Salomo

Momentan hatten sie allerdings gar nichts für ihre Sicherheit zu fürchten. Sally war weiß genug, um in keinem, der sie nicht persönlich kannte, auch nur den Verdacht aufkommen zu lassen, daß Negerblut in ihren Adern fließe. Nur an den Fingernägeln bleibt gewöhnlich bei den Quadroonen noch ein matter, dunkler Schein, verräterisch die Abstammung zu künden. Aber selbst das war so unbedeutend, daß es nur dem genauen Beobachter aufgefallen wäre, während Sally das selber wußte und sich wohl davor hüten konnte.

Jack aber, trotz der furchtbaren Anstrengung der letzten Nacht, trotz der Aufregung, in der er sich fortwährend befunden, konnte selbst nicht schlafen. Zum erstenmal, zwischen all den fremden Menschen, in deren Gewalt er sich rettungslos befand, sowie sie nur das am letzten Tag Geschehene geahnt, wurde ihm die Gefahr klar, der er sich ausgesetzt. Solange die Aufregung selber dauerte, hatte diese kein anderes Gefühl in ihm aufkommen lassen, als das, seinen Verfolgern zu entgehen. Jetzt aber, in dem Zustand von Ruhe, den er genoß, mit keiner unmittelbaren Gefahr mehr, die ihn bedrohte, kühlte sich sein Blut auch ab, und er begann zum erstenmal zu überlegen. Mitten in den Sklavenstaaten, in diesem Augenblick sogar noch weiter und weiter auf dem flüchtigen Boot gegen Süden schnaubend, war er auch jede Stunde der Gefahr ausgesetzt, daß irgend jemand das Mädchen erkenne oder Verdacht über ihre Abkunft schöpfe. Entweder mußte er sich dann von ihr lossagen oder - Rechenschaft von ihr geben, das eine aber wollte, das andere konnte er nicht, und einmal erst den Verdacht auf sich gelenkt, war er verloren. Der morgige Tag mußte ebenfalls die glückliche Flucht wie den Mord des Aufsehers aufdecken, und wenn er sich über den letzteren auch nicht die geringsten Gewissensbisse machte, wußte er doch recht gut, daß ein entsetzlicher Lärm darüber entstehen werde und die Zeitungen so rasch als irgend möglich die Tatsache, mit der genauen Beschreibung des flüchtigen Mädchens, verbreiten würden.


Zu keiner Zeit war dabei in den südlichen Staaten die Aufregung gegen den Norden größer gewesen als gerade jetzt; zu keiner Zeit hatten die Sklavenhalter ihre vermeintlichen Rechte unnachsichtlicher überwacht als in den letzten Monaten. Mit furchtbarer Strenge waren alle Neger, gegen die nur der geringste Verdacht vorlag, meuterische Absichten zu hegen, bestraft worden; mit dem größten Eifer hatte man alles verfolgt, was nur mit dem Abolitionistentreiben im Norden in der geringsten Verbindung stehen konnte, und Versammlungen waren fast in allen größeren Städten des Südens abgehalten worden, um einander in dieser Hinsicht mit allen nur zu Gebote stehenden Kräften zu unterstützen. Das alles hatte er schon vor ihrer Abreise im Norden gehört, und die Warnung des Alten, sich um Gottes willen in acht zu nehmen, daß er nicht gehängt würde, fiel ihm in diesem Augenblick mit aller Schärfe wieder ein.

Keinesfalls gedachte er weiter den Strom hinabzugehen als irgend nötig, und schon mit Tagesanbruch bot sich ihm eine passende Gelegenheit, einen Landeplatz zu finden. Der einzige Schutz, den er vorderhand erwarten konnte, war, wie er recht gut wußte, nur in einer großen Stadt, und als er von einem der Bootsleute hörte, daß sie etwa mit Sonnenaufgang Natchez, die bedeutendste Stadt in Mississippi, erreichen würden, beschloß er, dort mit seinem Schützling an Land zu gehen. Noch konnte die Nachricht der entflohenen Sklavin nicht hierhergelangt sein, und jeden Tag, ja oft drei-, viermal des Tags hatte er in einer solchen Stadt Gelegenheit, ein stromaufgehendes Boot zu benutzen.

