannten Grundsatz bisher fremde Gesandtschaften und Konsulate der alten Ordnung auf ihrem Boden zuließ, war streng genommen nur eine Konzession an die Macht der unrevolutionierten Staaten, die dadurch ausgeglichen wurde, daß die Sowjetregierung mittels der Gesandtschaften und Konsulate, die sie selbst in den europäischen Ländern eröffnete, ihrerseits das Diplomatenhandwerk ausübte, um unter dieser Maske fremden Regierungen Sand in die Augen zu streuen und Agitation zu treiben. Die Diplomatie der russischen Räterepublik beschäftigt, mit geringen Ausnahmen, nicht einen Diplomaten der alten Zunft. Dass man auch außerhalb der Zunft vortreffliche Diplomaten findet, hat in der Neuzeit, nachdem das Beispiel des Benjamin Franklin in Vergessenheit geraten ist, zum erstenmal wieder die Sowjetregierung bewiesen mit dem Beispiel von Männern wie Trotzki, Radek, Rakowski, Litwinow, die in Brest und in Moskau, in Kiew und in London den Bolschewismus vertraten. Diese Diplomaten des Proletariats sind ihrer Berufsherkunft nach Schriftsteller, Journalisten, Ingenieure, Kaufleute. Man kann ihnen die Tür weisen oder sie ins Gefängnis setzen, niemand aber wird ihnen nachsagen können, sie wären den Berufsdiplomaten der kapitalistischen Staaten nicht gewachsen oder auch überlegen gewesen.

Nun denn, ich habe hier zunächst einmal mit Nachdruck die tiefgehende Bedeutung einiger Gedanken der Räte Verfassung hervorheben wollen. Es muss gesagt werden, daß das Rätesystem, um zum Wohle der von ihm vertretenen Gesellschaft zu funktionieren, keineswegs von selbst und von sich aus in der Lage ist, wie ein vom Himmel gefallener patentierter Verwaltungsapparat zu arbeiten. Es fordert außerordentlich tüchtige Männer, wie alles Regieren. Eine gewisse Art von Protesten gegen die Räte erinnert mich aber allzusehr an Proteste, wie sie seinerzeit auch gegen die Einführung der Eisenbahnen oder gegen das Fliegen der Menschen erhoben worden sind.

Ich glaube keineswegs, daß die Proletarierräte etwa unser künftiges politisches und gesellschaftliches Leben ausschließlich beherrschen oder es gar vereinfachen werden, wie zuweilen gesagt wird. Im Gegenteil, sie werden es durch ihre Einstellung in den Apparat bestehender und lebensberechtigter Organisationen eher noch komplizieren, sie werden es verfeinern, aber auch besser ausbalancieren. Vielleicht sind die Räte letzten Endes nur ein Zuwachs an Bureaukratie und werden sich in das Wirtschaftsgefüge, besonders der westlichen Länder, im Sinne des gewonnenen Sieges über die alte privatkapitalistische Weltanschauung zwar kontrollierend, aber auch festigend und fördernd einordnen, anstatt es umzuwerfen.

