Die Rebezen (Rabbinerin) und das neue Kleid

Wer zu jener Zeit öfters durch die Alt-Ofner Judengasse gegangen wäre, hätte gewiss ein oder das andere Mal ein Männchen bemerkt, welches nicht nur seiner ungewöhnlichen Wenigkeit, sondern auch seines Amtes halber in der ganzen Gemeinde wohlbekannt und seines launigen unterhaltenden Umganges wegen, auch wohlgelitten war.

Wenn sich unsere Leser ein kleines, dünnes hageres Männlein von vier Fuß Höhe denken, welches durchs ganze Jahr mit Ausnahme des Versöhnungstages in einem schwarzen gefütterten Tuchrocke steckt, dessen Saum im Sommer den Staub und im Winter den Schnee fegt und welcher daher unten nur ein Paar Schuhe mit Schnallen und oben einen mit einem dreieckigen Hütlein bedeckten Kopf hervorschauen lässt, so haben Sie die vollkommene Gestalt und Tracht des Mosche Torn, wie er gleichsam eine stereotype Figur schon durch zehn Jahre unter der Alt-Ofner Gemeinde wandelte und die Dienste eines Schameß versah.


Nebst der erwähnten Eigenheit in seiner Kleidung besaß Herr Mosche noch eine Menge anderer Sonderheiten, die teils angeboren, größtenteils aber angewöhnt waren und die nicht wenig zur Ergötzlichkeit seines Umganges beitrugen.

So klein auch Mosche Torn von Gestalt war, wusste er sich doch als Schameß ein großes Ansehen zu geben und so schwach seine körperliche Konstitution schien, besaß er doch als Vorbeter und Sänger eine starke Stimme, eine Stimme — die zwar nicht angenehm und volltönend, sondern fein und kreischend war, die aber, wenn er beide Hände an die Backen stützte und mit dem Daumen die Kehle drückte, die Luft in eine solche Anzahl Schwingungen versetzte, dass die Alt-Ofner Schule bis in ihre Grundpfeiler erbebte.

Mosche Torn wohnte — wie wir bereits erwähnten — im Schulhof, dem Rabbi gegenüber, das Häuschen war klein, bot aber Bequemlichkeit genug dar, ihm und seine teure Ehehälfte aufzunehmen, die wir im Verlaufe dieses Kapitels leider zeitlich genug kennen lernen werden.

Am Samstag Morgen — ehe sich die Gemeinde zum feierlichen Gottesdienste versammelte — finden wir den Schameß, wie er langsamen Schrittes vor seiner Wohnung im Hofe auf und ab geht. So wie immer, hatte er den erwähnten Tuchrock an, aber er ist nicht zugeknöpft, das einzige Zeichen wodurch man Mosche Torn Sommer und Winter unterscheiden konnte — denn von Sukkes bis Pessach (vom Laubhüttenfest bis zu Ostern, d. i. vom Herbst bis zum Frühjahr) war der Rock von oben bis hinab geschlossen — eine schwarze Samtweste, die beinahe über den Bauch reichte, schaute bequem hervor.

Der Schameß hatte seine beiden Daumen rechts und links in die Ärmellöcher der Weste eingehängt, während seine übrigen Finger steif und ausgestreckt auf der Brust ruhten — diese Stellung pflegte er immer im Gehen zu wählen, wenn er über etwas Wichtiges nachzudenken hatte, so trippelte er auf und ab und summte einzelne Töne halblaut vor sich hin, die seine ganze Gesangskunst bildeten.

Kurz vorher war nämlich Reb Schmul der Rosch Hakohol in den Hof getreten und in die Wohnung des Rabbi gegangen, lieber diesen zeitlichen Besuch hatte sich der Schameß gar hoch verwundert. Denn wie er wohl wusste, lebten diese beiden Familien in sehr gespannten Verhältnissen.

Die Ursache dessen war die abschlägige Antwort, die Pinches, der Sohn des Rabbi, bei seiner Werbung um Channe erhalten hatte. Das verdross den stolzen Vater um so mehr, da man es zu jener Zeit als eine besondere Ehre ansah, wenn man einen Talmudisten als seinen Eidam begrüßen konnte.

Reb Mosche erschöpfte sich also über diesen Besuch in Vermutungen, allein er konnte nicht ins Reine kommen, endlich ergriff er das einfachste Mittel und trat in seine Wohnung.

Wie richtig er gewählt, das werden wir gleich erfahren.