Mit Tagesanbruch kam der Buchführer aus seiner Kajüte herunter, die in Natchez ausgehende Fracht wie etwa das Boot verlassende Passagiere zu revidieren. Diesem meldete er sich vor allen Dingen, seine Passage zu zahlen und sein Billett zu lösen, um keine Unannehmlichkeiten zu haben.

„Hallo“, sagte dieser erstaunt, als er ihm sein Anliegen vortrug, „wo seid Ihr an Bord gekommen?“

„An der letzten Landung, da, wo Ihr Holz eingenommen habt“, erwiderte Jack, der recht gut wußte, daß nicht die mindeste Gefahr für ihn in der Wahrheit lag, „ich war mit meiner Frau oben bei meinem Bruder zu Besuch und will jetzt wieder nach Hause zurück. Ich wohne in Natchez.“

„Ahem“, brummte der Buchhalter, der darin nichts Außerordentliches sah, denn Ähnliches geschah alle Tage. „Also Passage für Euch und Eure Frau?“

„Für uns beide.“

„Na, zahlt zwei Dollar zusammen“, lautete die Antwort, „von Vicksburg hättet Ihr drei zu zahlen gehabt.“

Das Geld wurde gezahlt, Jack bekam seinen Zettel und weckte jetzt Sally, die Landung nicht zu versäumen. Ungehindert erreichten sie auch das Land, wo Jack gleich unten am Hügel ein deutsches Kosthaus aufsuchte, um jeder Möglichkeit zu begegnen, irgendeinen Bekannten dort zu treffen. Das war bald gefunden, denn vier oder fünf solche lagen dicht beisammen. Die einzige Schwierigkeit blieb, ein kleines Stübchen allein zu bekommen, aber auch das gelang endlich, und, die Entflohene solcherart in Sicherheit gebracht, erwartete er mit peinlicher Ungeduld das nächste, stromauf gehende Boot und - es kam keins! Den ganzen Tag stieg er den Natchezer Hügel auf und ab, den Strom hinabzugehen - so viele Boote sonst den Strom befahren und so vielen sie selbst unterwegs begegnet waren, heute schien der Fluß wie ausgestorben, und wenn ja der puffende Dampf eines derselben laut wurde, kam es auch sicher stets den Strom herab.

Die ganze Nacht blieb er solcherart auf der Lauer, nur dann und wann das arme Mädchen beruhigend, das in tödlicher Angst jetzt fast verging. Die Zeit verfloß, und mit der Schnelle, mit der sich in Amerika solche Nachrichten verbreiten, war jeden Augenblick zu befürchten, daß ihnen nachgeforscht würde.

In solcher furchtbaren Aufregung befand er sich zuletzt, daß er, wo er nur zwei zusammen heimlich sprechen sah, wo nur ein fragender oder selbst gleichgültiger Blick ihn traf, sein Herz rascher zu klopfen anfing und er sich oft fast selbst verraten hätte. Endlich - endlich, wie die aufsteigende Sonne die auf dem höchsten Gipfel gelegenen Häuser vergoldete und aus den blanken Fensterscheiben ihr Licht widerspiegelte, kam einer der breiten, mächtigen Dampfer, die besonders zwischen New Orleans und Saint Louis ihre regelmäßigen Fahrten haben, stromauf. Alle diese legen dabei in Natchez an, um Passagiere zu wechseln und auch Fracht auszuladen, vielleicht auch für den Norden zu nehmen.

War übrigens Kunde von dem Geschehenen nach Natchez gekommen und spürte man hier den Flüchtigen nach, so wußte Jack recht gut, daß an der Bootslandung Konstabler postiert sein würden, die aus- oder eingehenden Passagiere zu mustern. So keck und mutig er dabei jeder wirklich gekannten Gefahr entgegenging, so lähmend wirkte diese unbestimmte auf ihn ein. Die Ungewißheit, in der er schwebte, hatte ihn ganz zermürbt, und als er zu Sally ins Zimmer trat, sie abzuholen, sank das Mädchen zitternd in die Knie, denn sein totenbleiches Gesicht ließ sie das Schrecklichste ahnen.