Es ist reizvoll, an diesem Punkt der Besprechung des Rätesystems einen Augenblick zu verweilen. Ich nannte schon als eine der vielen Fragen, die durch die Einführung des Rätesystems sogleich in eine neue Phase einrücken würden, die Frage der politischen Grenz- und Zwischengebiete, der politischen Übergangsgebiete, der Binnengrenzen nicht nur Deutschlands, sondern Europas; die Frage der künftig immer mehr internationalen, ja ausdrücklich internationalisierten Verkehrswege, vor allem der Ströme, sodann der Städte und Häfen wie Konstantinopel, Salonik, Antwerpen: aller der großen Häfen, die um das europäische Festland einen Kranz bilden, jener bedeutenden freien Handelsstädte, in deren Reihe vielleicht einmal von selbst alle großen Kommunen mit überprovinzialen und übernationalen Handelsund Kulturbeziehungen hineinwachsen. Ich wage hier auch die Frage der Auswanderung großer geschlossener Menschenmengen und ihr Ansässigwerden auf fremdem Boden zu berühren. Dass in allen diesen Fragen die Arbeiterschaften in ihren Vertretungen durch die Räte und in den Räten dieser Räte nicht allein den Lauf der Entwicklungen bestimmen können, ist wohl klar, aber daß sie ein starker Faktor werden müssen ebenso. Wenn einmal die Arbeiter von Basel, Straßburg, Mannheim, Mainz, Ruhrort, Emden und Rotterdam beispielsweise in einem gemeinsamen Rheinischen Rat Einfluss auf die Ausgestaltung des Rheines zu einer großen europäischen Schifffahrtsstraße geltend machen, so werden sie über die alten staatlichen Grenzen und Hoheitsrechte, die da zu überwinden sind, einfach hinweggehen. Sie würden die Ausgestaltung dieser alten Wasserstraße zu einem Wege der Großschifffahrt, diesen Lieblingsgedanken moderner Ingenieure vielleicht sehr rasch zur Verwirklichung bringen können und damit ein weites Gebiet des europäischen Hinterlandes mit der See in unmittelbare Verbindung setzen. Nichts Geringeres wäre also in ähnlichen Fällen die Aufgabe solcher Arbeiterräte, als Gedanken auszuführen, die bisher entweder an den engen Privatinteressen örtlicher kapitalistischer Unternehmer, oder an dem Widerstand der vielzuvielen Staaten gegen jede Minderung ihrer sogenannten Hoheitsrechte nachgewiesenermaßen gescheitert sind. Sind nicht neuerdings an der Donau und an der Adria gewisse Nationalitäten eigens entdeckt und staatlich gemacht worden, nur um hier ihre Energien letzten Endes in die Wagschale des Kampfes zwischen den hochkapitalistischen Interessengruppen zu legen, die im Begriffe sind, durch die Gewalt des Geldes, der Waffen und der Blockade auch große Nationen zu ihren Ausbeutungsobjekten niederzusenken.

Der Gedanke der Räte kann also in einem ganz besonderen Maße dem europäischen Ziele dienen, das ein Ziel des gemeinsamen Wirtschaftsaufbaues und des Friedens ist. Er kann in einer Struktur, welche trotz aller individuellen Verschiedenheiten jener Organisationen die Möglichkeiten des Anschlusses und Zusammenschlusses nach allen Seiten offen hält, die außenpolitischen Fragen und Probleme der bisherigen Staaten Europas in Probleme europäischer Innenpolitik und Selbstverwaltung verwandeln und zu Regelungen führen, die den egoistischen Einfluss einzelner Staatengebilde des europäischen Festlandes ebenso beseitigen, wie sie die Einmischung außerhalb Europas gelegener Mächte erschweren. Er kann vor allem dahin führen, daß zunächst in Europa die allzu enge Identität von Staat und Volk ebenso aufhört wie das alte Mischungsverhältnis von Staatlichkeit und Kirchlichkeit, Staat und Kunst, Staat und Schule begonnen hat sich zu zersetzen. Europa hat Vereinfachungen nötig, und diese können nur in seinen zwar unveränderlichen, aber sich von Jahrhundert zu Jahrhundert nach den Beziehungen zum Weltganzen umwertenden geographischen Grundlagen und in den tatsächlichen Verhältnissen seiner Rassenverteilung gefunden werden. Im Osten finden wir den Komplex der slawischen Völker als eine ungefähre Einheit, in der Mitte den Komplex der germanischen, im Westen den der Lateiner. Die Grenzen und Übergänge zwischen diesen Komplexen sind fast nirgends ganz scharf gezogen; übrigens gehören gerade die Grenzgebiete von jeher zu den fruchtbarsten und