Der fahrende Talmudist

Die Sonne war im Scheiden und umfing mit ihren Strahlenarmen zum letzten Male das alte Buda; der Glanz des Tages erlosch und machte dem abendlichen Dunkel Platz, welches von den umliegenden Bergen herabzusteigen schien.

Es war an einem Freitage, die Sabbatfeier musste bald ihren Anfang nehmen, denn in der Judenstadt zu Alt-Ofen sah man die Nachkommen des alten Volkes in festlichem Gewändern gehüllt, nach ihrer Schule eilen, um mit feierlichen Gebeten den Sabbat zu begrüßen.


Ein kleiner, höckeriger Mann zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Ein dreieckiger Hut deckt sein Haupt, ein grauer abgenützter Tuchrock, ein Beinkleid unter den Knien mit Schnallen befestigt, schmutzige, durchlöcherte Strümpfe und eben solche Schuhe kleiden die übrigen Teile seines Körpers. Das faltige Antlitz verrät eine bedeutende Anzahl von Lebensjahren, ein dünnes mit gebleichten Haaren untermengtes Bärtchen bedeckt das hervorragende Kinn und zwei graue Augen flimmern unstet über die breitgedrückte Nase hinweg.

Aber weder seine Gestalt, noch seine Kleidung ziehen ihm in diesem Augenblicke unsere nähere Beachtung zu, sondern sein Treiben, sein Geschäft ist es, welches ihn vor allen Andern auszeichnet und keine unwichtige Person in unserem Gemälde werden lässt.

Wir begegnen dem Höckerigen, wie er eben mit einem hölzernen Hammer in der Hand hastigen Schrittes durch die Gassen eilt und die Einwohner eines jeden Hauses mittelst drei kräftigem Schlägen an der Tür zum Gottesdienste ruft.

Es ist also Niemand anders, als die lebendige, immerwandernde Glocke Schlome (Samuel) Holländer genannt, wohlbestellter Schulklopfer der Alt-Ofner Judengemeinde im Jahre 5291 seit Erschaffung der Welt oder 1530 nach christlicher Zeitrechnung.

Während er auf diese Art die Runde machte, schritt von der Neustift herüber ein einsamer Wanderer dessen ganzes Wesen einen fahrenden Talmudisten verriet, wie sie zu jener Zeit auf allen Wegen und Straßen besonders aber in der Nähe größerer Judengemeinden häufig anzutreffen waren. Der junge Mann, kaum achtzehn Sommer mochten über sein Haupt hinweggeflohen sein, schien weiten Weges herzukommen. Seine armselige Kleidung, welcher er schon längst entwachsen war, denn er mochte sie wahrscheinlich schon an seinem dreizehnten Geburtstage an dem bei dieser Gelegenheit stattfindenden Bar-Mizwe-Feste erhalten haben, war ganz bestaubt, seine Fußbekleidung schadhaft und sein schwarzes Hütlein beinahe formlos. An einem über die rechte Schulter gelegten Knotenstocke hing rückwärts ein kleines Päckchen, welches die ganze Habe des Jünglings barg, der in diesem Augenblicke mit dem griechischen Philosophen ganz getrost hätte ausrufen können: „Alles, was mein ist, trage ich mit mir!“ Allein Noße Traun war nur ein armer Bocher, der sich bisher um die Griechen und ihre Philosophie gar wenig bekümmert hatte und der jetzt nach Alt-Ofen wanderte, um dort bei dem vielgelahrten und deswegen auch weitberühmten Rabbi Sorach zum Schir (Vortrag) zu gehen und sich in die Geheimnisse des Talmud einweihen zu lassen.

Der günstige Zufall führte den müden Wanderer gerade dem Schulklopfer entgegen als dieser eben sein Geschäft vollbracht hatte.

„Schon wieder ein Orach“ (Gast) brummte Schlome, als er seiner ansichtig wurde, „die Schlafstatt ist heuer noch keinen Samstag leer geblieben.

Der Bocher mochte den Unwillen auf dem Antlitz des Höckerigen erkannt haben, er ließ sich aber nicht beirren und trat ihm frei entgegen.