„Wir sind entdeckt?“ rief sie und barg das Antlitz in den Händen. „Oh, verheimlicht es mir nicht - die Verfolger sind auf unserer Spur!“

„Aber, Kind, wie du mich erschreckt hast!“ sagte der Mann und fühlte, wie ihm selber die Knie zitterten.“ Und sprich auch nicht so laut - die Wände hier sind dünn, und ein solches Wort, dem falschen Ohr zugetragen, könnte uns allein schon verderblich werden. Nein, komm; noch ist nichts geschehen, daß mich etwas Derartiges könnte ahnen lassen; aber - wir selber müssen auch den Kopf oben tragen. Es darf uns niemand ansehen, daß wir uns selber nicht sicher fühlen, und dann, hoffe ich, kann noch alles gutgehen. Den Kopf also in die Höh', mein Mädchen; daß du einen entschlossenen Charakter hast, beweist schon deine Flucht, und führe das jetzt durch, was du begonnen. Nur wenige Tage noch, und wir sind in Sicherheit.“

„So kommt“, sagte das Mädchen, sich gewaltsam zusammennehmend. „Ihr habt recht und - Ihr sollt mit mir zufrieden sein.“

Jack sah die lieben, von Tränen schwimmenden Augen lächelnd zu sich aufgeschlagen, und es war, als ob mit diesem Blick der alte frische Mut in sein Herz zurückgekehrt sei. Die eigene Gefahr hatte er vergessen, und mit der Sorge um das holde Wesen, das seinem Schutz sich willenlos überlassen, fühlte er auch die Kraft in sich, das Begonnene durchzuführen. Den Schwachherzigen selbst überkommt ein eigenes, sonst nicht einmal gekanntes Bewußtsein von Stärke, eine festere Zuversicht, wenn er noch einen Schwächeren, seiner Hilfe vertrauend, zu sich aufblicken sieht. Wieviel mehr denn mußte ein solches Gefühl den jungen tatkräftigen Mann erheben, der, an Gefahren von Jugend auf gewöhnt, nur in der zögernden Gefahr einen Augenblick gewankt. Seine Hand umspannte fester die treue Waffe, die er wieder auf der Schulter trug, und als das Mädchen jetzt an seiner Seite zum Boot hinabschritt, schaute er fest - doch trotzdem heimlich forschend - ringsumher.

Aber nur fremde, gleichgültige Gesichter waren es, die ihm begegneten, und durch das wilde Drängen einer Menge von Müßiggängern hin, die stets ein anlegendes Boot belaufen, durch Kofferträger und das Boot verlassende Passagiere bahnte er sich, mit dem Mädchen an der Hand, mühselig den Weg an Deck.

Übrigens hatte er keine Vorsicht versäumt und die Zeit, die ihm in Natchez geblieben war, vortrefflich genutzt, seinen Schützling durch nichts auffällig zu machen. Das etwas zu weite Kleid der alten würdigen Mrs. Poleridge war mit einem passenden vertauscht worden, ein neues Bonnet schützte ihr Gesicht gegen die Sonnenstrahlen sowohl wie den neugierigen Blick der Menge, und leichte Handschuhe verhüllten die verräterische Farbe der Nägel.

War es den beiden dann auch am Anfang noch ein unbehagliches Gefühl an Bord, ehe sie ihre sämtlichen Mitpassagiere gemustert und sich überzeugt hatten, daß nur Fremde sie umgaben, so wich das doch bald einer größeren Sicherheit. Nur jetzt erst einmal die Plantage hinter sich und aus der unmittelbaren Nähe ihrer gefährlichen Feinde, und alles Schwere war dann überstanden. Allerdings hatte Jack gehofft, schon am vorigen Abend ein stromauf gehendes Boot zu finden, wo sie dann in der Nacht jene ihnen gefährliche Gegend passiert und mit Tagesanbruch weit hinter sich gelassen hätten. Derartige große Boote, wie das war, auf dem sie sich jetzt befanden, legen aber nur selten unterwegs an einzelnen Plantagen an. Dadurch verringerte sich ihre Gefahr; was ihnen aber auch drohte, sie mußten den Weg hier zurücklegen, um rasch in freies Land zu kommen.