Der Gottesdienst hatte bereits seinen Anfang genommen und die Gemeinde sich schon versammelt.

Oberhalb des Einganges der Schule war eine sehr geräumige Galerie angebracht, welche durch, ein hölzernes Gitter die Aussicht hinab in den unteren Raum der Schule gestattete. Dieser Ort diente den Frauen zum Betorte und führte den Namen Weiberschule.

An diesem Vormittage ging es in der Weiberschule — besonders aber in der Mitte der vordersten Reihe — sehr lebhaft zu. In jener Gegend saßen nämlich: Fradel, die würdige Frau des Rosch Hakohol, Bäle, die Frau des Rabbi und endlich Judeß, die zeitliche Ehehälfte des Schameß, der bereits der vierte Mann war, mit dem sie unter der Chuppe (Traualtar) gestanden hatte.

Wir halten für notwendig unsern Lesern einige charakteristische Umrisse dieser drei Weiber mitzuteilen.

In der Frau des Gemeindevorstehers haben wir bereits eine würdige Matrone kennen gelernt. Ohne sich um die andere Welt zu bekümmern, lebte sie nur ihrem Gatten und ihrer Tochter. Sie war fromm, gastfrei und wohltätig, Eigenschaften, die an ihr um so mehr geschätzt wurden, je seltener man sie bei einer und derselben Person vereint fand. Wiewohl ihr Mann zu den Wohlhabendsten der Alt-Ofner Juden gezählt wurde, verschmähte sie dennoch in ihrer Haushaltung jeden Aufwand und kannte weder Stolz noch Eitelkeit. So war Fradel.

Von der Frau des Rabbi können wir leider nicht so Lobenswertes berichten. Eine kleine, dicke Figur, mit einem breiten Gesichte, dessen volle Wangen und blinzende Augen den Stempel des Neides trugen, zeichnete diese Frau vor allen Andern aus. Sie war bereits in jene Jahre getreten, in welchen man ihr mit vollem Rechte den Namen eines alten Weibes hätte beilegen können; allein Frau Bäle gedachte wohl noch lange zu leben, jedoch alt wollte sie für alle Mal nicht werden und nicht heißen. Dieser Fehler entsprang natürlich aus einer übermäßigen Eitelkeit, welche sie alle Mittel ergreifen ließ, die Spuren zu decken, die die Zeit zurückgelassen hatte. Geschmeide, neue Kleider, reiche Hauben, so viel als die Vermögensumstände des Rabbi nur gestatteten, wurden angeschafft, um die eitle Zierpuppe herauszuputzen. Den größten Vorteil aus diesen Schwächen schöpften einige verschmitzte Talmudisten, die manches Butterbrot, manche gebratene Gansleber und andere Näschereien von der jungen Frau Rebezen herauszulocken wussten.

Ein würdiges Seitenstück zu dieser war Frau Judeß, des Schameß zeitliche Ehehälfte. Wenige Worte werden hinreichen, sie unsern Lesern ganz vor die Augen zu führen. Eine lange, knochendürre Gestalt mit einem eingefallenen Gesichte, welches mit einigen Warzen besetzt war; graue Augen, ein zahnloser Mund, bildeten ihre körperlichen Vorzüge, mit denen die geistigen im vollkommenen Einklange standen, denn sie besaß alle Eigenschaften eines bösen Weibes. Gewiss es hätte keinen geplagteren Ehemann auf der ganzen Erde als den Schameß gegeben, würde dieser nicht im Besitze einer praktischen Klugheit gewesen sein, welche ihn, ja nur ihn allein mit seiner Gattin gut auskommen ließ. Der Wahrheit gemäß müssen wir aber gestehen, dass Reb Mosche auch gewisse Ursachen hatte seinem Weibe nachzugeben, denn der Wochenlohn, den er von der Alt-Ofner Gemeinde erhielt, war ein unbedeutender und reichte kaum hin, seine häuslichen Bedürfnisse bestreiten zu können, viel weniger ein Wohlleben zu führen, wie es der Schameß gewohnt war; da musste nun Frau Judeß mit ihren Sparpfennigen aushelfen, welche sie durch ihre ganz eigenen Erwerbszweige zusammengescharrt hatte, Sie führte nämlich einen Separathandel mit alten Frauenkleidern, sie verstand die Kunst Gänse zu stopfen (gewaltsam überfüttern), die zwei- bis dreipfündige Lebern und doppelt soviel Schmalz produzierten, dann besaß sie eine besondere Fertigkeit darin, Gänsen, welche durch ungeschicktes Stopfen ein Körnchen in die unrechte Kehle bekamen, dasselbe herauszuwürgen; diese und noch viele andere Mittel brachten ihr manche Pfennige und anderweitige Geschenke, welche ihr als Zusatz zu ihres Mannes Wochenlohn recht gut zu statten kamen.