„Verzeiht mir, guter Freund“, redete er ihn höflich an, „ich bin fremd und arm, könnt Ihr mir nicht die Schlafstatt ...“

„Kommt nur mit“, unterbrach ihn der Andere unwillig, „ich weiß schon was Ihr suchet. Der Schabes ist schon eingegangen, Ihr hättet Euren Schritt verdoppeln sollen, um keine Sünde auf Euer Haupt zu laden“.

„Der Weg von Stuhlweißenburg“, erwiderte Noße entschuldigend, „ist gar lang“.

„Ja, ja“, lächelte Schlome spöttisch, „besonders, wenn man des Schnorrens (Betteln) halber an jeder Türe klopft ....“

„Ihr klopft ja auch an jeder Türe, antwortete der Bocher spitzig.

„Ich rufe die Leute in die Schule, damit sie beten und selig werden“, entgegnete der Schulklopfer.

„Und ich“, antwortete der Bocher schnell, „fordere die Leute zum Wohltun auf, wodurch sie noch eher in die Gesellschaft der Frommen gelangen“.

Schlome, welcher sich unerwartet geschlagen sah, schwieg und indem er einige unverständliche Worte vor sich hinmurmelte, verdoppelte er seine

Schritte um desto eher seine eigene Wohnung, „die Schlafstatt“ zu erreichen.

Der Unwille über die Ankunft des armen Fremden lag im Interesse des Schulklopfers. — In einem schmutzigen finsteren Gässchen war diesem von der Gemeinde ein Häuschen gemietet, welches nur zwei elende Kämmerchen zur Wohnung darbot. Diese waren durch einen schmalen Raum getrennt, an den sich rückwärts eine Küche anschloss. Das vordere dieser Behältnisse war dem ledigen Schlome eingeräumt, das rückwärtige aber diente durchreisenden Armen zur Herberge, welche der Schulklopfer bloß mit einer Schlafstätte zu versehen verbunden war und die deswegen auch die Schlafstatt genannt wurde. So war es damals.

Die Alt-Ofner Schlafstatt bot damals einen nicht gar erquicklichen Anblick dar, dieses war wenigstens in dem Augenblicke der Fall, als die Türe durch den Schulklopfer geöffnet wurde, und der fahrende Talmudist eingetreten war.

Eine feuchte dumpfe Luft wehte ihm entgegen und beengte seinen Odem, so dass er schleunig einige Schritte seitwärts trat, das kleine, mit einer Ochsenblase überzogene Fensterchen aufriss und frische Luft hereinströmen ließ; dann erst vermochte sein Blick den dunklen Raum zu durchstreifen.

Finster und schwarz, jeder Übertünchung vielleicht schon jahrelang entbehrend, standen die niederen Wände da, schmutzige Betten, welche nur ein hartes Strohlager darboten, waren an diese ringsherum angedrückt, ein halbzerbrochener Kachelofen stand in einer Ecke, eine Bank und ein Tisch vollendeten endlich die Einrichtung der Armenherberge. Ihr höckeriger Bestandhaber mochte wahrscheinlich nicht Zeuge des üblen Eindruckes sein, den ihr Anblick auf den eben eingetretenen Gast hervorzubringen versprach, deswegen eilte er schnell davon und ließ den armen Talmudisten allein.

Dieser warf sein Päckchen auf den Tisch, streifte eiligst den Staub von seiner Kleidung und verließ die unfreundliche Behausung.

Auf der Gasse war es indessen dunkler und ruhiger geworden. — Hin und wieder sah man nur einzelne Frauengestalten, die sich zu Hause etwas verspätet hatten in die Schule eilen. Dienstmädchen streiften noch mit vollen Töpfen und Becken nach verschiedenen Richtungen; das wüste Getümmel eines Wochentages war verstummt und feierliche Stille hatte seine Stelle eingenommen. Nach und nach erglänzten die Fenster, denn an den siebenzackigen Lampen wurde von den frommen Hausfrauen das Gebet gesprochen, gewiss die ganze Straße wäre von dem durch die meist niederen Fensterchen herausfallenden Strahlenglanze taghell erleuchtet worden, hätten ihn nicht die damals allseits gebrauchten Vorhänge in einen matten Dämmerschein verwandelt.