Die ›Queen of the West‹, wie der Dampfer hieß, arbeitete indessen mit voller Kraft gegen die starke Strömung des Mississippi an, und während sich Sally ein dunkles Eckchen im Zwischendeck gesucht, ging Jack hinaus auf das Vorderdeck, um die dortigen Leute zu mustern.

Vom Vorderdeck nieder stieg jetzt ein älterer Herr, der auf der nächsten Plantage an Land gesetzt sein wollte. Die Kajütenwärter trugen sein Gepäck hinter ihm her; die ›Deckhands‹ oder Matrosen hatten indessen das Boot längsseits geholt, das er bestieg und an Land gerudert wurde. Indessen arbeitete die Maschine nur langsam gegen den Strom an, eben genug, um nicht zurückgetrieben zu werden, und das gewaltige Boot lag ziemlich still auf dem Wasser.

Eine kleine Flotte von Flatbooten kam indessen mit der Flut herab, und die Leute an Bord arbeiteten aus Leibeskräften, dem Dampfer auszuweichen, der nicht gut weiter nach dem Land zu hinüberhalten konnte. Die ›Queen of the West‹ ging wenigstens siebzehn Fuß im Wasser, und das Ufer schien nach dort zu ziemlich seicht.

Jack hatte mit dem eigenen Interesse, das er für diese Boote fühlte, sie rasch gemustert. Freilich war es schwer, sie untereinander zu kennen, da sie - alle gleichmäßig von ungehobelten Planken nach einer Form zusammengenagelt - sich nur hier und da in der Größe etwas voneinander unterscheiden. Auch die Mannschaft derselben geht ziemlich gleich, an Bord nur einfach in Hose und Hemd gekleidet, und wenn nicht manchmal eins oder das andere absichtlich einen weißen oder roten Streifen um das Boot herum malt oder eine kleine Flagge führt, sind sie sehr schwer auseinanderzuhalten.

Auf dem vordersten, das jetzt rasch herabkam, stand allerdings eine Figur am Steuer, die von weitem dem alten Poleridge glich. Das Boot selber trug einen weißen breiten Streifen und keine Fahne; es war also nicht das seine. Jacks Blick flog schon nach den anderen hinüber, als ein kleiner Hund auf dem ersten sichtbar wurde, der gegen das schnaubende Dampfboot anbellte.

„Der Dackel! „ rief Jack fast unwillkürlich laut aus, und im Nu hatte er die alten Kameraden, hatte er seinen alten Kapitän erkannt.

„Hallo, das Boot!“ rief er vom Vorderdeck jubelnd aus, und Poleridge, der das Hinterteil seines Fahrzeugs eben mit aller Kraft herumgeschoben und sich die Passage an dem Dampfer vorüber freigemacht hatte, drehte sich rasch nach dem Ruf um.

„Hallo, wie geht's an Bord?“ rief ihnen da Jack, auf die niedere Brüstung springend, hinüber. „Alle wohl?“

„Jack! Soll mich der Teufel holen! „ schrie Bill.

„Jack! „ jubelte aber auch der Alte, der ihn ebenfalls erkannt, seine Mütze nach ihm hinüberschwenkend. „Hurra, Junge, alles in Ordnung?“

„Alles in Ordnung!“ schrie Jack zurück, während das Boot rasch vorübertrieb.

„Das ist brav - das ist brav“, nickte der alte Mann, und es war fast, als ob Bill in ein „Hurra“ ausbrechen wolle. Wenn das aber wirklich der Fall gewesen, besann er sich zur rechten Zeit, und alle schwenkten die Hüte dem Dampfer zu. Der Alte hatte aber indessen etwas unter Deck hineingerufen, und plötzlich erschien auch die würdige Mrs. Poleridge mit dem halben Körper über Deck. Zum Rufen waren sie schon zu weit, aber zum Grüßen schwenkte sie ein altes, in der Eile aufgegriffenes baumwollenes Tuch und ruhte nicht und wedelte damit, bis der Dampfer anbrauste. - In wenigen Minuten waren die Boote außer Sicht. Ein paar der Bootsleute hatten zugesehen, wie die Mannschaft des Flatboots den Passagier so jubelnd grüßte. Das aber kam alle Tage vor. Alle diese Burschen schwimmen auf solchen Fahrzeugen den Fluß mit der Strömung nieder und kehren dann mit dem nächsten Dampfer stromauf in ihre Heimat zurück. Daß sich da alte Bekannte, die sich zufällig solcherart wiederfinden, begrüßen, ist natürlich. Jack aber war in mehr als einer Hinsicht über das Begegnen froh. Einmal freute es ihn, den alten Kameraden noch ein letztes Lebewohl zurufen zu können; dann aber gab ihm die Sicherheit des Boots auch die Gewißheit, daß es nicht weiter verfolgt oder, wenn verfolgt, nicht entdeckt war. So konnte es also auch nicht über den Schutz zur Rechenschaft gezogen worden sein, den es der flüchtigen Sklavin an jenem Abend, wenn auch nur für kurze Zeit, gewährte.

