Der Bocher mit der Megileh

Wer an dem friedlichen Stilleben einer beglückten Familie Wohlgefallen findet, wen es im häuslichen Kreise tugendhafter Menschen nicht langweilt, der möge mich gefällig durch dieses Kapitel meines Gemäldes begleiten; wer aber sein Wohlgefallen an der Schilderung grässlicher Szenen und Vorfallenheiten findet — und dessen Anhang, fürchte ich, wird nach dem jetzigen Zeitgeschmack der Überwiegende sein — der möge diese Seiten kühn überschlagen, denn sie tragen zur Verständigung des Ganzen gar wenig bei und er kann gleich das folgende inhaltreiche Kapitel beginnen.

Am ersten Sabbat nach der Genesung Noßes war im Hause des Gemeindevorstehers große Freude zu finden, denn dieser hatte viele seiner Bekannten und Verwandten zum Mittagsmahle eingeladen, um die Wiedergenesung seines Schützlings zu feiern.


Wer die unübertreffliche Güte dieser Familie kannte, wunderte sich zu jener Zeit freilich nicht, dass sie an einem armen Talmudisten, der in der ganzen Gemeinde seiner Frömmigkeit halber im großen Ansehen stand, so herzlichen Anteil nahm: diese Schüler waren dazumal in gar hohem Ansehen, man hatte Ehrfurcht vor ihnen, sie waren die Gelehrten, die Ärzte, die Juristen und Philosophen des Volkes, ach, das war eine kindliche Zeit, diese Zeit der Astrologen. Böse Zungen schrieben diesem Gastmahle beim Rosch Hakohol eine ganz andere Bedeutung zu, die alten Weiber steckten klug die Köpfe zusammen und flüsterten von einem Tnom-Schreiben (Verlobung), denn wie schon erwähnt, geschah es dazumal oft, dass die reichste Erbin einen armen frommen Bocher zum Gatten erhielt. In unseren Tagen ist es freilich anders geworden, da findet sich nicht das Herz zum Herzen, sondern das Gold zum Golde.

In der großen Stube des Rosch Hakohols war eine prächtige Tafel gedeckt, die zinnernen Teller, das kostbare Esszeug, alles glänzte und strahlte, die silbernen Becher, mit den darauf befindlichen Geschichten nahmen sich gar wunderbar aus. Das war aber auch ein närrischer Kauz, der diese sinnigen Bilder eingemeißelt hatte. Auf dem Einen, war der Erbauer der Arche, der Pflanzer des ersten Weinstockes zu finden, wie er im betrunkenen Zustande von seinen älteren Söhnen verspottet wird; auf dem Andern lag wieder der unmäßige Lot mit seinen saubern Töchtern; auf dem Dritten wurde eben der Mundschenk Pharaos gehenkt, weil er dem Könige keinen reinen Wein eingeschenkt hatte; und so waren alle Becher sinnig verziert und mahnten zur Mäßigkeit und Treue.

Als alle Geladenen sich eingefunden hatten, begannen sie sich die Hände zu waschen; die älteren früher, dann erst die jüngeren; „denn Du sollst das Alter ehren“, steht in der Bibel geschrieben. Dann setzte man sich zu Tische, obenan das würdige Ehepaar, rechts er, links sie, denn aus der linken Rippe des Mannes schuf der Herr das Weib. Rechts an der langen Seite herab saßen die Männer, links die Frauen, wieder nach dem Alter geordnet, an den Enden endlich, befanden sich Noße und Channe, denn sie waren die Jüngsten des Hauses.

Als der Segen über den Wein und das Brot gesprochen war, wurden die Speisen aufgetragen, welche Frau Fradel schon tags vorher zubereitet, aber roh in einen wohlgeheizten Ofen gestellt hatte, der dann geschlossen wurde, dass die Speisen über Nacht kochten und brieten. Man nennt ein solches Essen Tschalet und, wie verständige Hausfrauen versichern, ist es gar schwer den Hitzegrad des Ofens zu treffen, dass die Speisen nicht verdorren oder gar roh bleiben. Unter andern Gästen die geladen waren, befand sich auch der Schameß und seine Frau; der Rabbi hatte die Einladung nicht angenommen.

