9) Benehmen bei Abstattung von Visiten, besonders in den Häusern der Vornehmen und Großen

Bei Besuchen in vornehmern Häusern erfordert es die Sitte, dass man sich vorher anmelden lasse. Gegenvisiten, die wie Jemandem schuldig sind, dürfen nie lange aufgeschoben werden, wenn man sich nicht den Vorwurf der Unhöflichkeit zuziehen will. Bei Trauerbesuchen erfordert es der Wohlstand, dass man solche in schwarzer Kleidung abstatte.

Bei dem Eintritt in das Zimmer verbeugt man sich in der Entfernung gegen die ganze Gesellschaft, und zwar so, dass man damit gegen die Frau und den Herrn vom Hause beginnt und dann gegen die übrigen Anwesenden herumsehend, sich neigt, wonächst man wieder zu ersteren zurückkommt und ihnen näher tritt.


Große Pelze, Mäntel, Überröcke, Regenschirme u. dergl. nimmt man nicht mit in das Besuchzimmer; sie bleiben im Vorzimmer. Man spricht nur über solche Gegenstände, von denen man überzeugt ist, dass sie bei dem, welchem die Visite gilt, ein Interesse finden. — Man sehe nicht neugierig oder staunend im Zimmer herum, und erlaube sich besonders nicht, Schriften, Bücher oder andere Sachen anzufassen und von der Stelle zu rücken.

Bei dem konventionellen Verkehr mit Großen ist ein gewisser Grad von Ernst und Gesetztheit eine notwendige Bedingung. Sie, die selbst so gern Würde und Ernst in ihrer Erscheinung zeigen, verlangen auch diese Eigenschaften von denen, welchen sie den Zutritt zu sich gestatten. Hochachtung und Ehrerbietung müssen daher in unsern Mienen zu sehen sein. — Den Großen lasse man jederzeit das Wort führen und begnüge sich mit der Ehre, ihm auf feine Fragen zu antworten, oder bescheidentlich kurze Bemerkungen über dieses und jenes zu geben. Man trete durchaus mit keinem Widerspruche hervor, nehme an Allem, was er äußert und tut, sichtbaren Anteil, sei voll Aufmerksamkeit und Beflissenheit, seinen Wünschen zuvorzukommen, nenne ihn nicht seinen Freund, sondern seinen Gönner, gebrauche statt des bei Geringern passenden Worts Gefälligkeit oder Güte, wenn auch nicht das Wort Gnade (welches nur dem höchsten Wesen zukommt und Souveränen beigelegt wird), doch den Ausdruck Herablassung, und verstoße besonders nicht gegen die Titulatur.

Sollte auch eine hohe Person sich noch so sehr zu uns herablassen, und uns mehr wie ein Freund, denn als Gönner behandeln, so dürfen wir gleichwohl nicht Maß und Ton vergessen, mit dem wir anfangs mit ihr verkehrten, und wir handeln klug, wenn wir in einer gewissen Entfernung von denjenigen bleiben, welche nun einmal durch Stand und Geburt über uns stehen. Bei einem solchen Benehmen können wir nur gewinne, und uns der steten Gewogenheit solcher Personen versichert halten.

Scheint es uns, als habe der Große irgend Bekümmernis, so lasse man sich gar nicht merken, dass man ihm dergleichen ansehe, und spricht er mit uns von seinem Kummer, so frage man ihn nicht um die Ursache und hüte sich, als Rathgeber oder Tröster auftreten zu wollen.

Bei Aufwartungen drücke man sich so kurz als möglich aus und lasse seinen Besuch nur wenige Minuten dauern. So lange uns eine hohe Person nicht Platz nehmen heißt, lasse man sich nicht nieder; werden wir aber dazu genötigt, so müssen wir es nach mehrmaliger Aufforderung tun.

Damen hohen Ranges küsst man nur alsdann die Hand, wenn der Handkuss bei ihnen eingeführter Gebrauch ist, und in diesem Falle hebt man nicht etwa die Hand der Dame an seinen Mund empor, sondern man neigt sich tief und berührt bescheiden und ehrerbietig mit seinen Lippen die Hand, ohne solche im Geringsten zu drücken.

Beim Herausgehen aus dem Zimmer vornehmer Personen darf man denselben niemals den Rücken zukehren, sondern man sucht seitwärts und unter passenden Verbeugungen die Tür zu erreichen.