Doch nun zurück in die Weiberschule. Jede der Frauen, so wie überhaupt alle Übrigen hatte ein großes Gebetbuch vor sich, in welchem sie emsig lasen.

Anfangs war Alles ruhig und still, dann neigte sich Judeß, ohne die Brille abzunehmen, die ihr auf der Nase saß, zu ihrer Nachbarin zur Linken, der Frau des Rabbi und lispelte ihr einige Worte zu. Diese, ohne sich irre machen zu lassen, nickte beifällig mit dem Kopfe und murmelte weiter.

Dame Judeß betete auch wieder einige Zeilen, dann wendete sie sich abermals zur Linken und flüsterte: „Ihr habt heute frühen Besuch gehabt?“

Die Andere nickte zur Antwort seufzend mit dem Kopfe, dann aber schienen Beide wieder emsiger als früher in ihrer Andacht fortzufahren. Nach einer Weile nahm die Frau des Schameß ihre Brille von der Nase, legte diese in das Buch und wendete sich zur Frau des Rabbi: „Euer neues Kleid ist von schönem Stoffe, echt italienische Seide?“

Diese Anregung war für die Rebezen hinlänglich, dass auch sie ihre Brille abnahm und antwortetet „Ja liebe Judeß, alles echt, ich versichere Euch, kostet teures Geld, mein Sorach hat ihn von einem Lombarden gekauft“.

„Glaub’s gerne“, erwiderte Judeß mit einem frommen Blicke, „ich habe auch nie daran gezweifelt, aber es gibt schon Leute“, fuhr sie zweideutig fort, „die dieses tun“.

„So“, fuhr die eitle Frau des Rabbi zornig auf; denn, dass Jemand an der Echtheit ihres Kleides zweifle, das wäre ihr selbst im Traume nicht eingefallen. Dieses ,So‘ war das erste Wort, welches hinunter in die Männerschule drang, man schaute in die Höhe, stutzte, fuhr aber wieder im Gebete fort, als keine fernere Störung erfolgte, denn Frau Judeß hatte die Empörte am Arme ergriffen und auf ihren Sitz niedergezogen.

„Ja gewiss“, schmähte Bäle weiter, aber etwas leiser als früher, „ich kann mir schon denken, wer diese Neidbesessene ist, die mein neues Kleid schmäht, weil sie es mir nicht vergönnt“, dabei warf sie immer giftige Blicke auf die Frau des Gemeindevorstehers hinüber, „aber gerade deswegen will ich es fleißig tragen, täglich will ich es anziehen und an ihrem Hause vorübergehen und sie soll grün und gelb vor lauter Ärger werden, die Gaiwenikinn (Stolze), mein Pinches war ihr zum, Eidam zu schlecht, sie wird keinen Bessern kriegen, ich weiß es gewiß“ — die Stimme der Rebezen wurde im Eifer immer lauter — „sie soll sich ihre Channe aufheben, bis sie eine alte Mad (Maid) wird, ich will sie nicht mehr zur Schnur (Schwiegertochter) haben, so wahr ich Bäle heiße und Rebezen von Alt-Ofen bin“.

Trotz der Begütigungen ihrer Nachbarin wäre der Fluss ihrer Rede noch nicht versiegt, hätten nicht mehrere Mahnungen: „Still da droben, ruhig da drüben, still da voran“ usw. sie verstummen gemacht.

Aus der Männerschule wendeten sich jetzt alle Köpfe nach oben, wo ein vielstimmiges düsteres Murmeln ertönte, denn sämtliche Frauen unter einander, fingen das Vorgefallene zu besprechen und kritisieren an.

„Was ist das für ein Geplauder?“ rief eine Stimme hinauf.

„Die Rebezen, die Rebezen!“ schrieen mehrere Andere.

„Pst! Pst!“ zischte unwillig ein Andächtiger und klopfte mit der platten Hand auf sein Gebetbuch.