Um ganz sicherzugehen, hatte der alte Poleridge übrigens seine Flagge eingezogen und um sein ganzes Boot den weißen Streifen gemalt. Ein Wiedererkennen unter den hundert ähnlichen, die überall den Fluß befuhren, war also fast unmöglich, wenigstens entsetzlich schwierig. Er schien sich übrigens trotzdem dort oben nicht lange aufgehalten zu haben und machte jedenfalls, daß er aus dem Bereich der dortigen Pflanzung kam. Weiter unten hatte er für sich nichts mehr zu fürchten; wußten doch die Verfolger, daß die Negerin das Boot wieder verlassen hatte.

Rasch kehrte Jack jetzt ins Zwischendeck zurück, dem Mädchen dort die Kunde mitzuteilen, daß er das ihnen so wohlbekannte Boot gesehen, und sorgte dann auf das Freundlichste für seinen Schützling, um es ihm so bequem als irgend möglich zu machen.

Mit dem Leben an Bord eines solchen Boots schon seit langer Zeit vertraut, da er auf dem Ohio und oberen Mississippi manche Dampfbootfahrt gemacht, hatte er auch in Natchez an Geschirr und Proviant alles eingekauft, was sie in einer Woche etwa wohl brauchten. Frischer Proviant war übrigens auch weiter oben in den kleinen und größeren Städten, die sie gelegentlich anliefen, überall wieder zu bekommen. Jack hatte es dabei übernommen, das Mittagsmahl zu kochen, etwas, was in Amerika, besonders an Bord der Boote, sehr häufig geschieht und deshalb nicht auffällt, und Sally konnte dabei viel unbeachteter in ihrer Ecke bleiben. Übrigens bestand das Mahl nur in Kaffee und kalter Küche, war also auch leicht hergestellt, und Jack behielt Zeit genug dabei, dann und wann hinauszugehen, um sich im Strom etwas zurechtzufinden. Näherten sie sich doch der Stelle wieder, an der sie gestern durch den Sumpf die Blockhütte erreicht und Schutz an Bord des Dampfers gefunden hatten.

Das Boot hielt indessen wieder an einer der Plantagen, um irgendeinen Passagier an Land zu setzen oder aufzunehmen; aber Jack zeigte sich hier absichtlich nicht draußen, um keinem bekannten Gesicht mehr in dieser gefährlichen Gegend in den Weg zu treten.

Der Aufenthalt dauerte übrigens auch gar nicht lange, und die ›Queen of the West‹ hielt jetzt ziemlich dicht an der linken Seite des Stroms hinauf - dieselbe, an der die Holzfällerhütte lag, von der sie in jener Nacht geflüchtet waren. Allerdings hatte der junge Mann den Platz nur in der wilden Beleuchtung der hohen, flackernden Feuer gesehen, trotzdem erkannte er aber die Gegend wieder, und das Herz pochte ihm stärker, als er die bekannte Stelle aufs neue und nun in ganz geringer Entfernung vor sich auftauchen sah.

Gern hätte er auch Sally herausgerufen, um ihr den Platz zu zeigen, der für sie beide an Erinnerung so reich war, aber ein großer Teil der Zwischendeckspassagiere hatte sich an dem heißen Tag, wo unter Deck noch dazu der Kochofen in Glut gehalten wurde, hier draußen im Schatten des überragenden Decks einen kühlen Platz gesucht, und er wünschte alles zu vermeiden, was sie unnötigerweise den Augen der Menge zeigen konnte.