So war es auf der Gasse, als Noße Traun über dieselbe in die Schule eilte.

An der schmalen Seite eines rechteckförmigen Hofes stand ein niederes ziegelgedecktes Gebäude, die Außenseiten boten dem Auge des Beschauers nur dunkle Wände und kleine Bogenfenster dar, welch letztere durch ein kleinlöcheriges Drahtgitter verwahrt waren, wenn man von der Gasse den Hofraum betrat, so befanden sich rechts und links zwei kleine Häuschen, hinter diesen war ein leerer Raum, dann kam man zu dem Eingang des erwähnten Gebäudes.

Das Häuschen rechts bewohnte Rebb Sorach der Rabbi, das andere aber Reb Mosche Torn, der Schameß (Tempeldiener), das Gebäude im Hintergrunde selbst war die Synagoge, oder, wie sie die Juden nannten „die Schule“ der Alt-Ofner Juden-Gemeinde.

Wer mit dem jungen Talmudisten zugleich in den Schulhof getreten wäre, hätte ein ungeheures Getöse vernommen, welches von dem erleuchteten Gotteshause heraufdrang. Es war ein wirres, regelloses Geschrei von vielen Stimmen zusammengesetzt, die nach und nach verhallend in kurzen Zwischenräumen gleichsam mit erneuerter Stärke wieder begannen. Die Gemeinde war im Gebete begriffen

Als Noße durch die offene Pforte trat, gelangte er in eine kleine Vorhalle, gegenüber befand sich die Schultüre, rechts von dieser hing ein Kupferbecken zum Waschen der Hände bestimmt, mehrere Sitze füllten den Raum, den nur eine dünne Wand von der Schule trennte; geräumige Öffnungen, die mit schwachen Holzstäben verwahrt waren, gewährten einen bequemen Anblick in das Innere des Tempels.

Der Talmudist, nachdem er sich an dem Wasserbecken die Hände benetzt und mit einer Verneigung ein kurzes Gebet gesprochen hatte, blieb in der Vorhalle stehen, denn er wusste es nur zu gut, dass diese zur Betstelle für arme Fremde bestimmt sei.

Von der Reise ermüdet hatte sich der Jüngling auf eine Bank niedergelassen, die Ruhe tat dem erschöpften Körper wohl, mitten in dem begonnenen Gebete plötzlich innehaltend, verstummten seine Lippen, die Seele verlor sich in das geistige Anschauen vergangener Tage, verloschene Bilder tauchten wieder frisch vor seinen Blicken auf, er war nicht mehr der vom Schicksale unter fremde Menschen geworfene, nicht mehr der von allen Verwandten und Freunden verlassene Jüngling, er war wieder das Kind im Vaterhause, der von lieben Eltern, Geschwistern und jugendlichen Gespielen umgebene Knabe, er sah sich wieder in der Stube, wo ihn die Mutter als Säugling geschaukelt, wo der Vater über ihn an jedem Feiertage den Segen gebetet; als alle diese bunten Glücksszenen sich in seinem Innern geschäftig herumtummelten, als sie ihn, wie an zauberhaften Rosenbanden in die Vergangenheit zurückzogen, da schlossen sich unwillkürlich die matten Augenlider, nach und nach erlosch der Farbenglanz der Bilder, immer dunkler wurde es in seiner Seele, der Schlaf senkte sich bleiern auf ihn herab, er war zu erschöpft, als das Träume ihn umgaukelt hätten, das verworrene Getöse aus dem Bethause drang dumpf an sein Ohr.

Plötzlich fühlte er sich durch ein heftiges Rütteln aus dem Schlafe geweckt, erschreckt taumelte er auf, eine lange hagere Mannesgestalt stand vor ihm und gebot ihm zu folgen.

Noße gehorchte.

Eines der ausgedehnten Häuser Alt-Ofens war das Ziel, welchem der Talmudist samt seinem Führer entgegen gingen.

Wenn man aus der größtenteils schmutzigen Umgebung in das Innere jenes Hauses trat, war man um so angenehmer überrascht, hier nicht nur Reinlichkeit, sondern auch Ruhe, Ordnung und Pünktlichkeit anzutreffen.