farbenreichsten. Alles das sind Perspektiven, die sicherlich der nächsten Generation noch deutlicher sein werden als der jetzigen. Aus Gründen, die diesen Perspektiven entnommen sind, meine ich aber, daß es* nötig sei, mit Anwendung allen Einflusses die Selbständigkeit und den Gesichtskreis der Kommunen zu erweitern, so verschieden wir den Begriff der Kommunen auch fassen mögen. Die Arbeiterkommune eines großstädtischen Komplexes ist im Wesen dasselbe wie irgendein kleiner körperschaftlich vertretener Werkbetrieb oder eine bäuerliche Genossenschaft. Scheinbar bilden die Arbeiterräte den rohen Anfang moderner standespolitischer Versammlungen, die wiederum untereinander einer zwischengewerkschaftlichen, zwischenprovinzialen und übernationalen Übereinstimmung von kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Interessen zum Ausdruck verhelfen können. Die Arbeiterräte wollen in ihren Anfangsformen nichts als die Zwangsorgane der proletarischen Klassenherrschaft sein. Das ist mir wohl bewusst. Die Verteidiger dieses Gedankens sagen: „Die Regierung der Arbeiter-Delegiertenräte, die immer neu gewählt werden können, die immer zum Mutterboden, zur Fabrik, zurückkehren, wird die Form sein, in der das Proletariat der Welt den Kapitalismus besiegt und fähig wird, den Sozialismus durchzuführen.“ Ich führe diesen Gedanken weiter und sage: Die aus den Delegierten der berufsständischen Räte und der Kommunen gewählte Regierung, deren Mitglieder immer neu gewählt werden können, die immer zum Mutterboden, zu den Berufen und zu den ihnen innewohnenden Kulturaufgaben zurückkehren, in denen sich das Interesse für das Schicksal der kommenden Generationen ausspricht, diese wird die Form sein, in der nach der vollzogenen Zähmung des Kapitalismus die neue Gesellschaft fähig sein wird, Europa zu schaffen. Sollte Europa eine Zeitlang noch nicht wieder völlig frei über die Seewege zu den anderen Erdteilen verfügen, so stehen ihm die Landwege zu dem großen Mutterleibe Asiens, dem ja das kleine Europa nur wie eine weit in den Norden und Westen vorgereckte Halbinsel anhängt, unversperrbar offen. Aber nur ein Europa, das geeinigt ist, ein europäisches Festland mit seinem Kranz der besten Naturhäfen der Welt, das zudem in der Ostsee wie im Schwarzen Meer über Binnenmeere verfügt, die dem weiten Weltmeer gegenüber wie sichere Hafenbecken und Schlupfwinkel erscheinen, nur ein solches Europa, das seinen Bedarf an Einfuhrgütern ebenso als einen gemeinsamen betrachtet, wie sein Interesse an einer Gemeinsamkeit der Verkehrsmittel, zu denen Eisenbahnen wie Handelsflotte und Häfen gehören, wird auf die Dauer die Wohnung einer Menschengesellschaft sein können, die bleiben will wo sie ist und was sie ist.

Von ebenso großer Bedeutung wie für die Regelung europäischer Angelegenheiten wird sich die Einführung des Rätegedankens auch für den überseeischen Verkehr erweisen. Der Verkehr der hochentwickelten europäischen und amerikanischen Völker mit fernen Völkern, wie Chinesen oder Afrikanern, bestand bisher in einem Austausch-Verkehr von mehr oder weniger kolonialer Form. Seine Grundlage bildete die kluge, legitimierte Übervorteilung jener Völker hauptsächlich durch das Monopol einzelner Handelsund Schifffahrtsgesellschaften. Was hier in älteren Zeiten der Unsicherheit des Verkehres noch kühnes Risiko war, das zuweilen auch zum Scheitern von Unternehmungen führte, ist immer mehr zu einer bequemen Ausnutzung gesicherter Verbindungen geworden. Beginnt aber nun die soziale Befreiung und Erziehung der im alten zivilisatorischen Sinne noch unentwickelten Völker durch die Botschaft der von den Revolutionären des neuen Europa verkündeten proletarischen Menschenrechte, so wird überall dort draußen eine Krisis und schließlich der Untergang der alten europäischen Herrenrechte die Folge sein. Wir werden dann beobachten, daß die bereits eingeleiteten Kämpfe jener fernen und uns fremden Völker um ihre Selbständigkeit mit denselben Mitteln weitergeführt werden, wie sie von der europäischen Arbeiterklasse in jahrzehntelanger Entwicklung geführt worden sind. Schwere Störungen des bisher so selbstverständlichen und profitreichen Güteraustausches mit