Mosche Ton war ein Hausfreund und nur um ihn nicht zu kränken, wurde Frau Judeß nicht ausgeschlossen. Mannigfache Gespräche füllten die Zwischenräume aus, denn es wurde damals sehr lange getafelt und das Mal dauerte oft bis in die Nacht, so dass man Abends, wenn die Zeit des Gebetes kam, aufstand, dasselbe verrichtete und sich dann wieder zur Fortsetzung des Mahles niedersetzte. Der Schameß war bei guter Laune und seine Neckereien schienen besonders auf die Frauen abgesehen zu sein. So erzählte er mehrere Geschichten, unter andern auch Folgende: „Als der Großpriester einst in den Tempel trat, bemerkte er zwei Frauen, die mit andächtigen Mienen, gefalteten Händen und zum Himmel gekehrten Augen da standen und beteten. Der Großpriester aber ging an ihnen vorüber und sprach: „Diese beiden Weiber sind betrunken“.

„Das Volk staunte. Wie konnte der Großpriester zwei Frauen, die andächtig in aufrechter Stellung bewegungslos da standen, wie konnte er sie betrunken schelten?“

„Ich will es versuchen, dieses Rätsel zu lösen. Der Großpriester war ein an Erfahrung und Menschenkenntnis reicher Mann, und wusste es recht gut, dass die Frauen nur deshalb in den Tempel kämen, um sich von ihrem Hauswesen, von den Männern und Dienstboten, von Putz und Schmuck und weltlichen Sachen miteinander zu unterhalten, nun kommt er in den Tempel, findet zwei Frauen, bei denen dies nicht der Fall ist, sie scheinen zu beten; ist es möglich! — nein, die sind nicht bei gesundem Verstande, sie müssen betrunken sein! — So dachte, so sprach er!“

Diese drollige Auslegung des Textes zwang den Zuhörern, ja selbst den Frauen ein helles Lachen ab: „ganz Unrecht“, gestanden sich diese im Stillen, hat der Schameß nicht, „die Geschichte von der Rebezen mit dem neuen Kleide liefert einen neuen Beleg dazu“.

Nach einer Weile fragte der Schameß die Gesellschaft: „Was meint Ihr wohl, warum tun die Frauen keine Tephillim legen?“ (Das Umwickeln der Gebetriemen, mit welchen an Wochentagen das Morgengebet verrichtet wird).

Mehrere der Anwesenden erschöpften sich in talmudischen Gründen, die aber alle dem Schameß nicht genügten.

„Ich will Euch eine ganz einfache Ursache sagen“, sprach er, „während des Tephillimlegens darf das Stillschweigen nicht gebrochen werden, da aber die Frauen so lange zu schweigen nicht im Stande sind, so hat man sie hievon ausgeschlossen. In diesem Tone ging es fort und Mosche Torn erhielt von seinen Zuhörern reichlichen Beifall.

Noße Traun hatte wenig oder gar nichts von diesen drolligen Geschichten gehört; er war zu sehr mit Channe beschäftigt, als dass er auf etwas Anderes hätte Acht geben können. Das eben ist der echte Stempel, die schönste Eigentümlichkeit der Liebe, dass sie der übrigen Welt nicht bedarf, dass sie sich selbst genug, für sich allein bestehen kann und in sich selbst Lust und Wonne findet. Channe hatte dafür zu sorgen, dass am Tische nichts abgehe, dass alles Mangelnde gleich ersetzt wurde, sie ging daher ab und zu und Noße freute sich immer, wenn sie kam und einige Augenblicke ihm gegenüber am Tische blieb.

Was mochte aber das sein, was der Bocher in seiner großen Rocktasche hatte, die weit mächtig vom Stuhle wegstand? Channe war schon einige male geflissentlich vorübergegangen, um etwas Näheres über diesen kleinen Turm von Babel zu erfahren; allein die Öffnung der Tasche war abwärts gekehrt und sie konnte nichts wahrnehmen.