Der Hof war leer, weder Fässer, Fuhrwerke, Kisten noch andere Wahrzeichen des Handlungsgeistes waren hier zu schauen, unerquickliche Kehrichthaufen, wie man sie damals vor und an den Judenhäusern nicht selten aufgeschichtet fand, suchte man hier vergebens, die Wände einer kleinen Vorhalle waren weiß übertüncht und der Ziegelboden derselben blank gescheuert. Von da aus führte eine Türe in die große Stube. Hier herrschte eine heilige Stille. Von der Mitte der Decke hing eine siebenzackige Lampe herab, sie war keineswegs aus kostbarem Metall, doch so blank gerieben, dass man sie dafür hätte halten können, unter derselben stand ein langer viereckiger Tisch, mit einem weißen Tuch überlegt, zwei Wachskerzen brannten in silbernen Leuchtern, überdies war er mit zinnernen Tellern, silbernem Esszeuge und eben solchen Bechern besetzt und mit Stühlen umgeben. Obenan stand ein großer gepolsterter Armsessel, auf dem Teller vor demselben lagen zwei weiße unangeschnittene Brote, die ein kleines Tuch überdeckte, nebenan stand eine mit Wein gefüllte Flasche, dies Alles galt als Zeichen, dass hier der Sitz des Hausvaters sei.

Ringsum an den Wänden blickten von dem braunen Gesimse nett gescheuerte zinnerne Teller und Schüsseln herab, unter diesen hingen mehrere Bilder, Adam und Eva im Paradiese, ein gehörnter Moses, König David mit der Harfe, noch viele andere heilige Männer und endlich ein großgemalter Mogen David; zwei übereinandergestellte Dreiecke mit verschiedenen Buchstaben beschrieben.

Diesem Symbol legte man in früherer Zeit Wunderkräfte bei.

Ein duftiger Odem wehte durch den stillen Raum, der Sabbat war friedlich eingekehrt und eine patriarchalische Ruhe herrschte im ganzen Hause.

In der Stube, die wir hier beschrieben haben, befanden sich zwei Frauengestalten, in denen man im ersten Augenblicke Mutter und Tochter zu erkennen im Stande ist.

Die Erstere sitzt seitwärts an einem mit buntfarbigem Teppiche überdeckten Tischlein, ihr faltenreiches Seidenkleid wallt beiderseits lang hinab und umhüllt die stattliche Gestalt der alten Frau.

Eine goldgestickte Haube, unter welcher aber das um die Stirne gelegte schwarze Samtband breit genug hervorschaut, deckte ihr Haupt; Perlen, Korallen und anderes Geschmeide zieren den Hals.

Die Züge ihres Antlitzes verraten dagewesene Schönheit, allein die treulosen Jugendgefährten waren längst gewichen und ließen nichts als den Stempel des Friedens zurück.

Sie hatte ein großes Buch vor sich liegen und las andächtig in demselben.

Auf einem Schemel zu ihren Füßen saß die andere Frauengestalt, eine Jungfrau, lieblich wie ein Veilchen, wenn es zum erstenmal in den stillen Frühlingsmorgen schaut. Ein einfaches Kleid umhüllt den zarten Leib, ein feines Gewebe deckt den jungfräulichen Busen, übrigens lehnte sie leer von Schmuck, ohne Zierde, einfach wie das Wiesenblümchen in dem Schoß der Mutter, schaute mit den schwarzen Kohlenaugen aufwärts, betete leise jedes Wort nach, welches die Matrone laut aussprach und während sich die Lippen zum Laute formten, bildeten sich zwei Grübchen in den Wangen, die von den seit- und rückwärts dicht herabhängenden etwas kurzen Ringellocken anmutig beschattet wurden.

Jetzt öffnete sich die Türe, zwei Männer traten ein, es war der Talmudist mit seinem Führer.

Die Jungfrau sprang rasch auf, eilte dem Letzteren entgegen, dieser legte beide Hände auf ihr Haupt und sprach den Segen über sie, dann kehrte er sich zur Matrone und sprach: „Ich habe Dir einen Gast mitgebracht es ist ein armer Bocher, wie mir der Schulklopfer sagte“.