jenen Ländern werden kommen. Streik und Sabotage werden als Kampfmittel auch auf jenem Boden eingeführt; sie werden die Handelsnationen am schwersten treffen, die wie die englische am meisten auf das reibungslose Funktionieren jener fremden Länder als Ausfuhr- und Bezugsländer kolonialer Produkte angewiesen sind. Auf die Dauer werden sich gewiss die natürlichen Tendenzen des weltwirtschaftlichen Austausches erhalten, durchsetzen und weiter verbreiten, aber es kann als sicher angenommen werden, daß sich die Formen dieses Austausches gegen die jetzigen stark verändern werden. In besonderem Maße wird der erwachende Geist der fremden Völker, die die stummen Zeugen der Selbstzerfleischung Europas gewesen sind, einer Rasse den Anreiz geben, ihre Mitbestimmung an den großen Unternehmungen des weltwirtschaftlichen und weltkulturellen Austausches geltend zu machen: ich meine die Gelbe Rasse. Wir wissen, daß bei den Chinesen die Einrichtungen des Zusammenschlusses der Arbeitenden schon von altersher außerordentlich hoch entwickelt sind. In den Gilden der Händler aus gewissen Handelszweigen, wie auch im Zusammenschluss der Arbeiter aus bestimmten Berufen, hat sich das Volk der Chinesen gleichsam schon längst darauf vorbereitet, in der künftigen Weiterentwickelung und Beeinflussung der übernationalen wirtschaftlichen Beziehungen eine sehr aktive Rolle zu übernehmen. Ähnliche Entwicklungen sind selbst in Afrika denkbar, wenn dort einmal der erweckende Einfluss des an der Zivilisation Nordamerikas erzogenen amerikanischen Negertums fühlbar werden sollte. Und noch mehr unter den großen mohammedanischen Bevölkerungen Asiens und Afrikas, die von Jahr zu Jahr über eine ansehnlichere Zahl europäisch geschulter Führer verfügen.

Das revolutionäre Russland hat mit fanatischen Anstrengungen und mit übermenschlichen Opfern mehr als ein Jahr lang seine Agitation für die Weltrevolution allen anderen dringenden Forderungen, auch an den Wiederaufbau seiner zerstörten Wirtschaft, vorangestellt. Das ist so weit gegangen, daß Russland heute kaum noch das Bild eines durch die Revolution befreiten Staates mehr bietet. Und doch wird einst das ganze Russland, wenn einmal die Schrecken der jetzigen Zeit vergessen sein werden, dieser Epoche des Bolschewismus ein großes Stück seiner künftigen Freiheit, das Scheitern gewaltiger fremder Ausbeutungspläne zu danken haben. In den breiten Volksmassen Russlands werden die Losungen dieser Zeit niemals wieder ganz auszulöschen sein. Russland hat sein Wort gesprochen; vielleicht muss es zusammenbrechen an dem Unvermögen, aus eigenen Kräften mit der schweren Erbschaft seiner Vergangenheit fertig zu werden und die Instinkte niederer Rachgier zu zähmen, die den Glanz seiner sozialen Umgestaltung trüben. Nicht ohne Grund, und nicht nur aus bloßem Zynismus, wie zuweilen behauptet wird, richten sich daher die Augen russischer Führer auf Deutschland, in der Hoffnung, daß es den Kampf für die Weltrevolution auf seine Weise weitertrage durch die Anerkennung und Verwirklichung des Wesentlichen, was die Räteverfassung in ihrem barschen Antimammonismus ausgesprochen hat; in seinem Fortschreiten zu einer Föderation, zu der wir in Deutschland über den Partikularismus hinweg einige vorsichtige Entwürfe allmählich erörtern; in seinen künftigen Formen der auswärtigen Politik, die von Volk zu Volk verhandelt, in seinem neuen Typus des politischen Menschen, der darauf verzichtet, ein Engländer anderen Ranges zu sein; in seiner Wiedergeburt als ein autonomes, von den Zügen des militärischen Imperialismus rechtzeitig befreites soziales Wesen. Ich glaube, daß der Deutsche es vermag, einer Wesensart der weißen Rasse Ausdruck zu geben, die Indern, Chinesen, Afrikanern gegenüber bisher nur immer hinter der Maske des Eroberers schwach hervorschimmern durfte und dieser neuen Wesensart im Kampf gegen die alte, wenn es sein muss, Opfer bringt, Opfer der persönlichen Bequemlichkeit unter jenen Völkern, Opfer der persönlichen Freiheit, selbst des Lebens, Opfer, von denen das russische Volk in der proletarischen, bärenhaften Brudergeste, mit der es den fremden Völkern gegenübertrat, ein unvollkommenes Beispiel gab.