Diesmal fuhren sie jedoch vorbei; das Boot hatte noch Holz genug an Bord, um bis gegen Abend auszureichen, und legte jetzt in kurzer Zeit die Strecke zurück, die es den Flüchtigen gestern so entsetzliche Mühe gekostet, zu durchbrechen. Deutlich konnte Jack dabei von Bord aus den ziemlich offenen Sumpf erkennen, den er, Sally in den Armen, in jener Nacht durchwatet - und suchten nicht vielleicht in diesem Augenblick sogar die Verfolger dort drüben nach seinen Fährten? Er lachte bei dem Gedanken trotzig vor sich hin, bis das Ufer selber seine Aufmerksamkeit wieder mehr in Anspruch nahm.

Sie liefen jetzt ziemlich dicht am Waldesrand hinauf, und über ihnen ließ sich schon die Insel erkennen, von der ab sie ihre Flucht in dem Kanu begonnen. Da war der Schilfbruch schon, durch den sie sich mühselig die schwere Bahn gesucht - hier begann die Sandbank, und gleich darüber, wo vom steileren Uferrand das Wasser einzelne Wurzeln unterwühlt und in den Strom hinabgeworfen, dort hatten sie Schutz gefunden. Der vorragende Baum dort mit seinem breiten, von der gelben Flut durchwühlten Wipfel mußte die Stelle sein, wo das Boot damals, ihrer harrend, auf der Wacht gelegen und...

„Da war es, Massa“, flüsterte plötzlich eine leise Stimme an seiner Seite, und als er sich erschreckt danach umschaute, sah er einen alten Neger neben sich, der ihm nur mit den Augen winkte, ihm zu folgen.

Jack war es, als ob all sein Blut zu Eis geworden wäre, und wie ein lähmender Schlag zuckte es ihm durch alle Glieder. Der alte Neger aber, ohne ihn weiter zu beachten, schritt langsam von ihm hinweg der andern Seite des Boots zu, dessen heißer Gang jetzt in der glühenden Mittagssonne von den Passagieren gemieden schien. Niemand befand sich dort draußen, und als Jack dem Schwarzen, nur mechanisch und kaum eines Gedankens fähig, folgte, wandte sich dieser wieder gegen ihn.

„Ihr seid von Massa Poleridges Boot, nicht wahr? Pst“, warnte er aber, als Jack, keines Wortes mächtig, schwieg, „ich weiß alles - ich war in dem Boot, in dem Ihr Massa Hoof so hübsch die Kugel in die Stirn schosset, daß er nur noch ein bißchen mit Armen und Beinen strampelte. Schlechterer Buckra hat nie gelebt, und arme Schwarze danken Gott auf ihren Knien, daß ihn Teufel geholt hat. - Salomo verrät Euch nicht...“

„Aber wo kommst du her?“ hauchte Jack, noch immer keines weiteren Gedankens fähig.

„Sollte Euch eher fragen“, lachte der Neger still vor sich hin, „wo Ihr herkommt - müßt es unmenschlich schlau angefangen haben, daß Ihr schon wieder hier vorbeifahrt, als ob Ihr von New Orleans heraufkämt. Ich bin hier mit unserem Boot, und beide Niggertreiber und Scipio sitzen vorn am Bug und schlafen in der Sonne - sind müde wie die Hunde, alle miteinander, und das Beste - Master ist ebenfalls an Bord.

„Dein Herr?“

Salomo nickte mit einem breiten Grinsen, das beide Reihen Zähne sichtbar werden ließ. „Würde sich erschrecklich freuen, wenn er wüßte, wie nah er...“ Salomo sah sich erst vorsichtig um, ob niemand hinter ihn getreten sei, und flüsterte dann leise: „... Sally hat.“

„Du hast sie gesehen?“ fragte Jack erschreckt.

Der Neger blinzelte lachend mit den Augen.