„Seid mir willkommen in meiner Stube“, wendete sich die Hausfrau freundlich zu dem Jünglinge, „willkommen an meinem Tische“.

Noße dankte verlegen für den freundlichen Empfang, denn gleich beim Eintreten in die Stube hatte er die Jungfrau bemerkt; wohlgefällig ruhte sein Blick auf ihr, während der Vater sie gesegnet hatte, als sie dann den schwarzen Lockenkopf erhob und sein Auge in das ihre, in den Flammenpfuhl tauchte, da schlug er rasch den Blick zur Erde, Feuer glühte auf den Wangen und in dem verwaisten Herzen begann der Frühling des Lebens heranzukeimen, mit all den tausend Blumen, ihren Düften und Blüten, mit all den tausend Dornen, die ihre Spitzen tief in das jugendliche Herz senken, um es zu verwunden, und mit Rosenodem wieder zu heilen. Ja, als der Talmudist während des Abendmahles dem holden Kinde gegenüber zu sitzen kam und jeder ihrer Blicke sein Auge traf und er beim Erzählen seiner traurigen Schicksale sogar Tränen in den ihriger gewahrte, da vergaß er — trotz seines Hungers — der Speisen, die Müdigkeit hatte sich verloren und wie verjüngt saß er am Tische des gastlichen Herrn, der sich Reb Schmule Teweß nannte und Rosch Hakohol (Gemeindevorsteher) von Alt-Ofen war.

Das Abendmahl war beendigt, der Segen bereits gesprochen, die Dienstleute — denn auch sie aßen am Tische des Herrn — hatten sich schon entfernt, als auch Noße vom Mahle aufstand.

„Es versteht sich von selbst“, sprach der gastliche Herr zu dem Bocher, „dass ihr morgen wiederkommt; Ihr seid mir und meiner Fradel (Franziska) — so hieß die Hausfrau — „willkommen, schlaft recht gut, ich werde für Euch schon freundschaftlich Sorge tragen“.

Noße konnte sich nicht entfernen ohne die Hand des ehrwürdigen Mannes an seine Lippen zu drücken und eilte dann beseligt aus der gastfreundlichen Wohnung.

In der Schlafstatt war alles ruhig. Der Schulklopfer befand sich noch nicht zu Hause, als der Becher in dem Kämmerlein anlangte und sich auf eines der Betten warf. Ein Chaos von Gedanken durchstürmte seine Seele. Ein Glücksstern schien ihm am wolkenschwarzem Lebenshimmel aufgegangen zu sein, eine Feuerwolke, vom Herrn gesandt, die ihn trockenen Fußes durch die treulosen Schicksalswogen durchführen sollte, so mannigfach auch die Bilder der Zukunft waren, die sich flüchtig, eines das andere verdunkelnd, vor seiner Seele gestalteten, so war doch kein Einziges unter ihnen, im welchem die holde Tochter des Gemeindevorstehers nicht ganz im Vordergrund gestanden wäre und alle übrigen Staffagen verdunkelt hätte; bald sah er sich zu ihren Füßen liebebeseelt und wonnetrunken das Geständnis inniger Liebe stammeln; dann war er wieder Rabbi von Alt-Ofen, sie verwaltete, eine holde Gattin, sein Haus und ein Kreis von Kindern umsprang sie in fröhlicher Unschuld, dann — o schreckliches Bild — sah er sie wieder auf dem Boden liegen, mit dem schwarzen Tuche zugedeckt, das Neschome-(Seelen-)Licht zu ihrem Haupte; sie war tot, tot für ihn und die Welt.

Ein Geräusch von draußen entriss ihn diesem furchtbaren Gemälde seiner Phantasie, er vernahm Stimmen und Fußtritte, die sich dem Fenster seines Kämmerchens näherten. Ohne sich zu regen, blieb er einem Schlafenden gleich, auf dem Lager und schloss die Augen.

„Er schläft“, lispelte eine Stimme, in welcher er jene des Schulklopfers erkannte, „der Junge ist müd', er wacht nicht so leicht auf“.

„Der hört uns nicht“, versicherte eine andere Stimme.

„Zur größeren Vorsicht“, sprach ein Dritter leise, „schließen wir diese Türe von außen und die unsere von innen“.

