Die Familie des Rabbi und des Rosch Hakohols

Nachfolgende wichtigere Vorfallenheiten drängen sich heran und wir sehen uns gezwungen, die Begebenheiten der nächsten Wochen im Kurzen zu erwähnen.

Der Rosch Hakohol nahm sich väterlich des armen Talmudisten an. Der würdige Mann fand Wohlgefallen an dem unverdorbenen unschuldigen Jüngling. Er verschaffte ihm bei einer armen alten Witwe eine Wohnung und verwendete sich bei anderen wohltätigen Familien, dass der Bocher an jedem Tage der Woche bei einer andern, am Freitage und Samstage aber bei ihm selbst zu Gaste erschien.


Dies nennt man ,Tag essen‘ und die meisten Talmudisten wurden auf diese Weise unterstützt, freilich gab es Häuser, wo man solche Wohltaten nicht aus einem angeborenen Wohltätigkeitssinne, sondern nur aus Vornehmtuerei, oder um jeden Verdacht des Geizes zu beseitigen ausübte, aber ein solcher Fall fand bei Noße nicht statt, er wurde überall gerne gesehen und freundlich aufgenommen.

Sonderbar war sein Verhältnis im Hause des Rabbi. Dieser war, so wie überhaupt alle Gelehrten seines Faches, ein von der Welt ganz abgeschlossener Mann. In seiner Bodenstube unaufhörlich mit dem Studium des Talmuds beschäftigt, war er nur durch die Bande seines Amtes an die menschliche Gesellschaft und durch die der väterlichen Liebe an seine Familie gekettet; seine Gattin achtete er als Hausfrau, barg aber für sie kein Fünkchen Liebe im Herzen. Ihr eitles Treiben war ihm bis in die Seele zuwider; allein er wollte den Frieden seines Hauses nicht stören, überließ sie ihren Mängeln und Fehlern und trat nur dann als befehlender Gatte auf, wo es sich um die Entscheidung wichtigerer Angelegenheiten handelte. Desto inniger aber hing er an seinen beiden Kindern; mit all der zärtlichen Liebe eines Vaters die ein solcher zu fühlen nur im Stande ist, behandelte er sie mit nur zu viel Nachsicht, zeigte ihnen diese bei jeder Gelegenheit und verdarb sie dadurch. Er übernahm die Erziehung seiner Kinder erst als sie schon etwas erwachsen waren, früher hatte er diese seiner Frau überlassen. Allein Bäle war viel zu geistesbeschränkt, als dass sie einer solchen mit Würde hätte vorstehen können, sie war zu sehr Affenmutter um die Strenge der Erzieherin handhaben zu können, dadurch wurden nun Pinches und Jentel verdorben.

Sie besaßen alle Eigenschaften schlecht erzogener Kinder, nur mit dem Unterschiede, das Pinches durch böses Beispiel und leichtsinnige Kameradschaft verführt, vollkommen missraten war, während Jentel nur ein verwöhntes Töchterlein wurde, welches eigensinnig, launig und leidenschaftlich, nie gewohnt war sich einen Wunsch zu versagen, viel weniger aber Gefühle oder Leidenschaften zu unterdrücken, oder ihnen gar durch Überlegung einen Damm zu setzen.

Als nun Noße täglich in dieses Haus kam, berührte es ihn sehr unangenehm mit Pinches und Scholem so oft in Gesellschaft sein zu müssen. Seitdem er jene Szene in der Schlafstatt belauscht hatte, war Verachtung gegen die Teilnehmer derselben in seinem Herzen eingezogen. Diese mochten es wohl bemerkt haben und vergalten Gleiches mit Gleichem, allein beide Parteien hatten Ursache ihre Gefühle zu verheimlichen. Noße weil er gleich anfangs nicht als zänkisch auftreten und den Rabbi nicht kränken wollte, die Andern aber weil sie einen solchen gefährlichen Mitwisser — was er ihren Vermutungen nach war — nicht zur Angabe reizen wollten. So glühte also das Verderben unter der Asche der Gleichgültigkeit, sollte aber nur zu bald hervorbrechen.

Ganz anders war es mit Jentel. Die Tochter des Rabbi hatte den Bocher kaum gesehen, als sie in Liebe zu ihm entbrannte und wenige Tage waren hinreichend in ihrem Herzen eine Flamme anzufachen, die schonungslos um sich griff und unbändig die Ruhe desselben verzehrte. Sie hatte die Überraschung des Bochers bei ihrer ersten Zusammenkunft für etwas Anderes genommen, als sie es wirklich war und sie falsch beurteilt. Sie mochte von sich auf ihn geschlossen und das Erwachen einer Leidenschaft vermutet haben, während es nichts anderes als eine augenblickliche Verwunderung, die Aufwallung eines Schönheitssinnes war, wie man sie empfindet, wenn man plötzlich vor einem schönen Bilde stehen bleibt, welches wohl auf die Sinne wirkt, ohne aber das Herz zu bestechen. Auf einen Verdorbenen, wie Scholem war, mochte der Eindruck den Jentel hervorbrachte, wohl ein tiefer sein, allein trotz seinen Bewerbungen, seinem Drängen und Bitten, trotz des Zuredens ihres Bruders konnte sie keine Neigung zu ihm gewinnen, während Noße ohne seinen Willen als ein König in ihrem Herzen thronte. Der arme Bocher war froh, ihm fiel ein Stein vom Herzen, wenn er das Haus des Rabbi im Rücken hatte, ein sonderbares drückendes Gefühl bemächtigte sich seiner, sobald er dessen Schwelle übertrat und verließ ihn nicht eher, als bis er wieder aus der Türe desselben kam.