Kommt nun ein baldiger Friede der Völkerversöhnung nicht zustande — und ich glaube trotz Bern und trotz des jetzt in Paris veröffentlichten Völkerbundprogrammes nicht an Versöhnung, sondern an Blockade — , kommt nicht in den Völkern der Entente, von deren Geist wir wenig wissen, sehr bald das schon so lange angekündigte Gefühl weitherzigster und ehrlichster Solidarität auch in den Handlungen ihrer Regierungen zum Durchbruch, so befindet sich bald eine Gruppe oder ein Bund mächtiger, bewaffneter, satter und hochmütiger Nationen einer Gruppe von verarmten Staaten mit einer sehr bescheiden lebenden Bevölkerung gegenüber. Trotz all der kommunizierenden Röhren, die zwischen den Staatengruppen immer in einem gewissen Sinne den gegenseitigen Status beeinflussen, wird kein Ausgleich sichtbar sein zwischen jenen Völkern auf der einen Seite, die das uns aus der Zeit vor dem Kriege wohlbekannte Leben des materiellen Wohlergehens und der Gewaltpolitik fortsetzen und den Völkern auf der anderen Seite, die das proletarische Problem, und mehr als dieses, das Problem der Gesellschaft überhaupt, so weit das überhaupt denkbar ist, gelöst haben, und sich dadurch eines Maßes von innerer Unabhängigkeit erfreuen, die jener Außenwelt zugleich ein Rätsel, eine Enttäuschung und ein unerreichbares Vorbild sein muss. Nicht aufreizende Flugschriften der marxistischen Agitation sind dazu nötig, es genügt das bloße Dasein des deutschen Volkes in seiner Erneuerung, die in uns auf dem sozialen Gebiet schon in der Vorgeschichte der Revolution durch die biedere Neigung der Deutschen zur Sozialpolitik des Kathedersozialismus vorbereitet war; und nun in seiner geistigen Wiedergeburt, die kommen muss. Dann in der Tat ist das Problem des Weltkrieges, den die Russen auf ihre rohe Art in die proletarische Weltrevolution zu verwandeln trachten, aufs neue aufgeworfen. Die Formen der Revolution können in den westlichen Ländern nicht dieselben sein wie in Russland, wo die Massen eben nicht anders als proletarisch sind. Aber dann dürfen wir mit voller Ruhe abwarten und sagen: wir wissen noch nicht, wer der Sieger im Weltkriege ist.

Wenn ich nun auf die konkrete Lage der deutsch-russischen Beziehungen und der Zukunftsaussichten zu sprechen komme, so kann ich kurz sein, denn das wesentliche ist schon gesagt. Ich sprach es schon aus, daß ich an eine lange Dauer des jetzigen Zustandes in Russland nicht glaube. Eines Tages werden sich diese Zustände ändern, sei es durch Gewalten von außen, bei denen ich aber schon jetzt die Fähigkeiten der Entente außer Betracht lasse, sei es durch das Überwundenwerden der bisherigen bolschewistischen Regierungsweise durch den passiven Widerstand des Volkes. Die jetzige Regierungsform wird dann zunächst entweder einer sehr strengen Form der Restauration bis zur Monarchie Platz machen, wenn auch dieser Form nur eine kurze Lebensdauer vorauszusagen wäre, oder einer konzilianteren Form des Sozialismus, die das System der Räte beibehalten wird, aber zugleich bereit ist, die Aussöhnung mit dem Bürgertum zu vollziehen. Sie werden mir bemerken, daß einem solchen Russland das revolutionäre Deutschland sich weit leichter und mit weniger berechtigtem Misstrauen politisch und handelspolitisch werde nähern können als dem jetzigen, das durch die Vermessenheit seiner sozialwirtschaftlichen Experimente bisher den Handelsaustausch unmöglich gemacht und dem deutschen Industrietreibenden und Händler die größten Enttäuschungen verursacht hat. Dem gegenüber möchte ich doch das sagen: die Dauer und Intensität des gegenwärtigen Zustandes scheint mir auch für das künftige Russland von größter Bedeutung. Und ich möchte schließlich mit allem Nachdruck darauf hinweisen, daß