Im Kanu
Bill, der einem anderen das Steuer überlassen, hatte indessen vorn vom Boot aus einen scharfen Ausguck gehalten. Der Mond stand allerdings schon ziemlich tief am Himmel, aber es war noch hell genug, eine weite Strecke aus zu sehen. Der Alte überlegte sich dabei, ob die beiden Leute nicht doch am besten täten, den Untergang des Mondes abzuwarten; dann aber waren sie auch der Gefahr ausgesetzt, daß sich ihre Verfolger ganz dicht beim Flatboot hielten und sie, sowie sie ihre Flucht bemerkten, unfehlbar augenblicklich eingeholt hätten. Jetzt blieben diese doch ein Stück davon entfernt, und wenn sie, einmal unter der Insel, zurück hinter das Flatboot ruderten, hatten sie noch die Hoffnung, ihnen zu entgehen. Wenigstens mochten sie soviel Vorsprung gewinnen, daß sie das Ufer des Mississippistaates erreichen konnten. Im Wald war Jack daheim, und der Aufseher hätte dort außerdem vorher einen Warrant bei einem dortigen Sheriff beantragen müssen, um die entlaufene Sklavin gerichtlich verfolgen zu können und ausgeliefert zu bekommen.
Das Boot hatte, wie Bill nicht entgangen war, allerdings an der Spitze der Insel auf sie gewartet, um vor allen Dingen erst zu sehen, welches Fahrwasser das Flatboot annehmen würde, das rechte oder linke. Die Insel war zwar nicht groß, aber mit hohen Baumwollholzbäumen und Weiden dichtbewachsen, und die durften sie nicht zwischen sich und das verfolgte Boot lassen. Mr. Hoof übrigens, mit Wut und Haß im Herzen seine Beute überwachend, wußte recht gut, daß hier eine günstige Stelle zur Flucht sei. Trotz aller Vorsicht Jacks hatte er, oder vielmehr einer seiner mitgenommenen Negertreiber, das Ausschöpfen des Kanus gehört und kannte die Bedeutung des Lautes. Die Weißen wollten den Tag nicht abwarten, sondern, um jeder Verantwortung ledig zu werden, jedes Zeugnis gegen sich abzuschütteln, das Mädchen wahrscheinlich hier im Schatten der Insel an Land schicken, von wo aus sie dann später, sobald sie selber außer Sicht wären, ihre Flucht ungehindert fortsetzen könnte. Das mußte er zu verhindern suchen, und deshalb blieb er jetzt hier auch ruhig auf seinen Rudern, im Schatten eines in den Strom gestürzten Baums liegen, um sich von da an nur einfach zwischen der Insel und dem Boot zu halten. Sowie sie weiter unterhalb wieder freies Wasser erreichten, hatte er kaum zu fürchten, daß ihm das Kanu ungesehen entkommen könnte.
An Bord des Boots war ihnen das aber ebenfalls nicht entgangen, und Jack baute darauf seinen Plan. Mr. Hoof hatte nicht bedacht, daß die Flüchtige nicht wagen durfte, an einer Insel zu landen, wo sie, wenn entdeckt, ihren Verfolgern gar nicht mehr entgehen konnte. Die Insel lag nun ziemlich in der Mitte des Stroms, aber fast noch mehr nach der Mississippiseite als gegen Louisiana zu, so daß die Entfernung nach jenem Staat auch nicht so groß war. Das Kanu schien außerdem vortrefflich gebaut und lag leicht auf dem Wasser, und mit zwei Rudern konnten sie, wenn selbst verfolgt, ihre Entfernung schon eine Weile halten. Das Mädchen mußte deshalb den Platz vorn im Kanu einnehmen, das Gesicht dem Bug zugekehrt, um im schlimmsten Fall ihr Ruder ebenfalls zu gebrauchen. Jack dagegen, mit einem anderen sogenannten Paddel, das er vom Bord des Flatbootes mitgenommen, stand daneben noch auf dem niederen Vorbau und wartete auf das Zeichen, das ihm der Alte geben sollte.
Dieser hatte die Stelle nicht außer acht gelassen, wo er das verfolgende Boot wußte - jetzt trieben sie in etwa hundert Schritt daran vorüber. Jetzt! „ flüsterte er zu dem ungeduldig darauf harrenden Jack hinab. „Halte nur das Flatboot genau zwischen dir und der Insel, und mach so wenig Geräusch wie möglich.“
Die Warnung war unnötig. Jack wußte schon selber ganz genau, was er zu tun hatte, und seine Büchse in der einen, das Ruder in der andern Hand sprang er in das Kanu - die Frau warf vorn das dünne Tau los und in den Bug hinein, und mit einem leise geflüsterten „Lebt wohl“ drehte der scharfe Bug vom Boot ab und in den Strom hinaus. Vollkommen geräuschlos setzte dabei der junge Bootsmann sein kurzes, leichtes Ruder ein, nur dann und wann den Kopf über die Schulter wendend, um die rechte Höhe mit dem Boot zu halten. Kein Wort wurde zwischen den beiden gewechselt. Jetzt mußten sie vor allen Dingen die Verfolger von ihrer Fährte bringen, und Gott würde dann schon weiterhelfen.
Das ging auch vortrefflich. Mr. Hoof hielt sein Boot soviel als möglich zwischen der Insel und dem Flatboot und konnte dabei den ganzen Strom recht gut übersehen, die Stelle allein ausgenommen, die hinter dem letzteren lag. Dicht zur Insel hatte das letzte hohe Wasser aber eine Menge Holz, ganze Stämme und an diese wieder einzelne Äste angeschwemmt, und um nicht mit den langen Riemen darin hängenzubleiben oder gar aufzulaufen, mußte er gerade vom Land abhalten. Dadurch aber kam das Flatboot ein Stück voraus, und der eine Negertreiber, der schon lange gedrängt hatte, daß sie nicht so weit von dem Boot abbleiben, sondern sich dicht dahinterhalten sollten, was ihnen die Bootleute gar nicht verwehren konnten, entdeckte plötzlich, schon eine tüchtige Strecke entfernt, das flüchtige Kanu.
Wenige Worte genügten, den Steuernden darauf aufmerksam zu machen. „Ruder scharf ein, meine Burschen! „ schrie Mr. Hoof, als er den Bug seines Boots herumwarf, um die Verfolgung aufzunehmen.
Der Alte an Bord hatte die Bewegung natürlich gleich gesehen und die Ursache vermutet. Dem Kanu durfte er dabei auch kein Zeichen geben, daß es entdeckt sei, um späteren Folgen vorzubeugen, aber mit dem Boot konnte er sich unterhalten, darin lag nichts Sträfliches.
„Hallo, Sir!“ rief er deshalb nach diesem hinüber, und zwar viel lauter, als nötig gewesen wäre, ein noch einmal so weit entferntes anzuschreien. „Wohin soll denn jetzt die Reise so eilig gehen? - Ich dachte, Sie wollten uns begleiten.“
„ Bestie! „ murmelte der Aufseher zwischen den Zähnen hindurch, lachte dann aber ingrimmig vor sich hin. „Es hilft dir doch nichts, mein Bursche, die Dirne ist mein, ehe sie nur in Rufnähe vom Ufer kommt. Wacker, Jungen, wacker, legt euch in die Riemen, und ich gebe jedem von euch fünf Dollar aus meiner Tasche, wenn wir das Mädchen sicher wieder an Bord haben.“
Die Leute bedurften keiner weiteren Ermahnung, mit besten Kräften legten sie sich in die Ruder, und das leichte, trefflich gebaute Boot schoß schäumend über die Flut. Aber auch Jack hatte das laute Reden an Bord gehört, und wenn er das, was dort im Schatten der Insel vorging, auch noch nicht sehen konnte, erriet er doch leicht die Ursache.
„Jetzt nimm das Ruder, Kind“, rief er dem still im Boot kauernden Mädchen zu, „und wenn du noch imstande bist, deine Arme zu gebrauchen, so hilf, soviel du kannst, den Schuften zu entgehen. Hab aber keine Angst, Herz“, setzte er fröhlichen Muts hinzu, „wenn sie uns auch wirklich einholen sollten, haben sie uns deshalb noch immer nicht. Ich bin nun einmal mit dir ausgelaufen und will dich retten, oder - wir gehen eben zusammen, wenn's sein muß. Nur den Burschen da drüben überlaß ich dich nicht, darauf darfst du rechnen.“
Das Mädchen erwiderte kein Wort - wenn ihre Arme auch schmerzten, griff sie das Ruder, dem Befehl gehorsam, auf, und daß sie es zu gebrauchen wußte, hatte sie schon vorher bewiesen. Das Kanu tanzte auch nur so über das Wasser hin, und näher kamen sie dem dunklen Waldstreifen, der sich vor ihnen am gar nicht mehr so fernen Ufer hindehnte. - Aber näher kam auch das Boot, und Jack, als er den Kopf mit einem leise gemurmelten Fluch zurückdrehte, konnte sich nicht verhehlen, daß ein Zusammenstoß mit den Feinden, ehe sie das Land erreichten, fast unvermeidlich sei. Allerdings hatte er seine Büchse neben sich und war fest entschlossen, sie im äußersten Notfall auch zu gebrauchen, aber einmal abgeschossen, konnte er sie in dem schwankenden Kanu gar nicht wieder laden - und was dann? - So viel hatte er dabei gemerkt, daß ihr Kanu das Wasser weit rascher durchschnitt, wenn er nicht zu viel gegen die Strömung anhielt, sondern ihr mehr folgte. Dadurch verlängerte er aber auch die Entfernung zwischen sich und dem Land, dabei konnten die Verfolger nur gewinnen. Es blieb ihm deshalb schon nichts anderes übrig, als das nächste Land in so gerader Richtung als möglich anzusteuern; wer konnte wissen, welche Vorteile ihm die Nähe des Lands selber bot, und daß er solche dann nach Kräften nützen würde, dazu war er fest entschlossen.
Das Mädchen ruderte indessen still und schweigend fort. Nur einmal, als die Ruderschläge der Verfolger zum erstenmal ihr scheues Ohr trafen, wandte sie den Kopf dorthin, dann arbeitete sie geduldig weiter. Hinter ihr lag der Tod, vor ihr das Leben; und an das klammerte sich ja das arme junge Mädchen noch mit allen Fasern ihres Herzens fest. Jack ruderte ebenfalls aus Leibeskräften, aber je mehr er sah, daß die Verfolger näher kamen, desto fester und ingrimmiger biß er die Zähne zusammen. Furcht kannte er dabei gar nicht; sein Leben hatte er schon oft selbst eines gleichgültigen Erfolgs wegen gewagt, aber das ärgerte ihn, daß er vor dem feigen Burschen von Aufseher fliehen mußte.