Die Sprecher entfernten sich wieder. Gleich darauf hörte Noße, wie man die Türe seines Kämmerchens von außen leise schloss, dann verscholl das Geräusch, es war wieder still wie früher. Die Sprecher mussten sich bereits in der Wohnung des Schulklopfers befinden. Die Neugierde, das nächtliche Treiben der Männer zu erfahren, war in dem Jünglinge erwacht. Er erhob sich leise vom Lager, trat an das Fensterchen und öffnete es. Es war zwar schmal, allein mit weniger Anstrengung glaubte er sich doch durchwinden zu können, versuchte es und befand sich bald im Hofraum.

Geräuschlos schlich er an das Fenster der vorderen Kammer, allein es war dicht verhangen, so dicht, dass man das Innere der Wohnung für unerleuchtet hätte halten können. Einen Augenblick blieb Noße sinnend stehen, drinnen war alles ruhig, nur mit großer Anstrengung vermochte er ein zu ihm dringendes Geräusch zu vernehmen. Plötzlich erwachte ein Gedanke in seiner Seele. Er schlich sich leise zur Küche, die Tür war offen, er trat ein.

In der Mitte derselben stand ein Herd, darüber befand sich ein breit gemauerter Schlauch der die Stelle eines Rauchfanges vertrat und durch den ein mattes Licht der mondhellen Nacht herabfiel, welches die Umgebung ohne Mühe erkennen ließ. Rechts war eine hölzerne Leiter angelehnt, die auf den Boden, oberhalb der Wohnung des Schulklopfers führte; diese stieg der Bocher sachte hinan. Durch ein Dachfenster senkte der ewig nächtliche Wanderer am Himmel sein helles Licht herein, und beleuchtete den ganzen Raum. Noße blickte, ehe er seinen Fuß vorwärts setzte, spähend umher. Er stand auf einem Bretterboden, welcher auf Balken gelegt, die Decke der Kammer bildete.

In einer Ecke bemerkte er einen hellen Streifen, zu gleicher Zeit vernahm er aus jener Gegend laute Reden, die von unten heraufdrangen, dort musste sich also eine Öffnung befinden; er schlich leise hin — je näher er kam, desto deutlicher tönten die Laute herauf, behutsam ließ er sich auf dem Boden der Länge nach nieder und sein Antlitz kam in die Nähe einer geräumigen Öffnung zu liegen, durch welche er Alles bequem sehen und hören konnte. Gerade unter seiner stand ein Tisch, auf dem eine Kerze brannte. Der Schulklopfer mit zwei andern jungen Männern saßen an demselben, jeder hatte einen Haufen Silber- und Kupfermünzen vor sich und ein Becher mit Würfeln kreiste fleißig in der Runde.

Seitwärts stand noch ein Tisch, der mit einem Tuche überdeckt war, unter welchem sich, soviel man bemerken konnte, Schüsseln und Flaschen verborgen befanden.

Der Schulklopfer schüttelte eben den Becher mit den Würfeln.

„So wahr ich leb'!“ rief er während des Wurfes, „so viel Glück wie heute hab ich noch nie gehabt.“

Er warf — elf Augen lagen auf dem Tische. Der Nachfolgende nahm den Becher. Es war ein junger Mann mit roten Haaren; zwei weitgeschlitzte graue Augen und ein gespitztes hervorragendes Kinn stempelten das Antlitz zur vollkommenen Fratze.

„Pinches“, wendete sich der Schulklopfer zu ihm, „zeig, dass Du noch verdienst der Sohn unseres Rabbi zu sein, überwirf mich“.

„Mein Vater soll leben“, rief der Angeredete keck, — warf und die beiden leeren Seiten schauten nach oben. Ein höhnisches Lachen überzog das Antlitz des Schulklopfers.