ich eine auf die Beziehungen der breitesten Volksmassen und nicht ausschließlich der Bourgeoisien gestützte Politik Deutschlands Russland gegenüber für die Zukunft als die beste Gewähr des nützlichen wirtschaftlichen Austausches betrachte. Eine weit bessere jedenfalls als die Hoffnung auf die Wiederkehr einer Bourgeoisie in Russland, die eine Fortsetzung der früheren darstellt. Denn die alte russische Bourgeoisie, ich meine aber jene eigentlich junge liberale Bourgeoisie, die von Professoren wie Miljukow und von Industriellen wie Gutschkow und Rodsjanko geführt wurde, stützte sich schon vor dem Kriege und erst recht während des Krieges und keineswegs aus Zufall oder aus äußerlichen Gründen, auf den englischen Hyperimperialismus. Tschitscherin, der Kommissar des Auswärtigen in Moskau und ein sehr genauer Kenner Englands, hat mir einmal in seiner paradoxen Art gesagt: „Deutschland spielt durch seine Unterstützung der russischen konterrevolutionären Elemente in Russland nur den Engländern in die Hände.“ Er meinte damit nicht nur die kleinen Gefälligkeiten gegen einzelne russische Großindustrielle, Zeitungsbesitzer, ehemalige Staatsmänner und bürgerliche Politiker, denen wir während der kurzen Zeit unserer Macht in Russland aus Menschlichkeit Leben und Eigentum retteten, sondern auch die Unterstützung der Generäle Kaledin, Denikin und Krasnow und des Hetmans Skoropadski.

Wir können es vielleicht bald erleben, wie wahr der Satz des Tschitscherin gewesen ist. In den Jahren zwischen 1905 und 1915 bebesonders hat sich das russische, rasch reich gewordene Bürgertum durchaus an dem englischen Kapitalismus orientiert; es hat gleichzeitig gegen den sogenannten deutschen Imperialismus einen Feldzug aufgenommen. Der englische Imperialismus kam nach Russland nur mit seinem Gelde, mit dem Tennisschläger und der politischen Arbeit seiner Logen; der deutsche aber mit Menschen, mit seinen Werkmeistern, seinen Aktienbesitzern, seiner mittleren, kaufmännisch tüchtigen Intelligenz und mit dem Flottenverein. Nur eine kleine Gruppe der Ultramonarchisten blieb bis zuletzt deutschfreundlich, aber selbst Nikolai II. mit seinem Hof, der sonst aus vielen Gründen zur deutschen Parteinahme neigte, orientierte sich bezeichnenderweise englisch. England wiederum hat nicht nur im Kriege, sondern auch schon vorher, eine ungemein geschickte Propaganda für das getrieben, was es Freundschaft mit Russland nennt. Diese Propaganda geschah durch die große und die kleine Presse, durch Bücher und durch eine feine Art der Agitation in den Adult Sunday Schools, dem Zugang der zahlreichen, halbreligiösen Kreise. Es gibt in England eine beinahe populär gewordene Richtung der sogenannten Weißwäscher, nämlich der Weißwäscher des alten zarischen Russland wie auch des liberal revolutionären Kerenskischen Russland. Ihr Typ ist Stephen Graham, der ein Buch „Maria und Martha“ schrieb, worunter Russland und England zu verstehen sind. Der Mann, ein Stockengländer, der ein paar Jahre lang Korrespondent der „Times“ in Petersburg gewesen ist, geht gern im russischen Bauernhemd und im langen, russisch geschnittenen Haar. Er verherrlicht in dem genannten Buch das gläubige und fromme Russland, das wie eine Kirche sei und den unschuldigen russischen Muschik. Und dieses Buch, die Verherrlichung eines romantischen, in den Idealen des 16. Jahrhunderts schwelgenden Russlands, schließt mit dem bezeichnenden Hinweis auf das ökonomische Russland, das Land der billigen Arbeit und der billigen Rohstoffe. — Wir werden in Zukunft' ein ganz anderes Russland vor uns haben, ein sehr wenig naives, ein sehr unternehmendes, mit Ideen beschäftigtes, national und menschheitlich hell erwachtes Russland.