„Schuft von einem Kerl“, murmelte er dabei vor sich hin, „hätt ich nur ein Boot unter mir, wie du, in dem ich mich aufrichten dürfte, ohne die Gewißheit zu haben, im nächsten Augenblick damit umzuschlagen, wie in der Nußschale von einem Ding hier, ich wollte dich lehren, arme Mädchen blutigpeitschen!“
Weiter - immer weiter ruderte er. Der Schweiß stand ihm in großen Tropfen auf der Stirn, und trotzdem schallten die Ruderschläge immer lauter und deutlicher zu ihnen herüber. Dabei war es, als ob das Land, das ihm am Anfang so nahe geschienen, gar nicht näher kommen wolle. Noch immer lag eine weite Wasserfläche zwischen ihm und dort, und das verfolgende Boot hätte er schon mit der Büchsenkugel erreichen können. Aber kein Wort sagte er; was half jetzt alles Reden, wo sie handeln mußten, und überdies entschied die nächste Viertelstunde ja auch ihr Schicksal - zum Guten oder Bösen -, aber immer näher kam das Boot. Während des Mädchens Arme, von der Entzündung des Rückens angegriffen, mehr und mehr ermatteten, legten sich die Verfolger nur mit frischerer Lust in die Ruder, je deutlicher sie sahen, wie sie dem Kanu näher kamen. Auf der einen Seite winkte ihnen für sie reichlicher Gewinn, auf der andern drohte ihnen die Peitsche, kein Wunder, daß sie da ihr Bestes taten, um den ausgesetzten Preis zu verdienen. Zehn Minuten waren solcherart noch vergangen. Das Boot konnte kaum noch hundert Schritt von ihnen entfernt sein, und das laute Lachen des Aufsehers, der über den glücklichen Fang jubelte, tönte schon zu ihnen herüber. - Jack knirschte vor Wut die Zähne zusammen, und ein toller Entschluß reifte auf einmal in ihm.
„Und sie sollen dich doch nicht fangen, Sally!“ flüsterte er dem Mädchen zu. „Wenn wir auch nicht zusammen fliehen können, will ich den Hunden da drüben doch den Spaß vereiteln.“
„Es ist vergebens“, stöhnte das Mädchen, indem sie das Ruder sinken ließ, „ich danke Euch für alle Güte, die Ihr mir erwiesen, und hätt ich noch Tränen! Aber es ist vorbei - in wenigen Minuten sind wir in ihrer Gewalt.“
„Noch nicht“, sagte aber Jack, das Ruder mit doppelter Kraft gebrauchend. „Teufel! Das Land ist kaum zweihundert Schritt mehr entfernt, und so nahe vor dem Hafen noch zu scheitern - aber noch gibt es ein Mittel. Die kurze Strecke kannst du auch allein noch rudern, und daß dir die anderen nicht folgen, dafür laß mich sorgen. Ich rudere dich jetzt noch so weit als irgend möglich, die Entfernung zu verringern, und laufen sie dann an uns heran, dann sitz nur fest, dann spring ich hinüber in ihr Boot und will sie schon am Rudern hindern, bis du in Sicherheit bist.“
„Und Ihr? - Was wird aus Euch?“
„Pah!“ sagte der junge Bursche. „Was können sie machen? - Sie sollen mir nachher einmal beweisen, daß du gerade hier in dem Kanu gewesen - wenn sie überhaupt imstande sind, mich zu halten. Ich kann schwimmen wie ein Fisch und will ihnen schon entgehen.“
„Es ist umsonst“, sagte kopfschüttelnd das Mädchen. „Was hilft es mir auch, wenn ich allein, mit dem Boot doch hinter mir, das Ufer erreiche! Sie würden mein Kanu finden und zerstören, und morgen hätte ich die Aufseher der nächsten Plantagen mit ihren Bluthunden auf meiner Fährte. Meine ganze Flucht war Wahnsinn und hat nur dazu gedient, Euch noch mit in mein Verderben zu reißen.“
„Unsinn“, brummte Jack zwischen den Zähnen hindurch, „soweit sind wir aber noch nicht, und du kannst doch wenigstens den Versuch machen, zu entkommen. Doch immer besser das Letzte versucht, als sich frei in sein Schicksal zu ergeben.“ Das Mädchen schwieg einen Augenblick und senkte den Kopf, endlich sagte sie mit leiser, kaum zum Ohr des jungen Manns dringender Stimme:
„Ihr habt gesagt, daß wir zusammen fliehen wollen. - Sie werden Euch töten, während ich das Ufer erreiche - ich gehe nicht - ich will mit Euch sterben.“
Ein eigenes, wunderlich wildes und schmerzliches und doch auch wieder so süßes Gefühl zuckte durch des jungen Burschen Herz bei diesen Worten.
„Mit mir sterben, Sally? Nun gut dann, Kind - es ist möglich, aber - so weit sind wir noch nicht. Wenn uns der Bursche da drüben zum Äußersten treibt, mag er sich die Folgen dann auch selber zuschreiben, Gnade gibt er nicht und hat sie deshalb auch nicht zu erwarten, und wenn du so gesonnen bist, dann...“ Er brach kurz ab, aber ein wildes Feuer glühte in seinen Augen, und doch war in diesem Augenblick auch aller Schmerz, jede Angst von ihm gewichen. Er warf den Kopf zurück, sah das Boot kaum einen Steinwurf weit hinter sich, und drohend klang zugleich des Negertreibers Stimme zu ihnen herüber.
„Willst du es aufgeben, mein Schatz, und hast du eingesehen, daß du uns nicht mehr entgehen kannst?“
Jack hatte das gar nicht mehr so ferne Land mit den Blicken überflogen, und eine Stelle dort schien ihm die Möglichkeit einer Landung zu gestatten. Fast überall war die Uferbank steil und schroff abgebrochen, nur eine kleine Strecke unterhalb begann eine Sandbank, an deren oberen Teil er hoffen durfte, anzulaufen. Zu gleicher Zeit wandte er den Bug seines Kanus ein klein wenig mehr stromab, und der Aufseher, der am Steuer mit dem Gesicht nach vorn in seinem Boot saß, erkannte zum erstenmal, daß die flüchtige Sklavin nicht allein in dem Kanu sei.
„ Alle Teufel!“ rief er aus. „Was ist das? Sind wir einem falschen Kanu gefolgt, oder hat die Dirne noch einen Begleiter bei sich? Darum konnte sie so scharf rudern. Aber warte, mein Herz, dir soll die Lust vergehen, zum zweitenmal davonzulaufen - jetzt bin ich nur begierig, deinen Kompagnon kennenzulernen.“
„Dessen Bekanntschaft kannst du bald machen, mein Bursche!“ rief da Jack, den Bug seines Kanus herumwerfend, daß es gerade gegen die Strömung anhielt, die Büchse hatte er zugleich auf seine Knie gelegt, die Mündung dem kaum noch zwanzig Schritt entfernten Boot zugekehrt - in dieser Stellung konnte er die Waffe mit Sicherheit führen.
„Verdammnis!“ schrie der Aufseher. „Das ist nicht die Stimme eines Niggers - das ist...“
„Ein guter Freund und alter Bekannter von dir, Kamerad“, rief da der junge Mann, sein Ruder vor sich ins Boot werfend und die Büchse in Anschlag heraufnehmend. „Halte das Kanu einen Augenblick in der Richtung, Sally, bis ich den Burschen da drüben abgefertigt habe - und nun herum mit eurem Bug, ihr Schufte, oder so wahr ein Gott da oben über uns lebt, ich schieße dir eine Kugel durch das Hirn!“
„Das ist der Bootsmann von dem Flatboot drüben!“ schrie der Aufseher, von seinem Sitz emporspringend. „Hundert Dollar, Jungens, wenn ihr den Burschen lebendig fangt, daß ich ihn hängen sehe.“
Die Neger setzten ihre Ruder mit aller Kraft ein; das Boot sprang bei jedem Schlag, den sie ins Wasser taten, ordentlich nach vorn. Dabei hielt der Steuernde den Bug voll gegen die Seite des Kanus, und Jack durchschaute im Nu die Absicht des Aufsehers. Sobald es ihm gelang, das schwankende Kanu mit dem weit stärkeren, in voller Fahrt herankommenden Boot zu treffen, so mußte es sich füllen und sinken, eine Schußwaffe war dann unbrauchbar, und sie selber im Wasser den Verfolgern rettungslos preisgegeben.
Das Mädchen hatte den Kopf schaudernd abgewandt; die Stimme ihres Henkers füllte ihr Herz mit Todesfurcht, und nur mechanisch folgte sie dem Befehl ihres Begleiters, den Bug des Kanus noch gegen die Strömung zu halten. Jack dagegen wußte, daß der entscheidende Moment gekommen sei. Das Kanu lag vollkommen still, mit der Strömung langsam niedertreibend, während das Boot schäumend heranschoß. Die Büchse hob sich langsam der untergehende Mond schien hell auf das blitzende Korn - Jack wußte, daß von dem sicheren Schuß sein Leben abhing, und als er den Kopf des Aufsehers mit Korn und Visier auf kaum zehn Schritt mehr in einer Linie hatte, drückte er ab.
Ein gellender Aufschrei dröhnte mit dem Schuß zusammen, Jack aber, die Büchse ins Kanu werfend, hatte im Nu das Ruder aufgegriffen, ihr Bug flog herum, scharf ab von dem verfolgenden Boot, und wich, als dieses einmal im Gang heranflog, mit Blitzesschnelle zur Seite aus. Aber auch das Boot änderte seine Richtung, denn der zu Tode getroffene Aufseher war auf das Steuerruder zurückgestürzt, dieses zu Starbord hinüberdrückend. Dadurch wandte sich jetzt dessen Bug stromauf. Die Neger aber, die keine Ahnung gehabt, daß der weiße Mann seine Drohung so furchtbar rasch erfüllen würde, ja, die vielleicht nicht einmal geglaubt, daß er ein Gewehr bei sich führe, ließen erschreckt die Ruder fallen und sprangen auf, um ihrem gestrengen Herrn beizustehen. Mr. Hoofs Regiment hatte aber ein Ende. Die sichere Kugel des jungen Bootsmanns war, nur etwas zu tief, durch seine Stirn gefahren. Er lebte zwar noch, aber nur, um wilde, unartikulierte Schreie auszustoßen und mit den Armen jählings um sich her zu werfen. Nach dem Schuß war er im Boot emporgesprungen und wäre über Bord gefallen, hätte ihn nicht einer seiner Leute gefaßt und gehalten. Dadurch aber, und während er mit seinem zuckenden Körper das Steuer zur Seite drückte, kam auch die ganze Bootsmannschaft in Unordnung, und Jack war nicht der Mann, die ihm solcherart gegönnte Zeit unbenutzt verstreichen zu lassen.
Keinen Jubelschrei stieß er aus über den geglückten Schuß, keinen Blick warf er zurück auf das jetzt von ihm abgewandte Boot. Mit neuer Hoffnung, aber freilich auch dem unbehaglichen Gefühl, ein abgeschossenes Gewehr im Kanu zu haben, legte er sich mit aller Macht in sein Ruder und arbeitete dem Land entgegen. Im Boot entdeckten sie jetzt allerdings die Flucht des schon so sicher geglaubten Kanus, aber ehe sie ihre Ruder wieder aufgreifen konnten, hatte das schon einen tüchtigen Vorsprung gewonnen, und dicht am Land mit der Strömung hin glitten die Geretteten.
Gerettet? Lieber Gott, noch lagen vielleicht schlimmere Gefahren für sie im Hintergrund, als selbst der jähe Tod im Strom gewesen wäre; aber diesem ersten waren sie doch entgangen. Der schlimmste Feind, den sie im Land hatten, war unschädlich gemacht, und allem anderen sah der junge Bursche mit leichtem, fröhlichem Herzen keck entgegen.