„Sie ist meschugge!“ schrieen einige Talmudisten, denen das böse Weib schon längst ein Ekel war.

Frau Bäle die sich nicht anders aus der Verlegenheit zu ziehen wusste, da aller Augen auf sie gerichtet waren, benutzte diese Zumutung und fiel in Ohnmacht.

„Weh geschrieen!“ kreischte oben ein Chor von Weiberstimmen.

Mehrere Männer eilten hinauf um zu sehen, was es denn gebe, indessen hatten viele Frauen die Flucht ergriffen, sie drängten die schmale Treppe hinab; die hinauf eilenden Männer kamen ihnen entgegen; Verwirrung herrschte über Verwirrung; Drängen, Stoßen, Drücken, nahm in dem engen Räume über Hand, um dieses noch zu vermehren, kam Judeß mit noch einigen andern Weibern, die ohnmächtige Bäle einherschleppend; als sie aber mitten in dem Chaos anlangten, mochte diese durch einige Stöße unsanft geweckt worden sein, denn plötzlich stand sie kerzengerade da, riss die grauen Augen weit auf und die Hand steif vor sich hinhaltend, machte sie sich Platz und rannte erbost durch den Haufen.

Judeß folgte ihr nach und erst zuhause erreichte sie vollkommen den Zweck, von der Rebezen die Ursache jenes frühen Besuches zu erfahren.

Als der Schameß aus der Schule kam, fand er seine teure Hälfte seiner harrend.

„Ihr habt heute droben ein schönes Purimspiel gemacht“, lächelte er und tänzelte dabei pendelartig bald auf diesen bald auf jenen Fuß, — dies war eine seiner üblichen Gewohnheiten.

Judeß ließ ihn nicht fortfahren: „Wer ist schuld daran“, rief sie höhnisch, „die dumme Rebezen — ich kann sie nicht ausstehen, die Eitle; stell Dir nur vor, sie sagt ihr neues Kleid hätte der Rabbi von einem Lombarden gekauft“.

„Kann schon sein“, ergänzte Reb Mosche gutmütig und setzte sich an den gedeckten Tisch, um das Frühstück einzunehmen.

„Was?“ schrie die Erboste, „bist Du auch so ein leichtgläubiger Narr, wo möchten sie das Geld dazu hergenommen haben, wie lange war schon keine reiche Chaßene und kein Briß (Hochzeit- und Beschneidungsfest, das wirst Du am besten wohl wissen.

Von der Wahrheit dessen war der Schameß vollkommen überzeugt und ein schwerer Seufzer vertrat die Stelle seiner Antwort, denn während des Essens, war er immer sehr wortarm. Judeß aber fuhr fort: „Das mag mir schon der rechte Lombarde gewesen sein, vielleicht Einer von unsern Leuten, dem sie es abgehandelt.“

„Lass das gut sein“, sprach der Schameß den Redestrom seiner Ehehälfte hemmend“, sag mir lieber, was Du in Betreff des frühen Besuches aus der Rebezen herausgebracht?“

,,Ei was“, erwiderte Judeß unwirsch, „eine Dummheit, über die zu reden es sich kaum der Mühe lohnt. Ein Bocher ist angekommen, der beim Rabbi zum Schir gehen will und dessen nimmt sich der Rosch Hakohol an und hat darüber mit diesem gesprochen.

Der Schameß sah es nun ein, wie wenig Ursache er hatte, neugierig zu sein und von seinem jetzigen Geschäfte zu sehr in Anspruch genommen, hatte er bald den Bocher, den Rabbi, die Rebezen und seine teure Ehehälfte vergessen. Das Letztere wundert uns am wenigsten.

Während dieses beim Schameß vorging, ereigneten sich beim Rabbi Szenen, die das Interesse des Lesers wohl mehr in Anspruch nehmen dürften. Die Wohnung des Rabbi hatte nebst dem Erdgeschosse eine geräumige Bodenstube, zu welcher eine schmale finstere Treppe führte. Wenn man durch diese trat, gewahrte man gegenüber zwischen den beiden Fensterchen einen hohen Schrank mit großen dicken Foliobänden vollgestellt, vor diesem stand ein breiter Armsessel an einem langen Tische, der quer beinahe die ganze Breite der Stube einnahm und von mehreren Bänken umgeben war. Sonst bot die Stube nichts Sehenswertes, die Wände waren grau und abgewetzt, der Boden schmutzig, die Bücher in dem Schrank bestaubt und der Tisch samt den Bänken schlotterig.