Endlich sollte sie es erfahren.

Der Bocher stand nämlich auf und zog den Gegenstand ihrer Neugierde aus der Tasche. Es war eine blecherne Büchse in Zylinderform, beinahe drei Spannen lang, aber kaum drei Daumen dick. Die Büchse in der Hand, näherte er sich dem Hausherrn.

„Reb Schmule!“ begann er und alle Gäste horchten seiner Rede, „ich habe in Eurem Hause, das Haus meiner Eltern wieder gefunden. Ihr ernährt den Gesunden und habt den Kranken gepflegt; Ihr habt mich Eurer Freundschaft und Wohltätigkeit würdig gefunden, mich den Armen, Schwachen, der es zu vergelten nicht im Stande ist. Der Gott unseres Volkes wird Euch dafür lohnen nach dem Verdienste des Frommen. Aber Dankbarkeit ist eine Tugend und wer will, kann immer dankbar sein und wenn er auch nichts als den Hauch seines Lebens besäße. Darum verzeiht mir, wenn ich hier vom Drange meines Herzens geleitet, mit einer Kleinigkeit erscheine, die ich Euch bitte, als einen geringen Beweis des Dankes für Eure väterliche Liebe hinzunehmen. Ihr müsst aber meine Dankbarkeit ja nicht nach dieser Wenigkeit messen“.

Nach diesen herzlich gesprochenen Worten, überreichte er dem Vater seiner Geliebten die blecherne Büchse.

Dieser nahm sie gütig aber verwundert zur Hand, öffnete den Deckel und zog eine dünne Rolle heraus, die er erstaunt entfaltete. Je mehr er aber das Pergament entwickelte, desto länger wurde es, bis endlich seine ganze Länge aufgerollt war und die herrlich geschriebene Megileh vor den Augen des Rosch Hakohols buntfarbig flimmerte.

„Ei seht da eine Megileh!“ rief er erstaunt und betrachtete das mühevolle Werk mit Wohlgefallen.

Die Gäste hatten sich alle neugierig hinter dem Hausvater versammelt und während zwei von ihnen die Enden des Kunstwerkes hielten, welches über die ganze Breite des Zimmers reichte, bewunderten die Andern in lauten Ausrufungen die herrliche Schrift. Einer bewunderte die deutlichen Lettern, der Andere die buntfarbige einem Regenbogen gleichende Rahme, ein Dritter belobte den mit Schaumgold überlegten Titel, dem Schameß gefielen die natürlichen Galgen bei Haman und die Frauen priesen das Röslein bei Esther. Aber das scharfe Auge der Liebe bemerkte noch etwas, was allen Anderen entgangen war, als es nämlich die Rosen betrachtete, fand es in den Kelchen derselben den Namen ,Channe‘ mit winzigen Buchstaben geschrieben, es glaubte darin die Aufopferung des Geliebten zu erkennen, die ihm die schwere Krankheit zugezogen hatte. Darüber zerfloss es in Tränen.

Als die Megileh wieder zusammengerollt und in dem Futteral verschlossen war, sprach der Rosch Hakohol mit Rührung: „Ich will mir dieses Buch aufbewahren, es soll ein Familiengut werden und Du sollst von nun an in meinem Hause die Stelle eines lieben Sohnes vertreten. Noße ergriff seine Hand und drückte einen heißen Kuss darauf; jetzt dachten die Frauen, wird es doch herauskommen, dass er ihm seine Channe anbieten wird; aber von dem Allem war keine Rede, sondern Reb Schmule übergab das Geschenk an seine Hausfrau mit dem Auftrage, dasselbe zu verwahren. Diese nahm es dem Bocher freundlich zuwinkend und übergab es an Channe, welche es verstohlen an ihre Lippen drückte.

Dieses ist die ganz einfache Begebenheit von dem Bocher mit der Megileh. die sich zu Alt-Ofen in dem Hause des Rosch-Hakohols zugetragen hatte, am Samstage vor der ersten Sliches-Nacht, in dem erwähnten Jahre 1530.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Fluch des Rabbi