Wohl folgte jetzt das Boot; die Neger hatten den Körper des Sterbenden, dem sie doch keine Hilfe bringen konnten, auf den Boden des Boots gelegt und nahmen die Verfolgung wieder auf. Aber es war kein rechter Ernst mehr darin. Was konnten sie auch, Sklaven miteinander, gegen den Weißen machen? Durften sie sich an ihm vergreifen, und stand nicht Todesstrafe für irgendeinen von ihnen darauf, der Hand an einen der bevorzugten, freien Kaste legte? Allerdings hatte der Mann eine Sklavin gestohlen, und vielleicht hätten sie die Gerichte freigesprochen - aber nur vielleicht. Sie wußten es nicht genau, und dann war auch der erste Schuß mit solcher Sicherheit gefallen und hatte sich sein Opfer so furchtbar schnell aus ihrer Mitte herausgeholt - sollten sie der Waffe noch einmal trotzen? Und weshalb?
Die beiden Negertreiber, während sie nichtsdestoweniger so rasch sie konnten hinter dem Kanu dreinruderten, überlegten sich das alles leise miteinander - aber im freien Wasser konnten sie die Flüchtlinge nicht mehr überholen. Um den Wipfel eines in den Strom gestürzten Baumes biegend, war es plötzlich ihren Blicken entschwunden, und als sie dicht davor das Wasser mit ihren Rudern zurückdrängten und vorragende Äste faßten, um sich dort festzuhalten, hatte ein überragender Baum die beiden schon in seinen Schutz genommen.
In dem Boot befanden sich noch, außer dem erschossenen Aufseher, vier Neger - die beiden Negertreiber, Mulatten, und zwei der zuverlässigen Sklaven, die Mr. Hoof für seinen Dienst ausgewählt. Ohne weißen Befehlshaber durften sie aber selber nichts eigenmächtig unternehmen, ja wären sie selbst auf der nächsten Plantage angelaufen, so waren sie der Gefahr ausgesetzt, als entflohene Sklaven aufgegriffen und zurückgehalten zu werden. Nichtsdestoweniger hielten es die beiden Negertreiber für ihre Pflicht, den Flüchtigen wenigstens den Wasserweg abzuschneiden, indem sie das dort eingelaufene und wahrscheinlich jetzt verlassene Kanu herausholten und treiben ließen oder zerstörten. Es war dann immer eher möglich, die beiden hier im Wald wieder aufzufinden und zu fangen. Nach kurzer Beratung entschlossen sie sich denn auch, ihr Boot in das Gewirr von Ästen, durch die das schmale Kanu viel leichter hindurchgeschlüpft war, hineinzuschieben. Gar nicht weit den Strom hinauf hatten sie dann die Anzeige zu machen, und hielt man sie fest, so ließ sich ihre Unschuld leicht beweisen. Vorsichtig machten sie sich deshalb an die Arbeit, und die Ruder auf die Bänke legend, während sie sich an den Ästen langsam vorwärtszogen, brachten sie das Boot auch bald dort ein, wohin ihnen das Kanu vorausgefahren war. Ehe sie aber nur in dem dunklen Schatten der Bäume erkennen konnten, wo es lag, donnerte ihnen des Bootsmanns Stimme entgegen:
„Zurück, ihr Burschen! Schiebt sich euer Boot noch eine Elle weiter hier herein, so schieß ich dem ersten Wollkopf, der sich darin zeigt, eine Kugel durchs Hirn - habt ihr mich verstanden?“
Die Neger antworteten nicht; daß der Mann aber nicht spaße, davon hatten sie den blutigen Beweis in ihrem eigenen Fahrzeug liegen, und rascher, als sie in das Gewirr hineingekommen, arbeiteten sie sich wieder zurück. Mit Gewalt war da nichts auszurichten, und sie selber mußten sich einen anderen Plan ausdenken, um dem Kanu wenigstens die weitere Flucht abzuschneiden.
Jack hatte indessen seinen eigenen Plan gefaßt. Sowie das Kanu mit der Spitze die dort nicht zu steile Uferbank berührte, sprang Sally heraus und stand jetzt zitternd am Ufer, um ihren Beschützer zu erwarten. Der junge Bootsmann säumte denn auch nicht, ihr zu folgen, und einmal erst auf sicherem Boden, wurde ihm leichter, fröhlicher ums Herz. Seine erste Sorge war aber, die abgeschossene Büchse wieder zu laden, und mit der Waffe jetzt schußfertig in der Hand wußte er, daß er sich die unbewaffneten Neger leicht in nötiger Entfernung halten könne. Ihren ersten Versuch, sein kleines Fahrzeug zu nehmen, machte er auch rasch durch seine Drohung zunichte, seine Situation war aber dadurch auch nicht viel gebessert. Vorsichtig horchte er allerdings erst eine Weile nach den Zurückweichenden hinüber, solange er ihre Stimmen hören konnte, und kletterte dann leise wieder in das Kanu hinab.
„Wo wollt Ihr hin?“ flüsterte Sally, erschreckt die Hände faltend. „Nur ruhig, mein Herz“, warnte aber der Mann mit ebenso leiser Stimme. „Erst muß ich wissen, was die Burschen da draußen vorhaben - bleib nur ruhig hier und fürchte nichts - ich komme gleich zurück.“
Seine Büchse im Kanu, ohne jedoch das Ruder zu gebrauchen, schob er jetzt den Bug desselben langsam weiter und weiter vor, bis er der ihm ängstlich Nachschauenden im Schatten des dunklen Baumwollholzwipfels entschwunden war - lange Minuten vergingen, und er kehrte nicht zurück. War er geflohen? Hatte er sie allein hier ihrem Schicksal überlassen? Sie schauderte bei dem Gedanken, und noch einmal so unheimlich rauschten die düsteren Wipfel über ihr und tönte klagend der Ruf der Eulen durch den stillen Wald. Eine volle halbe Stunde verging ihr so in peinlich qualvollem Warten, und keine Nacht war ihr so lang noch vorgekommen. Endlich glaubte sie, das Geräusch zurückgedrängter Büsche zu hören; ihr Herz klopfte stürmisch in der Brust, und jetzt - er kehrte zurück. Dort schob sich das lange schmale Kanu langsam dem Land wieder entgegen, und als sie sich vorbeugte, den Bug desselben zu fassen und zu halten, trat Jack, die Büchse in der Hand, zu ihr heraus.
Kein Wort sprach er dabei, nur alles, was noch im Boot lag, hob er heraus, zog das Kanu dann weiter auf den weichen Boden, höher und höher hinauf. Seine ganze Kraft mußte er dabei anwenden und bald an dem, bald an jenem Ende heben, denn das Mädchen konnte ihm wenig dabei helfen. Endlich aber gelang es ihm doch, es, wenigstens vom Wasser aus, außer Sicht hinter einen Busch zu bringen, und er ging nun daran, die hinterlassenen Spuren im weichen Boden so gut als möglich wieder unkenntlich zu machen. Sally hatte ihn dabei, soviel sie konnte, unterstützt, und das beendet, faßte er jetzt des Mädchens Hand und half ihr wieder die Uferbank hinauf, weiter, immer weiter in den Wald hinein. Noch immer sprach er kein Wort und suchte nur sorgfältig die offensten Stellen für seinen Schützling aus, um ihr den rauhen Weg so gut als möglich zu erleichtern, bis sie das Ufer weit, weit hinter sich gelassen.
Sally war ihm, ohne eine Frage zu tun, ohne eine Klage auszustoßen, durch Schilf und Sumpf und über umgebrochenes Holz gefolgt. Da plötzlich blieb er stehen, warf seine Decke zu Boden, lehnte die Büchse an einen umgestürzten Stamm, neben dem sie standen, und sagte freundlich:
„Nun, mein Kind, sind wir deinen unmittelbaren Verfolgern wenigstens entrückt, und wie's nun weiter kommen mag, müssen wir versuchen. Aber hast du Kraft, mir noch ein paar Stunden lang durch dies Gewirr von Schilf und Unterholz zu folgen?“
„Ja“, sagte das arme Mädchen leise, „wohin Ihr mich führt; ich will nicht fragen, was und wie Ihr's tut.“
„O nein, mein Herz, so war es nicht gemeint“, sagte der junge Mann lachend, „du sollst allerdings genau wissen, was ich zu tun gedenke; ob es uns glückt, steht freilich in Gottes Hand. Nun höre: Dadurch, daß ich den Burschen von unserem Kanu zurückscheuchte, sind sie natürlich der Meinung, daß wir ihnen mit dem und zu Wasser noch entgehen wollen. Sie wissen auch ziemlich genau, wie wild diese Wälder sind, und können sich nicht denken, daß ein Fremder seinen Weg hindurch finden würde. Der Wald aber ist meine eigentliche Heimat und ein alter Freund, und einen besseren Führer könntest du dir nicht wünschen.“
„Aber die Verfolger werden nach der nächsten Plantage rudern und dort die Leute auf unsere Fährte setzen.“
„Wenn sie das diese Nacht beabsichtigen, wären wir jetzt schon wieder im Kanu unterwegs“, sagte Jack, „und hätten's dann gewiß viel bequemer. Wie die Sache aber jetzt steht, haben sie ihr Boot draußen an den Büschen festgemacht und wollen dort jedenfalls, während sie den Tag abwarten, uns hindern, wieder auszulaufen. Das war auch das Gescheiteste, was sie tun konnten, denn bei Nacht dürfen sie nirgends anlaufen, wie niemand daran denken könnte, uns hier im Wald im Dunkeln zu verfolgen. Was sie für morgen früh beabsichtigen, weiß ich nicht, bis dahin aber, hoff ich, sind wir aus ihrem Bereich. Weiter unterhalb im Strom und kaum eine halbe Stunde Wegs von hier entfernt sah ich nämlich, gerade als ich mir einen Platz zum Landen suchte, ein schwaches Licht aus dem Wald schimmern. Dort liegt jedenfalls die Hütte irgendeines Holzfällers, die sich hier überall am Ufer niedergelassen, um Holz für vorbeikommende Dampfer aufzuklaftern. Alle diese Leute haben aber ein Boot oder Kanu an ihrem Haus, und wenn wir das erreichen, ehe die Sonne aufgeht, dann mögen sie hier oben sitzen und Wache halten nach Herzenslust, dann führe ich dich vor Tag einem freien und, will es Gott, glücklichen Leben entgegen.“
„Glücklich?“ sagte seufzend das arme Mädchen. „Darf ich auf Glück noch rechnen?“
„Ja, mein Kind“, sagte da mit weicher Stimme der sonst so rauhe, wetterfeste Bursche, indem er des Mädchens Hand ergriff und hielt. „Ja, Sally, wenn wir all den Gefahren, die uns hier noch umgeben, glücklich entgehen, dann darfst du das und hast es mehr vielleicht verdient als tausend andere, die von ihrer Geburt an darin sich schwelgen. Jetzt aber fasse nur guten, frischen Mut, mein armes Kind! Du hast mir nun einmal dein Leben anvertraut, und daß es dich nie gereuen soll, lasse meine Sorge sein. Aber nun fort: Wir versäumen hier mit Schwatzen die schöne, kostbare Zeit und haben hier das Schlimmste vor uns - einen weiten Weg durch Dornen und Gestrüpp. Ich fürchte fast, es wird zuviel für dich.“
„Oh, sorgt Euch nicht um mich!“ rief das Mädchen, und ihre Stimme klang in dem Augenblick zum erstenmal froh und sorgenfrei. „Ihr sollt sehen, wie rüstig ich Euch folgen werde, und jetzt, in diesem Augenblick, ist es mir auch fast, als ob ein schwerer Gram von meiner Seele genommen wäre. Guter Gott, ich habe noch nie in meinem Leben gewußt, wie einem Wesen zumute ist, um das ein anderes sich sorgt! Ihr seid der erste, der freundlich mir entgegentritt, von dessen Lippen ich keine harten, zürnenden Worte höre, und wenn ich jetzt auch meinen Peinigern wieder in die Hände fiele, wenn ich ein ganzes langes Leben durch für diesen einen glücklichen Augenblick büßen müßte - ich will nicht murren -, hab ich doch gelebt.“
„Du armes, armes Kind“, sagte Jack, „daß es solche Teufel mit menschlichen Fratzen gibt, die sich Gottes Ebenbild nennen und eine Hölle um sich schaffen! Aber die Zeit kommt vielleicht auch, wo diese Sklaverei als Fluch und Schande gebrandmarkt wird, wo nicht ein solches Gesindel die Peitsche mehr über ein unglückliches Volk schwingen darf! Doch fort mit den Gedanken - bleibe dicht hinter mir, mein wackeres Mädchen, und halten deine Kräfte nur noch ein paar kurze Stunden aus, so denk ich, haben wir das Schlimmste überstanden.“
Rasch griff er wieder seine zusammengeschnürte Decke, in die er ihren Proviant gewickelt hatte, vom Boden auf, nahm seine Büchse und schritt durch den dunklen, jetzt nicht einmal mehr vom Mond erhellten Wald. Vorsichtig wählte er dabei jede nur einigermaßen lichte Stelle, und wo es ihm die dichten Wipfel erlaubten, blieb er stehen, um nach den Sternen seine Bahn zu finden. Sorglich half er dabei dem Mädchen über jeden in ihrer Richtung liegenden umgestürzten Stamm, führte sie durch hier und da eingerissene Gräben und rückte, wenn auch langsam, doch weiter und weiter mit ihr vor.