In dem Armsessel sitzt ein Mann. Ein langer schwarzseidener Kaftan umhüllt die hohe Gestalt, ein Samtkäppchen deckt sein Haupt, dessen Haare an der Seite und rückwärts unbeschnitten hinabrollen; starke Brauen beschatten zwei große blitzende Augen, seine Stirne in Falten gelegt verrät Tiefsinn und die etwas aufgezogenen Mundwinkel einen düstern cholerischen Charakter. Ein schwarzer Bart wallt lang und breit über die Brust hinab und gibt dem Eigentümer ein wildes Ansehen. Dieses ist Reb Sorach, der damalige Rabbi von Alt-Ofen.

Nach einer Weile öffnet sich die Türe, ein Jüngling tritt schüchtern ein und bleibt vor dem Rabbi stehen.

„Bist Du das Bocherl, welches erst gestern angekommen?“ fragte der Rabbi.

,,Ja“, antwortete jener.

„Du heißt?“

„Noße.“

„Was hast Du bisher gelernt?“

„Tora und Tnach“.

Der Rabbi hatte seine linke Hand auf dem Arm des Sessels liegen, während er mit der Rechten seinen Bart fasste und vom Kinn bis hinab streichelte; unten am Ende angelangt bog er denselben aufwärts, nahm ihn zwischen die Lippen, dann ließ er ihn wieder los und wiederholte das frühere Spiel.

„Nur Tora und Tnach?“ sprach er zum Bocher, „wie alt bist Du?“

„Achtzehn Jahre.“

„Hast noch viel zu wenig gelernt für Dein Alter. — Bist Du fromm?“ fuhr der Rabbi in seinen Fragen fort.

„Der Glaube meiner Väter ist mir über Alles“, erwiderte der Bocher.

„Hältst Du alle Fasttage im Jahre?“

„Ja“.

„Auch die Halbfasttage?“

„Ebenfalls“.

„Meine Schüler“, fuhr der Rabbi fort, „müssen, mit dem Psalmisten zu reden, in die Fußstapfen der Frommen treten und die Wege des Gerechten gehen. Nimm Dir ein Beispiel an meinem Sohne Pinches, er lernt den ganzen Tag hindurch“.

„Wo denn?“ fragte der Bocher schüchtern,

„Bei seinem Freunde Scholem“, entgegnete Rabbi Sorach, „ich hoffe, ihr werdet euch in Güte vertragen, denn Streit- und Zanksüchtige werden nicht geduldet. Morgen früh um die achte Stunde kannst Du Dich hier einfinden“.

Noße entfernte sich aus der Stube. „Armer Vater!“ dachte er, während er die finstere Treppe hinabstieg, „Du kennst Deinen Sohn nicht, einen Abtrünnigen hast Du aufgezogen, der nicht würdig ist, Deinen Namen zu tragen. ,Wehe‘, wirst Du rufen, wenn Dir einst die Augen geöffnet werden“. Jetzt war der Bocher unten angelangt, als ihm in dem kleinen Vorhause eine Jungfrau entgegen trat bei deren Anblick er unwillkürlich einen Augenblick stehen blieb. Eine majestätische Gestalt von üppig schwellender und doch zarter Körperform bestach im ersten Augenblick den Jüngling, um ihn dann erst auf die feineren Nuancen ihrer Schönheit aufmerksam zu machen. Das schön gezeichnete Profil ihres ovalen Antlitzes, die in Rosenflammen erglühten Wangen, das dunkle Glutauge mit den weichen Seidenwimpern, alles war von Anmut und Liebreiz überfüllt, alles zeigte Wärme und Leben. Und diese Huldgestalt stand dem Bocher gegenüber, ließ die Feuerstrahlen ihres Auges wohlgefällig auf ihm ruhen. Ihm aber trat unwillkürlich ein anderes Bild vor die Augen, er zuckte zusammen, schlug seinen Blick zu Boden, als fürchte er schon zu lange in diesem Anblicke geschwelgt zu haben und taumelte hinaus. Die Jungfrau blieb noch lange regungslos auf den Platze stehen, ihr Auge war stier auf einen Punkt geheftet, ihre Gedanken folgten dem Bocher. „Der oder keiner“, rief sie leidenschaftlich, und stürzte in die Stube zu ihrer Mutter. Es war Jentel die Tochter des Rabbi.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Fluch des Rabbi