„Salomo ist nicht dumm - wenn sie auch ein feines Kleid und Bonnet trägt und Handschuhe an den Fingern hat, wie eine feine Lady. Aber Gott segne das Kind - sie haben sie behandelt, daß es einen Stein hätte erbarmen mögen. Massa Hoof und die beiden Missusses, und Salomo will eher bei lebendigem Leib verderben, ehe er sie verriete.“

„Aber wenn einer der anderen, einer der Negertreiber, das Mädchen sähe...“

„Pst“, schüttelte Salomo lachend den Kopf, „hat Salomo schon gesehen und weiß, daß alte Mann sie nicht verrät. Hat Salomo letztes Jahr, wie er krank war, gepflegt wie eigen Kind und ihm gute Sachen gebracht und Schläge dafür von Massa Hoof bekommen - gut - liegt da drüben eingescharrt unter Baumwollholzbaum. Schlechteren Aufseher kriegen wir doch nicht wieder...

„Aber ich muß Sally warnen.“

„Ist nicht nötig“, hielt ihn der Neger zurück, „hat Salomo gesehen - Salomo hat ihr leise zugenickt, und sie ist geschwind in Koje gekrochen und schläft mit Gesicht nach Wand hin.“

„Und wenn dein Master nun das Boot durchsuchen läßt?“

„Pah, Unsinn“, lachte der alte Neger, „hat keine Ahnung, daß Ihr so tief unten könnt gewesen sein und jetzt schon wieder hier heraufgekommen. Gestern, wie wir Kanu nicht mehr fanden - Salomo sagte nichts, als er die Spur sah, wo es jemand die Uferbank hinaufgehoben -, ruderten wir nach Plantage hinauf, schickten gleich Boten an Master und ließen die Leiche dort an Land zurück. Und während weiße Konstabler mit Hunden in Wald gingen, Jagd auf Sally und Buckra zu machen, ging unser Boot mit anderem Konstabler den Mississippi ein Stück hinunter - weit, weit - und haben Nachricht auf allen Plantagen gelassen und Weiße in den Wald gehetzt und Wachen zu den Booten an Land gestellt. Master aber kam mit dem ersten Dampfer herunter und traf uns, und weil er keinen Aufseher und Negertreiber mehr zu Hause hat, muß er selber so schnell wie möglich heim - will aber morgen wieder herunterkommen - kann sich selber einmal ein Vergnügen machen.“

„Aber wenn mich nun einer eurer Leute kennt?“

„Pah“, sagte Salomo, den Kopf schüttelnd, „hätte Euch auch nicht erkannt, wäre Sally nicht gewesen. Ein Buckra sieht aus wie der andere - aber geht hinein - setzt Euch in die Ecke, zieht den Hut übers Gesicht und schlaft - guckt niemand nach Euch, und in halber Stunde sind wir oben.“

„Leb wohl, Salomo“, sagte Jack, ihm die Hand hinreichend, „du bist ein braver, redlicher Bursche.“

Der Neger sah sich vorher scheu um, ehe er die dargebotene Hand nahm, dann schlug er ein, drückte sie herzlich und flüsterte, während er sie rasch zurückzog:

„Dank Euch, Massa, aber wenn jemand sähe, daß Ihr armen, schwarzen Nigger die Hand gebt - o Golly, Golly, was für Lärm sie machen würden - und grüßt Sally - Salomo darf nicht zu ihr gehen - sagt ihr, schwarze Männer beten für sie, und - behandelt sie gut, nicht wahr, Massa?“

„Wie meine Schwester, Salomo“, sagte der junge Mann herzlich.

„Gott segne Euch, Massa - Gott segne Euch!“ flüsterte der alte Neger, noch einmal flüchtig des Weißen Hand fassend. „Aber nun macht fort - besser sicher - besser sicher.“ Und ohne weiter ein Wort zu sagen, drehte er sich ab und wollte den inneren Raum des Zwischendecks wieder betreten.

„He, Salomo - wo steckt der Schlingel?“ rief in diesem Augenblick die Stimme eines Weißen, der aus dem Zwischendeck herauskam. Es war eine große, kräftige Gestalt, sehr elegant, aber in lichte Sommertracht gekleidet, einen breiträndigen, äußerst feinen Panamahut auf und ein spanisches Rohr in der Hand.