So mochten sie zwei volle Stunden gewandert sein, und Jack hatte sich jetzt am Rand eines Schilfbruchs gehalten, wo das Unterholz nicht so dicht stand. Da erreichte er plötzlich einen kleinen freien Platz, und wo er ihn betrat, verkündete ein durch Menschenhand gefällter Baum die Nähe einer Wohnung.
Rasch bog er sich nieder, mit der Hand den Boden fühlend; und mit dem Jubelschrei: „Ein Weg! Ein Weg!“ sprang er wieder empor.
„Ist hier ein Weg?“ fragte das Mädchen, das schon an seiner Seite stand.
„Ja, mein Herz, ein Fahrweg noch dazu, auf dem die Leute jedenfalls ihr Holz zum Strom geschafft haben, und hier sind wir vom Ufer auch gar nicht mehr so weit entfernt. Hörst du den Dampfer, der dort drüben den Mississippi herunterbraust? Wenn wir die Richtung jetzt genau wüßten, in der das Haus liegt, könnten wir es vielleicht in kurzer Zeit erreichen.“
„Dort bellt ein Hund“, rief Sally plötzlich, des jungen Mannes Arm ergreifend und nach hinüber deutend, wo sie geglaubt, daß sie den Laut gehört.
„Dort läutet die Glocke!“ schrie Jack jubelnd. „Das Dampfboot legt an, Holz einzunehmen, und in fünf Minuten wissen wir, woran wir sind.“
„Aber es geht den Strom hinab“, sagte schüchtern das Mädchen.
„Und was tut's?“ lachte Jack, die Brust von neuer Zuversicht gefüllt. „Ich bin gern im Wald, Herz, und nie glücklicher, als wenn ich die grünen Wipfel über mir rauschen höre. Der letzte Marsch hat mir den Wald aber auf ein paar Tage verleidet, und mit den tiefen Spuren, die wir dort im weichen Boden hinterlassen, ist es am Ende auch besser, wir machen, daß wir hier fortkommen. Gebe der Himmel, daß wir's zur rechten Zeit auch noch erreichen!“
Wieder schlug die Glocke draußen an. Deutlich konnten sie die scharfen Töne herüberschallen hören, und Jack wußte recht gut, daß dieses Zeichen in der Nacht nur dann gegeben wird, wenn entweder Passagiere zu landen sind oder das Boot Holz einnehmen will. Das erstere war hier nicht wahrscheinlich, denn der dichte Wald verkündete keine Plantage, und nahm das Boot wirklich Holz, so behielten sie auch Zeit genug, den Platz zu erreichen. Vor allen Dingen mußten sie jetzt die Richtung genau wissen, in welcher der Dampfer anlegen würde, und ob sie dem gefundenen Weg hier folgen könnten. Darüber sollten sie auch nicht lange im Zweifel gelassen werden. Wieder gab die Glocke ein paar kurze Schläge, und kaum fünf Minuten später hörten sie das scharfe Zischen des ausgelassenen Dampfes.
„Hurra, jetzt haben wir's! „ lachte Jack in wilder Fröhlichkeit. „Und nun vorwärts, Kind - noch eine kurze Strecke, und wir sind am Ziel.“
Rüstig schritt er auf dem Weg hin, und schon sahen sie eine weite Lichtung vor sich, in der sie die dort vielleicht begonnene Farm zu erreichen hofften. Da sah Jack plötzlich die Sterne vor sich im Weg von einem Wasserspiegel widerflimmern und erkannte zu seinem Schreck, daß sie an einem breiten Sumpf standen, der zwischen ihnen und dem Ufer lag.
„Alle Teufel!“ murmelte er leise vor sich hin. „Das ist eine schöne Geschichte, so dicht am Ziel, und der verdammte Sumpf.“
„Solche Stellen wimmeln von Alligatoren“, stöhnte entsetzt das Mädchen, während Jack, der eben denselben Gedanken gehabt, sich bestürzt hinter dem Ohr kratzte.
„Ja, ich weiß, mein Herz“, brummte er leise zwischen den Zähnen hindurch. „Deren Bekanntschaft haben wir heute schon einmal gemacht.“
Wieder zischte der Dampf aus dem Boot, und über die offene Waldstelle herüber klang es, als ob es kaum fünfhundert Schritt entfernt liegen könnte.
„Und wenn wir nun versuchten, den Sumpf zu umgehen?“ sagte schüchtern das Mädchen.
„Das geht nicht“, rief Jack. „Die ganze Nacht könnten wir dazu gebrauchen und brächen überdies noch Hals und Beine in den verwünschten Zypressenwurzeln. Nein, Sally, hier sind wir einmal und müssen auch hindurch, und was ich heute morgen von den Alligatoren gesehen, läßt mich glauben, daß sie eben feige Bestien sind. Drum frischen Mut - hier, Mädchen, nimm meine Büchse - hab acht, daß du den Hahn nicht spannst, und jetzt trag ich dich hindurch.“
„Durch den Sumpf?“
„Hab keine Angst - das Wasser ist an solchen Stellen selten tief - Bäume stehen ja überall darin, und durch die Pfütze wollen wir uns nicht zurückschrecken lassen. Fürchtest du dich?“
„Ich fürchte für Euch“, sagte leise das Mädchen, indem sie zögernd die dargereichte Waffe nahm. „Ich will lieber den Alligatoren zur Beute fallen, als den Verfolgern.“
„Beides nicht angenehm“, lachte Jack, „aber ich hoffe, wir entgehen den einen wie den anderen, und nun vorwärts!“
Sorgsam hob er die schmale Gestalt in seine Arme, und mit festem, trotzigem Schritt betrat er den weiten, öden Sumpf. Aber der Boden war hart, das Wasser reichte ihm wenig über die Knie, waren ja doch auch schon die Holzwagen hier hindurchgefahren, und weiter und weiter schritt er darin hin. Rechts und links hörte er hier und da ein Plätschern, und der scheu umhergeworfene Blick ließ ihn manchen dunklen Punkt erkennen, den er mißtrauisch für einen der braunen, weitrachigen Burschen hielt. Aber dem Geräusch, das er im Wasser machte, wichen sie aus, und nach kaum einer Viertelstunde fühlte er wieder trockenen Boden unter den Füßen.
Und dort lag auch das Boot. Durch die Büsche konnte er schon die Feuer erkennen, die von der Mannschaft am Ufer entzündet waren, und wie sie jetzt rasch darauf zuschritten, sahen sie, von ihrem Schein erhellt, das kleine Blockhaus an der schmalen Lichtung liegen. Während der Dampfer mit ausgehobenen Planken dicht am Ufer lag, arbeitete die Maschine, und geschäftige Menschen liefen, große Lasten Holz auf den Schultern, an Bord und wieder unbeladen von Bord zurück an Land.
„Aber werden sie uns aufnehmen?“ flüsterte das bange Mädchen, dem in der Nähe der vielen Weißen die alte Furcht das Herz beschlich.
„Wir werden sie nicht fragen“, lachte Jack. „Jetzt halt den Kopf oben, Kind, und zeig um Gottes willen keine Scheu. Wir gehen gerade an Bord - fragen wird uns kein Mensch, bis wir erst einmal unterwegs sind, denn dazu haben die Leute jetzt nicht Zeit, und für das andere laß du mich dann sorgen.“
Sallys Hand ergreifend, schritt er jetzt langsam in den Menschenknäuel hinein, der, wenig seiner achtend, geschäftig herüber und hinüber wogte. Ein paar der Leute sahen wohl verwundert nach der weiblichen Gestalt, aber vielleicht waren es Passagiere aus dem Boot, vielleicht gehörten sie hier in das Haus - was kümmerte es sie!
Dicht hinter einigen der Holzträger schritten sie über die schmale Planke hin an Bord und dort ohne weiteres in das düstere Zwischendeck hinein, zwischen Gruppen von Schlafenden und Spielern hin. Niemand kümmerte sich um sie, und Jack hatte bald eine für den Augenblick unbesetzte Koje gefunden, in die er seine Decke warf. Dann blies er das Pulver von der Pfanne seiner Büchse, stellte das Gewehr in die Ecke und schien sich jetzt vollkommen zu Hause zu fühlen.
Draußen läutete in diesem Augenblick wieder die Glocke, die Leute waren fertig; das Boot schob in den Strom hinaus, und die von den Passagieren, die mit Holz getragen, kehrten in das Zwischendeck zurück.
„Hallo, Kamerad,“ sagte da ein langer Kentuckier, der in seiner verlassenen Schlafstelle wieder einkehren wollte und sie indessen ganz unerwarteterweise in Besitz genommen fand. „In der Koje schlaf ich, nimm deine Decke nur wieder heraus.“
„Ist das Euer Platz?“ fragte Jack.
„Ja - hast du was dagegen?“ fragte trotzig der Mann.
„Nein, Kamerad“, lautete die ruhige Antwort, „aber ich bin eben hier mit meiner Frau an Bord gekommen und sehe keinen andern Platz für sie. Wenn du da drinnen schlafen willst, muß sie die Nacht auf einer Kiste sitzen, wenn du ihr aber den Platz überläßt, zahl ich ihn dir.“
„So war's nicht gemeint“, brummte der Bursche gutmütig, als er einen Blick in das freundliche, ihm zugewandte, jetzt von Purpurröte übergossene Gesicht des Mädchens geworfen. „Legen Sie sich ruhig hinein, Ma'm, und wenn Sie die Decke, die da drinnen liegt, als Kopfkissen benutzen wollen, soll's mich freuen - Sie werden so noch hart genug liegen.“
„Dank Euch, Freund“, sagte Jack, des Mannes Hand ergreifend und schüttelnd.