„Du verdienst den Chower (ein Ehrentitel), noch nicht“, sprach er spöttisch, während der Sohn des Rabbi den Becher unmutig weiter gab und ein Anderer ebenfalls weniger als der Schulklopfer warf. Dieser strich hastig den Satz ein und die Runde begann vom Neuen. Der Horcher auf dem Boden hatte indessen Muße genug, die Spieler genau zu betrachten“ Den Schulklopfer ausgenommen, waren die übrigen zwei Talmudisten und Noße staunte nicht wenig, selbst den Sohn des Rabbi da zu finden, wo die Ruhe des Sabbat, die heilige Feier frech durch Würfelspiel und Geldberühren verletzt und entweiht wurde. Religionsübertretungen, die zu jener Zeit noch ungewöhnlich waren und ans Unglaubliche grenzten.

Das Spiel währte nicht lange, denn der Schulklopfer, um die Barschaften der Anderen schneller an sich zu bringen, hatte vom Seitentische unter dem Tuche eine mit Wein gefüllte Flasche hervorgezogen und das Weinglas wechselte nun mit dem Würfelbecher.

„Trink Scholem“, rief Pinches seinem Nebenmanne zu, „der Nessach-(nichtgeweihter) Wein ist besser als der unsere; stark und süß, stark wie Lea und süß wie Rachel“.

Scholem ergriff den Becher. „Pinches, Du sollst leben!“ rief er, „und Deine Schwester Jentel ...“

„Unsere Jentel steckt Dir noch immer im Kopf“, lächelte der Sohn, des Rabbi, „aber sie mag Dich nicht, mach Dir nichts daraus, was nicht ist, kann noch werden. Es geht mir auch nicht anders ...“

„Du meinst die Tochter des Rosch Hakohols?“ fiel der Schulklopfer ein.

„Ja, die holde Channe“, — der Horcher auf dem Boden verdoppelte seine Aufmerksamkeit, — „sie muss mein werden, so wahr ich einst an die Stelle meines Vaters trete und Rabbi von Alt-Ofen werde“.

Während Pinches diese Worte sprach, hatte Schlome Holländer wieder einen bedeutenden Satz eingezogen.

„Ei was“, rief Scholem über den immerwährenden Verlust unwirsch, „fort mit den Würfeln, ich mag nicht mehr spielen, mein Geld ist alle“.

„Dir borg ich“, lächelte der Gewinner, „seitdem Du einen Nachschlüssel zu dem Schranke Deines Vaters hast, stehst Du bei mir wieder in gutem Ansehen“.

„Und dennoch spiel ich nicht“ brummte Scholem mürrisch.

„Er hat Recht“, bekräftigte Pinches, „genug für heute, Morgen kommt wieder eine Nacht, wir wollen jetzt zum Tafeln schauen“.

„Aha“, sprach der Klopfer vergnügt, „Euch wässert schon der Mund nach dem Braten, den ich bereiten ließ. Also frisch ans Werk“.

Die Würfel wurden bei Seite gelegt, die leeren Flaschen mit vollen vertauscht, dann hob man von dem Seitentische eine lange Schüssel herüber auf welcher sich der versprochene Leckerbissen befand.

Noße sah staunend hinab, er erkannte das Tier nicht, welches gebraten auf der Schüssel lag. Der Schulklopfer verrichtete die Stelle des Vorschneiders.

„Lassts Euch schmecken, rief er seinen Spießgesellen zu, „dass Boßor Achar (so wird das verbotene Fleisch von unreinen Tieren genannt, besonders aber Schweinefleisch) ist recht gut und schmackhaft“.

Diese Worte waren kaum gesprochen, als den Horchenden eine namenlose Wut erfasste, solche Schändung seines heiligen Glaubens hatte er noch nicht erlebt. Wie bewusstlos erhob er das Haupt, um sich dem verbotenen Anblicke der unreinen Speisen zu entziehen.

Da fiel sein Auge auf einen großen Stein, der jenseits der Öffnung lag, er streckte beide Hände aus, zog den Stein an sich und wie er über die Öffnung kam, stürzte die schwere Masse hinab, zerschmetterte die Kerze, schlug den schwachen Tisch durch und fiel dröhnend auf den Boden.

Ein fürchterliches Wehgeschrei drang aus der finstern Kammer herauf. Noße aber hatte sich schnell erhoben, eilte die Leiter hinab und wand sich wieder durch das Fenster in seine Kammer.

Kein Sterbenslaut störte mehr die stille Nacht.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Fluch des Rabbi