Wie weit die Verrussung der deutschen Revolution Tatsache und Möglichkeit ist, möge uns nicht allzusehr bekümmern. Wie wäre es aber, wenn wir eines Tages die Hoffnung der Kämpfer in Moskau verwirklichen, daß wir durch das Bild unserer eigenen deutschen Revolution, durch die Besonnenheit, Klarheit und Gutwilligkeit der Umwandlungen bei uns zu Hause, und später auch durch unsere Mitarbeit auf dem Boden eines neuen Russland, der russischen Revolution auf die Beine helfen. Sie rufen dringend nach uns und werden künftig noch mehr nach uns rufen. Das jetzige, herabgewirtschaftete Russland braucht intelligente Arbeitskräfte. Es hat Helfer, Werkmeister, Ingenieure in Menge nötig, um durch wirtschaftlichen Wiederaufbau das zu retten, was es durch seine Revolution erworben und zugleich aufs Spiel gesetzt hat, nämlich seine Freiheit als Volk und die Selbstbestimmung über sein Eigentum. Wir sollten bei uns in Deutschland den Fehler des russischen Bürgertums vermeiden, nämlich uns von der Mitarbeit an der Verwaltung und Förderung des Wirtschaftslebens zurückzuziehen, nachdem auch das Proletariat Hand auf diese Dinge gelegt hat. Wenn einige Hundert oder einige Tausend unserer Gebildeten, auf die es ankommt, in einer schlaflosen Nacht den Entschluss fassten, die proletarische Revolution zu verstehen und ihr durchzuhelfen (und ich meine damit etwas mehr als die beliebte Redensart von dem „sich auf den Boden der Tatsachen stellen“), so wären wir gerettet. Ich würde bezweifeln, daß uns andere Länder das nachmachen könnten, wenn einmal bei ihnen die ähnliche Krisis, die nicht ausbleiben kann, ausbricht. Das deutsche Bürgertum hat sich in der Vergangenheit, besonders aber während des Weltkrieges, in seinen Ideen und Zukunftshoffnungen auf den Militarismus gestützt. Es sollte nun, wo diese Stütze zerbrochen ist, nicht so sehr auf die Reparatur dieser zerbrochenen Stütze bedacht sein, sondern umlernen und sich auf die proletarischen Massen des deutschen Volkes stützen, damit so ein einiges Volk überhaupt wieder erstehe. Und es sollte also zunächst einmal, wie dieser Vortrag es versucht, die neuen menschlichen Ideen, als deren Träger jetzt das Proletariat aufgetreten ist, einer ruhigen Prüfung unterziehen.

Die Lehren des Weltkrieges und der Gang der politischen Entwicklungen im Osten Europas, daneben eine vielleicht mehr als nur ideelle Gemeinsamkeit der Verteidigung unserer Würde als zweier großer und freier Nationen, machen ein künftiges Bündnis Deutschlands mit Russland denkbar. Russland wird ja künftig nicht mehr unser unmittelbarer Nachbar sein. Viele Russen werden nach diesen Umwälzungszeiten nach Deutschland kommen, um zu lernen, viele Deutsche werden nach Russland gehen, um zu arbeiten. Es ist in unsere Hand gegeben, mit der Teilnahme am Aufbau eines neuen kulturellen Russland unser künftiges Werk auf russischer Erde tiefer zu verankern, als das in den vergangenen Generationen für das Werk der Deutschen in Russland, das durch den Weltkrieg zusammenbrach, gelungen ist. Ich fürchte nicht, durch meine Ausführungen über das revolutionäre Russland und die Deutschen mancherlei Bedenken, Zweifel und Widerspruch herausgefordert, ja selbst manchen Ehrlichen zur Resignation gestimmt zu haben. Wir leben in einer Zeit, die es uns gestattet, von Grund auf Neues zu denken und es auszusprechen. Diese Zeit der Revolution entschädigt uns für mancherlei Freudlosigkeit und Schwere in äußeren Dingen durch den Aufschwung der Ideen, durch die Innigkeit der Hoffnungen. Nichts wissen wir, alles denken wir. Vor uns Deutschen liegt jetzt eine Welt voll von Trümmern und neuen, noch unbegangenen Wegen. Verachtet oder als Brüder willkommen geheißen, daheim in unserem alten, umgewendeten Deutschland oder in der Fremde, immer wird man uns erkennen, niemals wird sich in unserem Gesicht jener alte tiefe und besondere Zug des Deutschen verwischen, jener ruhige Glanz des Auges, der da sagt: Das Reich muss uns doch bleiben.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Geist der russischen Revolution