„Unsinn“, brummte dieser, „'s ist gern geschehen.“
Dabei drehte er sich ab, streckte sich auf einer der nächsten Kisten aus und war bald trotz der unbequemen Lage sanft und süß eingeschlafen.
Jack bereitete indessen seinem Schützling das Lager auf dem ihr überlassenen Schlafplatz, hüllte die müden Glieder des armen Mädchens in die wollene Decke ein und ging dann selber vor zu den Heizern, um sich an deren Feuer die naßgewordenen Kleider wieder zu trocknen.
Das Boot hatte, wie Bill nicht entgangen war, allerdings an der Spitze der Insel auf sie gewartet, um vor allen Dingen erst zu sehen, welches Fahrwasser das Flatboot annehmen würde, das rechte oder linke. Die Insel war zwar nicht groß, aber mit hohen Baumwollholzbäumen und Weiden dichtbewachsen, und die durften sie nicht zwischen sich und das verfolgte Boot lassen. Mr. Hoof übrigens, mit Wut und Haß im Herzen seine Beute überwachend, wußte recht gut, daß hier eine günstige Stelle zur Flucht sei. Trotz aller Vorsicht Jacks hatte er, oder vielmehr einer seiner mitgenommenen Negertreiber, das Ausschöpfen des Kanus gehört und kannte die Bedeutung des Lautes. Die Weißen wollten den Tag nicht abwarten, sondern, um jeder Verantwortung ledig zu werden, jedes Zeugnis gegen sich abzuschütteln, das Mädchen wahrscheinlich hier im Schatten der Insel an Land schicken, von wo aus sie dann später, sobald sie selber außer Sicht wären, ihre Flucht ungehindert fortsetzen könnte. Das mußte er zu verhindern suchen, und deshalb blieb er jetzt hier auch ruhig auf seinen Rudern, im Schatten eines in den Strom gestürzten Baums liegen, um sich von da an nur einfach zwischen der Insel und dem Boot zu halten. Sowie sie weiter unterhalb wieder freies Wasser erreichten, hatte er kaum zu fürchten, daß ihm das Kanu ungesehen entkommen könnte.
An Bord des Boots war ihnen das aber ebenfalls nicht entgangen, und Jack baute darauf seinen Plan. Mr. Hoof hatte nicht bedacht, daß die Flüchtige nicht wagen durfte, an einer Insel zu landen, wo sie, wenn entdeckt, ihren Verfolgern gar nicht mehr entgehen konnte. Die Insel lag nun ziemlich in der Mitte des Stroms, aber fast noch mehr nach der Mississippiseite als gegen Louisiana zu, so daß die Entfernung nach jenem Staat auch nicht so groß war. Das Kanu schien außerdem vortrefflich gebaut und lag leicht auf dem Wasser, und mit zwei Rudern konnten sie, wenn selbst verfolgt, ihre Entfernung schon eine Weile halten. Das Mädchen mußte deshalb den Platz vorn im Kanu einnehmen, das Gesicht dem Bug zugekehrt, um im schlimmsten Fall ihr Ruder ebenfalls zu gebrauchen. Jack dagegen, mit einem anderen sogenannten Paddel, das er vom Bord des Flatbootes mitgenommen, stand daneben noch auf dem niederen Vorbau und wartete auf das Zeichen, das ihm der Alte geben sollte.
Dieser hatte die Stelle nicht außer acht gelassen, wo er das verfolgende Boot wußte - jetzt trieben sie in etwa hundert Schritt daran vorüber. Jetzt! „ flüsterte er zu dem ungeduldig darauf harrenden Jack hinab. „Halte nur das Flatboot genau zwischen dir und der Insel, und mach so wenig Geräusch wie möglich.“
Die Warnung war unnötig. Jack wußte schon selber ganz genau, was er zu tun hatte, und seine Büchse in der einen, das Ruder in der andern Hand sprang er in das Kanu - die Frau warf vorn das dünne Tau los und in den Bug hinein, und mit einem leise geflüsterten „Lebt wohl“ drehte der scharfe Bug vom Boot ab und in den Strom hinaus. Vollkommen geräuschlos setzte dabei der junge Bootsmann sein kurzes, leichtes Ruder ein, nur dann und wann den Kopf über die Schulter wendend, um die rechte Höhe mit dem Boot zu halten. Kein Wort wurde zwischen den beiden gewechselt. Jetzt mußten sie vor allen Dingen die Verfolger von ihrer Fährte bringen, und Gott würde dann schon weiterhelfen.
Das ging auch vortrefflich. Mr. Hoof hielt sein Boot soviel als möglich zwischen der Insel und dem Flatboot und konnte dabei den ganzen Strom recht gut übersehen, die Stelle allein ausgenommen, die hinter dem letzteren lag. Dicht zur Insel hatte das letzte hohe Wasser aber eine Menge Holz, ganze Stämme und an diese wieder einzelne Äste angeschwemmt, und um nicht mit den langen Riemen darin hängenzubleiben oder gar aufzulaufen, mußte er gerade vom Land abhalten. Dadurch aber kam das Flatboot ein Stück voraus, und der eine Negertreiber, der schon lange gedrängt hatte, daß sie nicht so weit von dem Boot abbleiben, sondern sich dicht dahinterhalten sollten, was ihnen die Bootleute gar nicht verwehren konnten, entdeckte plötzlich, schon eine tüchtige Strecke entfernt, das flüchtige Kanu.
Wenige Worte genügten, den Steuernden darauf aufmerksam zu machen. „Ruder scharf ein, meine Burschen! „ schrie Mr. Hoof, als er den Bug seines Boots herumwarf, um die Verfolgung aufzunehmen.
Der Alte an Bord hatte die Bewegung natürlich gleich gesehen und die Ursache vermutet. Dem Kanu durfte er dabei auch kein Zeichen geben, daß es entdeckt sei, um späteren Folgen vorzubeugen, aber mit dem Boot konnte er sich unterhalten, darin lag nichts Sträfliches.
„Hallo, Sir!“ rief er deshalb nach diesem hinüber, und zwar viel lauter, als nötig gewesen wäre, ein noch einmal so weit entferntes anzuschreien. „Wohin soll denn jetzt die Reise so eilig gehen? - Ich dachte, Sie wollten uns begleiten.“
„ Bestie! „ murmelte der Aufseher zwischen den Zähnen hindurch, lachte dann aber ingrimmig vor sich hin. „Es hilft dir doch nichts, mein Bursche, die Dirne ist mein, ehe sie nur in Rufnähe vom Ufer kommt. Wacker, Jungen, wacker, legt euch in die Riemen, und ich gebe jedem von euch fünf Dollar aus meiner Tasche, wenn wir das Mädchen sicher wieder an Bord haben.“
Die Leute bedurften keiner weiteren Ermahnung, mit besten Kräften legten sie sich in die Ruder, und das leichte, trefflich gebaute Boot schoß schäumend über die Flut. Aber auch Jack hatte das laute Reden an Bord gehört, und wenn er das, was dort im Schatten der Insel vorging, auch noch nicht sehen konnte, erriet er doch leicht die Ursache.
„Jetzt nimm das Ruder, Kind“, rief er dem still im Boot kauernden Mädchen zu, „und wenn du noch imstande bist, deine Arme zu gebrauchen, so hilf, soviel du kannst, den Schuften zu entgehen. Hab aber keine Angst, Herz“, setzte er fröhlichen Muts hinzu, „wenn sie uns auch wirklich einholen sollten, haben sie uns deshalb noch immer nicht. Ich bin nun einmal mit dir ausgelaufen und will dich retten, oder - wir gehen eben zusammen, wenn's sein muß. Nur den Burschen da drüben überlaß ich dich nicht, darauf darfst du rechnen.“
Das Mädchen erwiderte kein Wort - wenn ihre Arme auch schmerzten, griff sie das Ruder, dem Befehl gehorsam, auf, und daß sie es zu gebrauchen wußte, hatte sie schon vorher bewiesen. Das Kanu tanzte auch nur so über das Wasser hin, und näher kamen sie dem dunklen Waldstreifen, der sich vor ihnen am gar nicht mehr so fernen Ufer hindehnte. - Aber näher kam auch das Boot, und Jack, als er den Kopf mit einem leise gemurmelten Fluch zurückdrehte, konnte sich nicht verhehlen, daß ein Zusammenstoß mit den Feinden, ehe sie das Land erreichten, fast unvermeidlich sei. Allerdings hatte er seine Büchse neben sich und war fest entschlossen, sie im äußersten Notfall auch zu gebrauchen, aber einmal abgeschossen, konnte er sie in dem schwankenden Kanu gar nicht wieder laden - und was dann? - So viel hatte er dabei gemerkt, daß ihr Kanu das Wasser weit rascher durchschnitt, wenn er nicht zu viel gegen die Strömung anhielt, sondern ihr mehr folgte. Dadurch verlängerte er aber auch die Entfernung zwischen sich und dem Land, dabei konnten die Verfolger nur gewinnen. Es blieb ihm deshalb schon nichts anderes übrig, als das nächste Land in so gerader Richtung als möglich anzusteuern; wer konnte wissen, welche Vorteile ihm die Nähe des Lands selber bot, und daß er solche dann nach Kräften nützen würde, dazu war er fest entschlossen.
Das Mädchen ruderte indessen still und schweigend fort. Nur einmal, als die Ruderschläge der Verfolger zum erstenmal ihr scheues Ohr trafen, wandte sie den Kopf dorthin, dann arbeitete sie geduldig weiter. Hinter ihr lag der Tod, vor ihr das Leben; und an das klammerte sich ja das arme junge Mädchen noch mit allen Fasern ihres Herzens fest. Jack ruderte ebenfalls aus Leibeskräften, aber je mehr er sah, daß die Verfolger näher kamen, desto fester und ingrimmiger biß er die Zähne zusammen. Furcht kannte er dabei gar nicht; sein Leben hatte er schon oft selbst eines gleichgültigen Erfolgs wegen gewagt, aber das ärgerte ihn, daß er vor dem feigen Burschen von Aufseher fliehen mußte.
„Schuft von einem Kerl“, murmelte er dabei vor sich hin, „hätt ich nur ein Boot unter mir, wie du, in dem ich mich aufrichten dürfte, ohne die Gewißheit zu haben, im nächsten Augenblick damit umzuschlagen, wie in der Nußschale von einem Ding hier, ich wollte dich lehren, arme Mädchen blutigpeitschen!“
Weiter - immer weiter ruderte er. Der Schweiß stand ihm in großen Tropfen auf der Stirn, und trotzdem schallten die Ruderschläge immer lauter und deutlicher zu ihnen herüber. Dabei war es, als ob das Land, das ihm am Anfang so nahe geschienen, gar nicht näher kommen wolle. Noch immer lag eine weite Wasserfläche zwischen ihm und dort, und das verfolgende Boot hätte er schon mit der Büchsenkugel erreichen können. Aber kein Wort sagte er; was half jetzt alles Reden, wo sie handeln mußten, und überdies entschied die nächste Viertelstunde ja auch ihr Schicksal - zum Guten oder Bösen -, aber immer näher kam das Boot. Während des Mädchens Arme, von der Entzündung des Rückens angegriffen, mehr und mehr ermatteten, legten sich die Verfolger nur mit frischerer Lust in die Ruder, je deutlicher sie sahen, wie sie dem Kanu näher kamen. Auf der einen Seite winkte ihnen für sie reichlicher Gewinn, auf der andern drohte ihnen die Peitsche, kein Wunder, daß sie da ihr Bestes taten, um den ausgesetzten Preis zu verdienen. Zehn Minuten waren solcherart noch vergangen. Das Boot konnte kaum noch hundert Schritt von ihnen entfernt sein, und das laute Lachen des Aufsehers, der über den glücklichen Fang jubelte, tönte schon zu ihnen herüber. - Jack knirschte vor Wut die Zähne zusammen, und ein toller Entschluß reifte auf einmal in ihm.