„Hier, Massa“, rief Salomo, „wollte eben zurück - habe nur nach dem Boot gesehen, ob es noch fest hing.“

„Ach so“, sagte der Pflanzer, sich von ihm ab- und dem Strom zuwendend, „hierher Ben - wo ist Scipio - her mit euch, zum Henker, wie oft soll man euch rufen! Steht bei eurem Boot - ich will an der nächsten Plantage landen - werdet ihr gegen die Strömung nachher ankommen?“

„Geht sehr schwer, Massa“, sagte Scipio, der andere Neger, den Hut ehrerbietig abnehmend, „ist erschrecklich stark, gerade da runter.“

„Geht ganz gut, Massa - Sip weiß viel von Strömung“, versicherte aber Salomo, dem nur daran lag, seinen Herrn mit den Kameraden so rasch wie möglich von Bord zu bekommen, „nur zwei Stellen ein bißchen stark...“

„Gut - dann steht bei, sowie sie das Boot anhalten...“

„Ja - zwei Stellen ein bißchen stark“, murmelte Sip verdrießlich, wenn auch ganz leise vor sich hin, „wird's schon merken - nur eine Stelle bißchen stark, aber den ganzen Weg.“

Der Pflanzer stand, den Fuß auf die Querleiste des Geländers, den Ellbogen auf seine Knie gestützt, an dem hinteren Teil des Decks, und um ihn her seine Neger, um das Anhalten des Boots zu erwarten.

Jack wußte, daß er Sallys Herrn gegenüberstand; und wenn auch keine Gefahr war, daß dieser ihn kennen konnte, mußte er doch nichts mehr fürchten, als einem der anderen Neger zu begegnen. Dicht am überbauten Rad des Dampfers war allerdings noch eine andere Tür, die hinein in das Zwischendeck führte, aber dort konnte ihm ebensogut einer der gerufenen Neger begegnen. Und Sally - aber sie hatte ja Salomo gesehen und kannte die Gefahr, die ihnen drohte, und für den Augenblick blieb ihm nichts zu tun übrig, als sich selber soviel als möglich gedeckt zu halten.

Mit der so plötzlich über ihn hereingebrochenen Gefahr wuchs ihm auch wieder der kecke Mut. Wie deshalb der Pflanzer den schmalen Außengang betrat, sah er ihn ruhig an, drehte sich dann langsam um und lehnte sich, in das Wasser hinausschauend, auf das Geländer. Er hörte die Neger hinter und neben sich sprechen, konnte fühlen, wie sie an ihm vorüberstreiften, aber er wandte den Kopf weder nach rechts noch links und pfiff dabei laut und unverdrossen den Yankee Doodle, die amerikanische Nationalmelodie, vor sich hin.

Da hörten plötzlich die Räder auf zu schlagen - die aufgewühlten Wellen, zu denen er niedergeschaut, ließen nach, und nur durch sein eigenes Gewicht getrieben, durchschnitt der schwere Dampfer noch die Flut.

„Hier steh bei, Sip...“, rief Salomo, geschäftig das eine Tau lösend, mit dem ihre schlanke Jolle neben dem breiten Schiffsboot des Dampfers angehängt war, „spring hinunter, Boy, und hilf Massa einsteigen!“

Die Neger zogen das Boot rasch so dicht als möglich unter den ausgebauten Stern des Dampfers, und während die beiden Negertreiber ihrem Master von oben hinunterhalfen, stützten ihn unten die beiden anderen Schwarzen, daß sein Fuß ja nicht zu hart die Bank berühre.

Ruhig, ohne eine Miene zu verziehen, ohne ein Wort des Dankes nur zu sagen, nahm der Pflanzer die sich von selbst verstehende Dienstleistung hin, und Salomo fest an der Schulter packend, um sich selbst dabei zu stützen, schritt er über die Bänke weg, dem weichgepolsterten Sitz am Steuer zu. Die anderen beiden Neger folgten ihm rasch nach, das Tau wurde von Bord aus losgeworfen, und „Go ahead“ rief die Stimme des obern Offiziers dem Lotsen wieder zu. Das Zeichen wurde gegeben, die Räder fingen wieder an zu arbeiten, der Dampfer stemmte sich aufs neue in die Strömung, während sich das Boot dem Land zuwandte.

Salomo, der das hintere Ruder führte, warf einen Blick nach dem Zwischendeck des Dampfers hinauf, aber der junge Bootsmann war von der Galerie verschwunden.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Flatbootmann