Wie ganz anders war es, wenn er sich in dem Hause seines Wohltäters des Rosch Hakohols befand. Hier war er kein Fremder, hier kam man ihm nicht falsch, nicht eigensüchtig entgegen. Das würdige Ehepaar behandelte ihm wie einen Sohn, freundlich, liebevoll und aufmerksam. Die Tage, die sie ihm gastfreundlich eingeräumt hatten, waren für ihn die Festtage der Woche, die Stunden in ihrem Hause, Götterstunden. — Mit jugendlicher Ungeduld sah er ihnen wieder entgegen, wenn sie auch erst verflossen waren. Und Channe, wie lieblich stand sie vor ihm. Wie anmutsvoll, wie keusch war ihr ganzes Wesen, sie schien Ihm mit jedem Tage reizvoller und huldreicher, so oft er sie sah, glaubte er einen neuen Strahl in dem Kranze ihrer Unschuldsglorie auftauchen zu sehen, jeder Blick war eine neue Fessel, die sein Herz mit Rosenbanden in die Nähe der schönen Jungfrau zog. Oft konnte er sich nicht enthalten, das Bild der Rabbitochter in Gedanken an ihre Seite zu stellen, nicht etwa als ob seine Wahl zwischen Beiden noch geschwankt hätte, nein, er tat es nur — und das mit Lust — um Channe aus dem Vergleiche als strahlende Siegerin auftauchen zu sehen. Channe und Jentel. Zwei Wesen, jedes mit allen körperlichen Vorzügen ausgestattet, jedes ein Meisterstück der Schöpfung, in jedem glaubte man den Born der Schönheit und Anmut bis zur Neige verbraucht und dennoch so verschieden von einander.

Es ist ein eigenes Geheimnis der vielgestaltigen Natur, Bilder hervorzuzaubern, deren jedes einzeln betrachtet, unübertrefflich da zu stehen scheint, während dann beide gegeneinander gehalten, die frühere Vermutung vernichten und uns plötzlich eine wo möglich noch erhöhte Verwunderung abzwingt, die Wahl zwischen Beiden erschweren.

Aber diese beiden Jungfrauen, so körperlich vollendet, waren doch sehr verschieden von einander! — der Unterschied lag aber in ihrer geistigen Beschaffenheit, in ihrem Charakter.

Channe schien ein holdseliges Kind, dem Anmut und Sanftmut auf dem Antlitze geprägt war, dem Frohsinn auf der Stirne thronte und Duldung aus den Augen strahlte; sie war ein Wiesenblümchen, unschuldsvoll ersprossen und anspruchslos fortblühend; so nur konnte Mutter Eva aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen sein, so nur konnte Rüfka an der Quelle dem Diener Abrahams den Wasserkrug reichen. Ganz anders erschien Jentel. — Ein stiller Ernst sprach aus ihren Mienen, leidenschaftliche Glut blitzte aus den Augen, sie schien nicht zum Dulden sondern zum Befehlen geschaffen, sie warf sich unwillkürlich zum Herrn des Mannes auf, während sie sich selbst nicht zu beherrschen vermochte; ihr Busen barg ein Heer von Leidenschaften, die einer Schlangenbrut ähnlich in demselben ruhten, aber noch vom tiefen Winterschlaf befangen waren. Nur des ersten Sonnenstrahles bedurfte es, um sie zum Leben zu erwecken und — dieser war ihr bereits ins Herz gefallen. Channe war ein passiver, Jentel ein aktiver Charakter, jene wirkte aufs Herz, diese auf den Verstand, jene gewann durch Gefühle, diese durch Sinne; Channe endlich wusste nicht, dass sie siege, während Jentel im Voraus schon die Folgen ihrer Eroberung berechnete. So hatte das Schicksal diese Menschen zusammen getragen und entgegengestellt, die dazu ausersehen waren, ein Schauspiel traurigen Inhaltes auf ihrer kleinen Lebensbühne darzustellen. Liebe und Hass — die Universalleidenschaften traten auch hier in Konflikt gegeneinander, um sich zu bekämpfen und zu bekriegen, nur mit dem Unterschiede, dass von dieser Bühne nach Beendigung des Trauerspieles die Toten nicht so, wie von jenen Brettern, die die Welt bedeuten, wieder auferstanden, sondern dass sie verscharrt liegen blieben, vermoderten und jetzt noch immer der allgemeinen Auferstehung harren.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Fluch des Rabbi