„Und sie sollen dich doch nicht fangen, Sally!“ flüsterte er dem Mädchen zu. „Wenn wir auch nicht zusammen fliehen können, will ich den Hunden da drüben doch den Spaß vereiteln.“
„Es ist vergebens“, stöhnte das Mädchen, indem sie das Ruder sinken ließ, „ich danke Euch für alle Güte, die Ihr mir erwiesen, und hätt ich noch Tränen! Aber es ist vorbei - in wenigen Minuten sind wir in ihrer Gewalt.“
„Noch nicht“, sagte aber Jack, das Ruder mit doppelter Kraft gebrauchend. „Teufel! Das Land ist kaum zweihundert Schritt mehr entfernt, und so nahe vor dem Hafen noch zu scheitern - aber noch gibt es ein Mittel. Die kurze Strecke kannst du auch allein noch rudern, und daß dir die anderen nicht folgen, dafür laß mich sorgen. Ich rudere dich jetzt noch so weit als irgend möglich, die Entfernung zu verringern, und laufen sie dann an uns heran, dann sitz nur fest, dann spring ich hinüber in ihr Boot und will sie schon am Rudern hindern, bis du in Sicherheit bist.“
„Und Ihr? - Was wird aus Euch?“
„Pah!“ sagte der junge Bursche. „Was können sie machen? - Sie sollen mir nachher einmal beweisen, daß du gerade hier in dem Kanu gewesen - wenn sie überhaupt imstande sind, mich zu halten. Ich kann schwimmen wie ein Fisch und will ihnen schon entgehen.“
„Es ist umsonst“, sagte kopfschüttelnd das Mädchen. „Was hilft es mir auch, wenn ich allein, mit dem Boot doch hinter mir, das Ufer erreiche! Sie würden mein Kanu finden und zerstören, und morgen hätte ich die Aufseher der nächsten Plantagen mit ihren Bluthunden auf meiner Fährte. Meine ganze Flucht war Wahnsinn und hat nur dazu gedient, Euch noch mit in mein Verderben zu reißen.“
„Unsinn“, brummte Jack zwischen den Zähnen hindurch, „soweit sind wir aber noch nicht, und du kannst doch wenigstens den Versuch machen, zu entkommen. Doch immer besser das Letzte versucht, als sich frei in sein Schicksal zu ergeben.“ Das Mädchen schwieg einen Augenblick und senkte den Kopf, endlich sagte sie mit leiser, kaum zum Ohr des jungen Manns dringender Stimme:
„Ihr habt gesagt, daß wir zusammen fliehen wollen. - Sie werden Euch töten, während ich das Ufer erreiche - ich gehe nicht - ich will mit Euch sterben.“
Ein eigenes, wunderlich wildes und schmerzliches und doch auch wieder so süßes Gefühl zuckte durch des jungen Burschen Herz bei diesen Worten.
„Mit mir sterben, Sally? Nun gut dann, Kind - es ist möglich, aber - so weit sind wir noch nicht. Wenn uns der Bursche da drüben zum Äußersten treibt, mag er sich die Folgen dann auch selber zuschreiben, Gnade gibt er nicht und hat sie deshalb auch nicht zu erwarten, und wenn du so gesonnen bist, dann...“ Er brach kurz ab, aber ein wildes Feuer glühte in seinen Augen, und doch war in diesem Augenblick auch aller Schmerz, jede Angst von ihm gewichen. Er warf den Kopf zurück, sah das Boot kaum einen Steinwurf weit hinter sich, und drohend klang zugleich des Negertreibers Stimme zu ihnen herüber.
„Willst du es aufgeben, mein Schatz, und hast du eingesehen, daß du uns nicht mehr entgehen kannst?“
Jack hatte das gar nicht mehr so ferne Land mit den Blicken überflogen, und eine Stelle dort schien ihm die Möglichkeit einer Landung zu gestatten. Fast überall war die Uferbank steil und schroff abgebrochen, nur eine kleine Strecke unterhalb begann eine Sandbank, an deren oberen Teil er hoffen durfte, anzulaufen. Zu gleicher Zeit wandte er den Bug seines Kanus ein klein wenig mehr stromab, und der Aufseher, der am Steuer mit dem Gesicht nach vorn in seinem Boot saß, erkannte zum erstenmal, daß die flüchtige Sklavin nicht allein in dem Kanu sei.
„ Alle Teufel!“ rief er aus. „Was ist das? Sind wir einem falschen Kanu gefolgt, oder hat die Dirne noch einen Begleiter bei sich? Darum konnte sie so scharf rudern. Aber warte, mein Herz, dir soll die Lust vergehen, zum zweitenmal davonzulaufen - jetzt bin ich nur begierig, deinen Kompagnon kennenzulernen.“
„Dessen Bekanntschaft kannst du bald machen, mein Bursche!“ rief da Jack, den Bug seines Kanus herumwerfend, daß es gerade gegen die Strömung anhielt, die Büchse hatte er zugleich auf seine Knie gelegt, die Mündung dem kaum noch zwanzig Schritt entfernten Boot zugekehrt - in dieser Stellung konnte er die Waffe mit Sicherheit führen.
„Verdammnis!“ schrie der Aufseher. „Das ist nicht die Stimme eines Niggers - das ist...“
„Ein guter Freund und alter Bekannter von dir, Kamerad“, rief da der junge Mann, sein Ruder vor sich ins Boot werfend und die Büchse in Anschlag heraufnehmend. „Halte das Kanu einen Augenblick in der Richtung, Sally, bis ich den Burschen da drüben abgefertigt habe - und nun herum mit eurem Bug, ihr Schufte, oder so wahr ein Gott da oben über uns lebt, ich schieße dir eine Kugel durch das Hirn!“
„Das ist der Bootsmann von dem Flatboot drüben!“ schrie der Aufseher, von seinem Sitz emporspringend. „Hundert Dollar, Jungens, wenn ihr den Burschen lebendig fangt, daß ich ihn hängen sehe.“
Die Neger setzten ihre Ruder mit aller Kraft ein; das Boot sprang bei jedem Schlag, den sie ins Wasser taten, ordentlich nach vorn. Dabei hielt der Steuernde den Bug voll gegen die Seite des Kanus, und Jack durchschaute im Nu die Absicht des Aufsehers. Sobald es ihm gelang, das schwankende Kanu mit dem weit stärkeren, in voller Fahrt herankommenden Boot zu treffen, so mußte es sich füllen und sinken, eine Schußwaffe war dann unbrauchbar, und sie selber im Wasser den Verfolgern rettungslos preisgegeben.
Das Mädchen hatte den Kopf schaudernd abgewandt; die Stimme ihres Henkers füllte ihr Herz mit Todesfurcht, und nur mechanisch folgte sie dem Befehl ihres Begleiters, den Bug des Kanus noch gegen die Strömung zu halten. Jack dagegen wußte, daß der entscheidende Moment gekommen sei. Das Kanu lag vollkommen still, mit der Strömung langsam niedertreibend, während das Boot schäumend heranschoß. Die Büchse hob sich langsam der untergehende Mond schien hell auf das blitzende Korn - Jack wußte, daß von dem sicheren Schuß sein Leben abhing, und als er den Kopf des Aufsehers mit Korn und Visier auf kaum zehn Schritt mehr in einer Linie hatte, drückte er ab.
Ein gellender Aufschrei dröhnte mit dem Schuß zusammen, Jack aber, die Büchse ins Kanu werfend, hatte im Nu das Ruder aufgegriffen, ihr Bug flog herum, scharf ab von dem verfolgenden Boot, und wich, als dieses einmal im Gang heranflog, mit Blitzesschnelle zur Seite aus. Aber auch das Boot änderte seine Richtung, denn der zu Tode getroffene Aufseher war auf das Steuerruder zurückgestürzt, dieses zu Starbord hinüberdrückend. Dadurch wandte sich jetzt dessen Bug stromauf. Die Neger aber, die keine Ahnung gehabt, daß der weiße Mann seine Drohung so furchtbar rasch erfüllen würde, ja, die vielleicht nicht einmal geglaubt, daß er ein Gewehr bei sich führe, ließen erschreckt die Ruder fallen und sprangen auf, um ihrem gestrengen Herrn beizustehen. Mr. Hoofs Regiment hatte aber ein Ende. Die sichere Kugel des jungen Bootsmanns war, nur etwas zu tief, durch seine Stirn gefahren. Er lebte zwar noch, aber nur, um wilde, unartikulierte Schreie auszustoßen und mit den Armen jählings um sich her zu werfen. Nach dem Schuß war er im Boot emporgesprungen und wäre über Bord gefallen, hätte ihn nicht einer seiner Leute gefaßt und gehalten. Dadurch aber, und während er mit seinem zuckenden Körper das Steuer zur Seite drückte, kam auch die ganze Bootsmannschaft in Unordnung, und Jack war nicht der Mann, die ihm solcherart gegönnte Zeit unbenutzt verstreichen zu lassen.
Keinen Jubelschrei stieß er aus über den geglückten Schuß, keinen Blick warf er zurück auf das jetzt von ihm abgewandte Boot. Mit neuer Hoffnung, aber freilich auch dem unbehaglichen Gefühl, ein abgeschossenes Gewehr im Kanu zu haben, legte er sich mit aller Macht in sein Ruder und arbeitete dem Land entgegen. Im Boot entdeckten sie jetzt allerdings die Flucht des schon so sicher geglaubten Kanus, aber ehe sie ihre Ruder wieder aufgreifen konnten, hatte das schon einen tüchtigen Vorsprung gewonnen, und dicht am Land mit der Strömung hin glitten die Geretteten.
Gerettet? Lieber Gott, noch lagen vielleicht schlimmere Gefahren für sie im Hintergrund, als selbst der jähe Tod im Strom gewesen wäre; aber diesem ersten waren sie doch entgangen. Der schlimmste Feind, den sie im Land hatten, war unschädlich gemacht, und allem anderen sah der junge Bursche mit leichtem, fröhlichem Herzen keck entgegen.
Wohl folgte jetzt das Boot; die Neger hatten den Körper des Sterbenden, dem sie doch keine Hilfe bringen konnten, auf den Boden des Boots gelegt und nahmen die Verfolgung wieder auf. Aber es war kein rechter Ernst mehr darin. Was konnten sie auch, Sklaven miteinander, gegen den Weißen machen? Durften sie sich an ihm vergreifen, und stand nicht Todesstrafe für irgendeinen von ihnen darauf, der Hand an einen der bevorzugten, freien Kaste legte? Allerdings hatte der Mann eine Sklavin gestohlen, und vielleicht hätten sie die Gerichte freigesprochen - aber nur vielleicht. Sie wußten es nicht genau, und dann war auch der erste Schuß mit solcher Sicherheit gefallen und hatte sich sein Opfer so furchtbar schnell aus ihrer Mitte herausgeholt - sollten sie der Waffe noch einmal trotzen? Und weshalb?
Die beiden Negertreiber, während sie nichtsdestoweniger so rasch sie konnten hinter dem Kanu dreinruderten, überlegten sich das alles leise miteinander - aber im freien Wasser konnten sie die Flüchtlinge nicht mehr überholen. Um den Wipfel eines in den Strom gestürzten Baumes biegend, war es plötzlich ihren Blicken entschwunden, und als sie dicht davor das Wasser mit ihren Rudern zurückdrängten und vorragende Äste faßten, um sich dort festzuhalten, hatte ein überragender Baum die beiden schon in seinen Schutz genommen.
In dem Boot befanden sich noch, außer dem erschossenen Aufseher, vier Neger - die beiden Negertreiber, Mulatten, und zwei der zuverlässigen Sklaven, die Mr. Hoof für seinen Dienst ausgewählt. Ohne weißen Befehlshaber durften sie aber selber nichts eigenmächtig unternehmen, ja wären sie selbst auf der nächsten Plantage angelaufen, so waren sie der Gefahr ausgesetzt, als entflohene Sklaven aufgegriffen und zurückgehalten zu werden. Nichtsdestoweniger hielten es die beiden Negertreiber für ihre Pflicht, den Flüchtigen wenigstens den Wasserweg abzuschneiden, indem sie das dort eingelaufene und wahrscheinlich jetzt verlassene Kanu herausholten und treiben ließen oder zerstörten. Es war dann immer eher möglich, die beiden hier im Wald wieder aufzufinden und zu fangen. Nach kurzer Beratung entschlossen sie sich denn auch, ihr Boot in das Gewirr von Ästen, durch die das schmale Kanu viel leichter hindurchgeschlüpft war, hineinzuschieben. Gar nicht weit den Strom hinauf hatten sie dann die Anzeige zu machen, und hielt man sie fest, so ließ sich ihre Unschuld leicht beweisen. Vorsichtig machten sie sich deshalb an die Arbeit, und die Ruder auf die Bänke legend, während sie sich an den Ästen langsam vorwärtszogen, brachten sie das Boot auch bald dort ein, wohin ihnen das Kanu vorausgefahren war. Ehe sie aber nur in dem dunklen Schatten der Bäume erkennen konnten, wo es lag, donnerte ihnen des Bootsmanns Stimme entgegen:
„Zurück, ihr Burschen! Schiebt sich euer Boot noch eine Elle weiter hier herein, so schieß ich dem ersten Wollkopf, der sich darin zeigt, eine Kugel durchs Hirn - habt ihr mich verstanden?“
Die Neger antworteten nicht; daß der Mann aber nicht spaße, davon hatten sie den blutigen Beweis in ihrem eigenen Fahrzeug liegen, und rascher, als sie in das Gewirr hineingekommen, arbeiteten sie sich wieder zurück. Mit Gewalt war da nichts auszurichten, und sie selber mußten sich einen anderen Plan ausdenken, um dem Kanu wenigstens die weitere Flucht abzuschneiden.
Jack hatte indessen seinen eigenen Plan gefaßt. Sowie das Kanu mit der Spitze die dort nicht zu steile Uferbank berührte, sprang Sally heraus und stand jetzt zitternd am Ufer, um ihren Beschützer zu erwarten. Der junge Bootsmann säumte denn auch nicht, ihr zu folgen, und einmal erst auf sicherem Boden, wurde ihm leichter, fröhlicher ums Herz. Seine erste Sorge war aber, die abgeschossene Büchse wieder zu laden, und mit der Waffe jetzt schußfertig in der Hand wußte er, daß er sich die unbewaffneten Neger leicht in nötiger Entfernung halten könne. Ihren ersten Versuch, sein kleines Fahrzeug zu nehmen, machte er auch rasch durch seine Drohung zunichte, seine Situation war aber dadurch auch nicht viel gebessert. Vorsichtig horchte er allerdings erst eine Weile nach den Zurückweichenden hinüber, solange er ihre Stimmen hören konnte, und kletterte dann leise wieder in das Kanu hinab.
„Wo wollt Ihr hin?“ flüsterte Sally, erschreckt die Hände faltend. „Nur ruhig, mein Herz“, warnte aber der Mann mit ebenso leiser Stimme. „Erst muß ich wissen, was die Burschen da draußen vorhaben - bleib nur ruhig hier und fürchte nichts - ich komme gleich zurück.“
Seine Büchse im Kanu, ohne jedoch das Ruder zu gebrauchen, schob er jetzt den Bug desselben langsam weiter und weiter vor, bis er der ihm ängstlich Nachschauenden im Schatten des dunklen Baumwollholzwipfels entschwunden war - lange Minuten vergingen, und er kehrte nicht zurück. War er geflohen? Hatte er sie allein hier ihrem Schicksal überlassen? Sie schauderte bei dem Gedanken, und noch einmal so unheimlich rauschten die düsteren Wipfel über ihr und tönte klagend der Ruf der Eulen durch den stillen Wald. Eine volle halbe Stunde verging ihr so in peinlich qualvollem Warten, und keine Nacht war ihr so lang noch vorgekommen. Endlich glaubte sie, das Geräusch zurückgedrängter Büsche zu hören; ihr Herz klopfte stürmisch in der Brust, und jetzt - er kehrte zurück. Dort schob sich das lange schmale Kanu langsam dem Land wieder entgegen, und als sie sich vorbeugte, den Bug desselben zu fassen und zu halten, trat Jack, die Büchse in der Hand, zu ihr heraus.
Kein Wort sprach er dabei, nur alles, was noch im Boot lag, hob er heraus, zog das Kanu dann weiter auf den weichen Boden, höher und höher hinauf. Seine ganze Kraft mußte er dabei anwenden und bald an dem, bald an jenem Ende heben, denn das Mädchen konnte ihm wenig dabei helfen. Endlich aber gelang es ihm doch, es, wenigstens vom Wasser aus, außer Sicht hinter einen Busch zu bringen, und er ging nun daran, die hinterlassenen Spuren im weichen Boden so gut als möglich wieder unkenntlich zu machen. Sally hatte ihn dabei, soviel sie konnte, unterstützt, und das beendet, faßte er jetzt des Mädchens Hand und half ihr wieder die Uferbank hinauf, weiter, immer weiter in den Wald hinein. Noch immer sprach er kein Wort und suchte nur sorgfältig die offensten Stellen für seinen Schützling aus, um ihr den rauhen Weg so gut als möglich zu erleichtern, bis sie das Ufer weit, weit hinter sich gelassen.
Sally war ihm, ohne eine Frage zu tun, ohne eine Klage auszustoßen, durch Schilf und Sumpf und über umgebrochenes Holz gefolgt. Da plötzlich blieb er stehen, warf seine Decke zu Boden, lehnte die Büchse an einen umgestürzten Stamm, neben dem sie standen, und sagte freundlich:
„Nun, mein Kind, sind wir deinen unmittelbaren Verfolgern wenigstens entrückt, und wie's nun weiter kommen mag, müssen wir versuchen. Aber hast du Kraft, mir noch ein paar Stunden lang durch dies Gewirr von Schilf und Unterholz zu folgen?“
„Ja“, sagte das arme Mädchen leise, „wohin Ihr mich führt; ich will nicht fragen, was und wie Ihr's tut.“
„O nein, mein Herz, so war es nicht gemeint“, sagte der junge Mann lachend, „du sollst allerdings genau wissen, was ich zu tun gedenke; ob es uns glückt, steht freilich in Gottes Hand. Nun höre: Dadurch, daß ich den Burschen von unserem Kanu zurückscheuchte, sind sie natürlich der Meinung, daß wir ihnen mit dem und zu Wasser noch entgehen wollen. Sie wissen auch ziemlich genau, wie wild diese Wälder sind, und können sich nicht denken, daß ein Fremder seinen Weg hindurch finden würde. Der Wald aber ist meine eigentliche Heimat und ein alter Freund, und einen besseren Führer könntest du dir nicht wünschen.“
„Aber die Verfolger werden nach der nächsten Plantage rudern und dort die Leute auf unsere Fährte setzen.“
„Wenn sie das diese Nacht beabsichtigen, wären wir jetzt schon wieder im Kanu unterwegs“, sagte Jack, „und hätten's dann gewiß viel bequemer. Wie die Sache aber jetzt steht, haben sie ihr Boot draußen an den Büschen festgemacht und wollen dort jedenfalls, während sie den Tag abwarten, uns hindern, wieder auszulaufen. Das war auch das Gescheiteste, was sie tun konnten, denn bei Nacht dürfen sie nirgends anlaufen, wie niemand daran denken könnte, uns hier im Wald im Dunkeln zu verfolgen. Was sie für morgen früh beabsichtigen, weiß ich nicht, bis dahin aber, hoff ich, sind wir aus ihrem Bereich. Weiter unterhalb im Strom und kaum eine halbe Stunde Wegs von hier entfernt sah ich nämlich, gerade als ich mir einen Platz zum Landen suchte, ein schwaches Licht aus dem Wald schimmern. Dort liegt jedenfalls die Hütte irgendeines Holzfällers, die sich hier überall am Ufer niedergelassen, um Holz für vorbeikommende Dampfer aufzuklaftern. Alle diese Leute haben aber ein Boot oder Kanu an ihrem Haus, und wenn wir das erreichen, ehe die Sonne aufgeht, dann mögen sie hier oben sitzen und Wache halten nach Herzenslust, dann führe ich dich vor Tag einem freien und, will es Gott, glücklichen Leben entgegen.“
„Glücklich?“ sagte seufzend das arme Mädchen. „Darf ich auf Glück noch rechnen?“
„Ja, mein Kind“, sagte da mit weicher Stimme der sonst so rauhe, wetterfeste Bursche, indem er des Mädchens Hand ergriff und hielt. „Ja, Sally, wenn wir all den Gefahren, die uns hier noch umgeben, glücklich entgehen, dann darfst du das und hast es mehr vielleicht verdient als tausend andere, die von ihrer Geburt an darin sich schwelgen. Jetzt aber fasse nur guten, frischen Mut, mein armes Kind! Du hast mir nun einmal dein Leben anvertraut, und daß es dich nie gereuen soll, lasse meine Sorge sein. Aber nun fort: Wir versäumen hier mit Schwatzen die schöne, kostbare Zeit und haben hier das Schlimmste vor uns - einen weiten Weg durch Dornen und Gestrüpp. Ich fürchte fast, es wird zuviel für dich.“
„Oh, sorgt Euch nicht um mich!“ rief das Mädchen, und ihre Stimme klang in dem Augenblick zum erstenmal froh und sorgenfrei. „Ihr sollt sehen, wie rüstig ich Euch folgen werde, und jetzt, in diesem Augenblick, ist es mir auch fast, als ob ein schwerer Gram von meiner Seele genommen wäre. Guter Gott, ich habe noch nie in meinem Leben gewußt, wie einem Wesen zumute ist, um das ein anderes sich sorgt! Ihr seid der erste, der freundlich mir entgegentritt, von dessen Lippen ich keine harten, zürnenden Worte höre, und wenn ich jetzt auch meinen Peinigern wieder in die Hände fiele, wenn ich ein ganzes langes Leben durch für diesen einen glücklichen Augenblick büßen müßte - ich will nicht murren -, hab ich doch gelebt.“
„Du armes, armes Kind“, sagte Jack, „daß es solche Teufel mit menschlichen Fratzen gibt, die sich Gottes Ebenbild nennen und eine Hölle um sich schaffen! Aber die Zeit kommt vielleicht auch, wo diese Sklaverei als Fluch und Schande gebrandmarkt wird, wo nicht ein solches Gesindel die Peitsche mehr über ein unglückliches Volk schwingen darf! Doch fort mit den Gedanken - bleibe dicht hinter mir, mein wackeres Mädchen, und halten deine Kräfte nur noch ein paar kurze Stunden aus, so denk ich, haben wir das Schlimmste überstanden.“
Rasch griff er wieder seine zusammengeschnürte Decke, in die er ihren Proviant gewickelt hatte, vom Boden auf, nahm seine Büchse und schritt durch den dunklen, jetzt nicht einmal mehr vom Mond erhellten Wald. Vorsichtig wählte er dabei jede nur einigermaßen lichte Stelle, und wo es ihm die dichten Wipfel erlaubten, blieb er stehen, um nach den Sternen seine Bahn zu finden. Sorglich half er dabei dem Mädchen über jeden in ihrer Richtung liegenden umgestürzten Stamm, führte sie durch hier und da eingerissene Gräben und rückte, wenn auch langsam, doch weiter und weiter mit ihr vor.
So mochten sie zwei volle Stunden gewandert sein, und Jack hatte sich jetzt am Rand eines Schilfbruchs gehalten, wo das Unterholz nicht so dicht stand. Da erreichte er plötzlich einen kleinen freien Platz, und wo er ihn betrat, verkündete ein durch Menschenhand gefällter Baum die Nähe einer Wohnung.
Rasch bog er sich nieder, mit der Hand den Boden fühlend; und mit dem Jubelschrei: „Ein Weg! Ein Weg!“ sprang er wieder empor.
„Ist hier ein Weg?“ fragte das Mädchen, das schon an seiner Seite stand.
„Ja, mein Herz, ein Fahrweg noch dazu, auf dem die Leute jedenfalls ihr Holz zum Strom geschafft haben, und hier sind wir vom Ufer auch gar nicht mehr so weit entfernt. Hörst du den Dampfer, der dort drüben den Mississippi herunterbraust? Wenn wir die Richtung jetzt genau wüßten, in der das Haus liegt, könnten wir es vielleicht in kurzer Zeit erreichen.“
„Dort bellt ein Hund“, rief Sally plötzlich, des jungen Mannes Arm ergreifend und nach hinüber deutend, wo sie geglaubt, daß sie den Laut gehört.
„Dort läutet die Glocke!“ schrie Jack jubelnd. „Das Dampfboot legt an, Holz einzunehmen, und in fünf Minuten wissen wir, woran wir sind.“
„Aber es geht den Strom hinab“, sagte schüchtern das Mädchen.
„Und was tut's?“ lachte Jack, die Brust von neuer Zuversicht gefüllt. „Ich bin gern im Wald, Herz, und nie glücklicher, als wenn ich die grünen Wipfel über mir rauschen höre. Der letzte Marsch hat mir den Wald aber auf ein paar Tage verleidet, und mit den tiefen Spuren, die wir dort im weichen Boden hinterlassen, ist es am Ende auch besser, wir machen, daß wir hier fortkommen. Gebe der Himmel, daß wir's zur rechten Zeit auch noch erreichen!“
Wieder schlug die Glocke draußen an. Deutlich konnten sie die scharfen Töne herüberschallen hören, und Jack wußte recht gut, daß dieses Zeichen in der Nacht nur dann gegeben wird, wenn entweder Passagiere zu landen sind oder das Boot Holz einnehmen will. Das erstere war hier nicht wahrscheinlich, denn der dichte Wald verkündete keine Plantage, und nahm das Boot wirklich Holz, so behielten sie auch Zeit genug, den Platz zu erreichen. Vor allen Dingen mußten sie jetzt die Richtung genau wissen, in welcher der Dampfer anlegen würde, und ob sie dem gefundenen Weg hier folgen könnten. Darüber sollten sie auch nicht lange im Zweifel gelassen werden. Wieder gab die Glocke ein paar kurze Schläge, und kaum fünf Minuten später hörten sie das scharfe Zischen des ausgelassenen Dampfes.
„Hurra, jetzt haben wir's! „ lachte Jack in wilder Fröhlichkeit. „Und nun vorwärts, Kind - noch eine kurze Strecke, und wir sind am Ziel.“
Rüstig schritt er auf dem Weg hin, und schon sahen sie eine weite Lichtung vor sich, in der sie die dort vielleicht begonnene Farm zu erreichen hofften. Da sah Jack plötzlich die Sterne vor sich im Weg von einem Wasserspiegel widerflimmern und erkannte zu seinem Schreck, daß sie an einem breiten Sumpf standen, der zwischen ihnen und dem Ufer lag.
„Alle Teufel!“ murmelte er leise vor sich hin. „Das ist eine schöne Geschichte, so dicht am Ziel, und der verdammte Sumpf.“
„Solche Stellen wimmeln von Alligatoren“, stöhnte entsetzt das Mädchen, während Jack, der eben denselben Gedanken gehabt, sich bestürzt hinter dem Ohr kratzte.
„Ja, ich weiß, mein Herz“, brummte er leise zwischen den Zähnen hindurch. „Deren Bekanntschaft haben wir heute schon einmal gemacht.“
Wieder zischte der Dampf aus dem Boot, und über die offene Waldstelle herüber klang es, als ob es kaum fünfhundert Schritt entfernt liegen könnte.
„Und wenn wir nun versuchten, den Sumpf zu umgehen?“ sagte schüchtern das Mädchen.
„Das geht nicht“, rief Jack. „Die ganze Nacht könnten wir dazu gebrauchen und brächen überdies noch Hals und Beine in den verwünschten Zypressenwurzeln. Nein, Sally, hier sind wir einmal und müssen auch hindurch, und was ich heute morgen von den Alligatoren gesehen, läßt mich glauben, daß sie eben feige Bestien sind. Drum frischen Mut - hier, Mädchen, nimm meine Büchse - hab acht, daß du den Hahn nicht spannst, und jetzt trag ich dich hindurch.“
„Durch den Sumpf?“
„Hab keine Angst - das Wasser ist an solchen Stellen selten tief - Bäume stehen ja überall darin, und durch die Pfütze wollen wir uns nicht zurückschrecken lassen. Fürchtest du dich?“
„Ich fürchte für Euch“, sagte leise das Mädchen, indem sie zögernd die dargereichte Waffe nahm. „Ich will lieber den Alligatoren zur Beute fallen, als den Verfolgern.“
„Beides nicht angenehm“, lachte Jack, „aber ich hoffe, wir entgehen den einen wie den anderen, und nun vorwärts!“
Sorgsam hob er die schmale Gestalt in seine Arme, und mit festem, trotzigem Schritt betrat er den weiten, öden Sumpf. Aber der Boden war hart, das Wasser reichte ihm wenig über die Knie, waren ja doch auch schon die Holzwagen hier hindurchgefahren, und weiter und weiter schritt er darin hin. Rechts und links hörte er hier und da ein Plätschern, und der scheu umhergeworfene Blick ließ ihn manchen dunklen Punkt erkennen, den er mißtrauisch für einen der braunen, weitrachigen Burschen hielt. Aber dem Geräusch, das er im Wasser machte, wichen sie aus, und nach kaum einer Viertelstunde fühlte er wieder trockenen Boden unter den Füßen.
Und dort lag auch das Boot. Durch die Büsche konnte er schon die Feuer erkennen, die von der Mannschaft am Ufer entzündet waren, und wie sie jetzt rasch darauf zuschritten, sahen sie, von ihrem Schein erhellt, das kleine Blockhaus an der schmalen Lichtung liegen. Während der Dampfer mit ausgehobenen Planken dicht am Ufer lag, arbeitete die Maschine, und geschäftige Menschen liefen, große Lasten Holz auf den Schultern, an Bord und wieder unbeladen von Bord zurück an Land.
„Aber werden sie uns aufnehmen?“ flüsterte das bange Mädchen, dem in der Nähe der vielen Weißen die alte Furcht das Herz beschlich.
„Wir werden sie nicht fragen“, lachte Jack. „Jetzt halt den Kopf oben, Kind, und zeig um Gottes willen keine Scheu. Wir gehen gerade an Bord - fragen wird uns kein Mensch, bis wir erst einmal unterwegs sind, denn dazu haben die Leute jetzt nicht Zeit, und für das andere laß du mich dann sorgen.“
Sallys Hand ergreifend, schritt er jetzt langsam in den Menschenknäuel hinein, der, wenig seiner achtend, geschäftig herüber und hinüber wogte. Ein paar der Leute sahen wohl verwundert nach der weiblichen Gestalt, aber vielleicht waren es Passagiere aus dem Boot, vielleicht gehörten sie hier in das Haus - was kümmerte es sie!
Dicht hinter einigen der Holzträger schritten sie über die schmale Planke hin an Bord und dort ohne weiteres in das düstere Zwischendeck hinein, zwischen Gruppen von Schlafenden und Spielern hin. Niemand kümmerte sich um sie, und Jack hatte bald eine für den Augenblick unbesetzte Koje gefunden, in die er seine Decke warf. Dann blies er das Pulver von der Pfanne seiner Büchse, stellte das Gewehr in die Ecke und schien sich jetzt vollkommen zu Hause zu fühlen.
Draußen läutete in diesem Augenblick wieder die Glocke, die Leute waren fertig; das Boot schob in den Strom hinaus, und die von den Passagieren, die mit Holz getragen, kehrten in das Zwischendeck zurück.
„Hallo, Kamerad,“ sagte da ein langer Kentuckier, der in seiner verlassenen Schlafstelle wieder einkehren wollte und sie indessen ganz unerwarteterweise in Besitz genommen fand. „In der Koje schlaf ich, nimm deine Decke nur wieder heraus.“
„Ist das Euer Platz?“ fragte Jack.
„Ja - hast du was dagegen?“ fragte trotzig der Mann.
„Nein, Kamerad“, lautete die ruhige Antwort, „aber ich bin eben hier mit meiner Frau an Bord gekommen und sehe keinen andern Platz für sie. Wenn du da drinnen schlafen willst, muß sie die Nacht auf einer Kiste sitzen, wenn du ihr aber den Platz überläßt, zahl ich ihn dir.“
„So war's nicht gemeint“, brummte der Bursche gutmütig, als er einen Blick in das freundliche, ihm zugewandte, jetzt von Purpurröte übergossene Gesicht des Mädchens geworfen. „Legen Sie sich ruhig hinein, Ma'm, und wenn Sie die Decke, die da drinnen liegt, als Kopfkissen benutzen wollen, soll's mich freuen - Sie werden so noch hart genug liegen.“
„Dank Euch, Freund“, sagte Jack, des Mannes Hand ergreifend und schüttelnd.
„Unsinn“, brummte dieser, „'s ist gern geschehen.“
Dabei drehte er sich ab, streckte sich auf einer der nächsten Kisten aus und war bald trotz der unbequemen Lage sanft und süß eingeschlafen.
Jack bereitete indessen seinem Schützling das Lager auf dem ihr überlassenen Schlafplatz, hüllte die müden Glieder des armen Mädchens in die wollene Decke ein und ging dann selber vor zu den Heizern, um sich an deren Feuer die naßgewordenen Kleider wieder zu trocknen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Flatbootmann