Die freie Fahrt
Sally hatte indessen eine Stunde in wahrer Todesqual zugebracht und alle Angst und Pein der letzten Tage, nur mit doppelter Schärfe, noch einmal in der kurzen Zeit durchlebt. Das Herz voll goldener Hoffnung eines freien Lebens, saß sie halb träumend, halb wachend vor ihrer Koje; an Gefahr beinahe nicht mehr denkend, hatte sie ihre Umgebung schon fast vergessen und empfand nur das selige Gefühl, daß sie das Boot rasselnd und schnaubend weiter, immer weiter, dem Norden entgegenführte. Da blieb jemand der im Zwischendeck Umherstreifenden vor ihr stehen, und in der Meinung, Jack sei es, schlug sie die Augen zu ihm auf, fühlte aber auch in dem Moment ihr Herzblut stocken, denn vor ihr stand Salomo, der Neger ihres Herrn. Sie war nicht einmal imstande, die Augen wieder von ihm wegzunehmen - sie sah nur, wie der alte Schwarze erst einen vorsichtigen Blick um sich warf, ihr dann freundlich zublinzelte und nach der Koje deutete; dann schaute er sich um, als ob er noch hinter sich jemanden erwartete, und verließ langsam das Deck wieder.
Erst als der Blick des Negers von ihr genommen, als sie die Gestalt desselben durch die schmale Tür verschwinden sah, kam sie wieder zu sich selber. Sie wußte, daß Salomo nie allein das Boot betreten haben würde, und in dem unbestimmten Gefühl, daß er sie nicht verraten würde, stand sie auf, drehte ihr Antlitz langsam der Wand zu und legte sich dann, mit einem Bonnet den Kopf bedeckend, in die niedere Koje vom Deck abgewandt. Als Salomo gleich darauf wieder einen flüchtigen Blick in den inneren Raum warf, sah er sie sehr zu seiner Zufriedenheit solcherart untergebracht und versuchte nun, wie wir schon wissen, ihren Begleiter ebenfalls zu finden.
Regungslos blieb das Mädchen indessen in ihrer Stellung, und wenn auch ihr Körper ruhte, arbeitete die Seele doch in wilder peinigender Angst in ihr. Da hörte sie die Stimme ihres Herrn - wußte ihren Beschützer der Gefahr, die ihm so gut wie ihr drohte, ahnungslos ausgesetzt und durfte ihn nicht warnen. Auch die Stimmen der Negertreiber - ihrer Feinde - hörte sie, und endlich hielt das Boot. War sie entdeckt, hatten sie die Plantage schon erreicht, und würde nicht plötzlich eine rauhe Hand sie fassen und von der Schwelle des schon betretenen Glücks, der schon geschauten Freiheit, gewaltsam zurückreißen in das fürchterliche Leben? Alles war ruhig - wieder arbeitete das Boot und klapperte die Maschine, zischte der Dampf, rauschten die schweren Räder und schlugen die Wellen plätschernd hintendrein. Sie wagte kaum zu atmen - sie wollte beten, aber sie vermochte es nicht. Die Gedanken verwirrten sich, und all die alten Schreckgebilde des verflossenen Lebens jagten sich in wilder Hast an ihrem inneren Geist vorbei. Da plötzlich berührte eine Hand ihre Achsel - galt es der entlaufenen Negerin? Ihre Glieder flogen wie in Fieberfrost.
„Sally“, flüsterte da Jacks freundliche, tröstende Stimme leise an ihrem Ohr, „beruhige dich, mein Herz, und stehe auf - die Gefahr ist vorüber - das letzte, was uns drohte. Wir sind gerettet.“
Noch immer regte sich das Mädchen nicht. Zu rasch folgte dieser neue Wechsel von Glück und Sicherheit der kaum erst überstandenen Angst und Pein, bis sich die mühsam zurückgedämmten Gefühle endlich in einem lindernden Tränenstrom die Bahn ins Freie brachen. Jack zog seine Hand zurück - machten doch die Tränen dem gepreßten Herzen Luft, und mit einem Zartgefühl, wie es selbst der roheste Hinterwäldler gar nicht selten, besonders den Frauen gegenüber, beweist, setzte er sich still und schweigend vor der Koje nieder. Aber das arme Mädchen war in Leiden gekräftigt und gestählt und überwand gar bald das augenblickliche Gefühl von Schwäche, das sie entnerven wollte. Noch in der Koje nahm sie das Bonnet ab, strich sich die vollen Haare aus der Stirn und erhob sich dann langsam von ihrem Lager.
Als Jack sah, daß sie aufstehen wollte, verließ er leise seinen Platz und ging wieder auf den Larbord-Gang hinaus, bis das Boot endlich sich mehr und mehr der Stelle näherte, auf der die Plantage jenes Pflanzers lag. Schon konnte er die Landspitze darunter erkennen, über der der Strom einen weiten Bogen gegen Westen machte - schon sah er die Dächer der Häuser aus dem dunklen Grün der Gartenbäume herausragen und zögerte noch immer, ob er Sally dazu herausrufen solle oder nicht. Aber das Mädchen hatte ihn schon selbst gefunden, und an seine Seite tretend, schaute sie still und gedankenvoll nach dem, oh, so wohlbekannten Platz hinüber!
„Dort liegen die furchtbaren Hütten“, sagte sie endlich, fast wie mit sich selber redend und zusammenschaudernd, „dort liegt das Haus, das mir eine Hölle war - das es vielen armen, unglücklichen Wesen noch ist und bleiben wird - ich kann es nicht mehr sehen“, brach sie da plötzlich ab, „es ist, als ob ich noch immer die gehobene Peitsche über mir wüßte und die scharfen Schläge meine Glieder zerfleischen fühlte.“
„Ich habe dich gerächt, mein armes Kind“, sagte der junge Mann ernst. „Der Schuft, der dich dort mißhandelte, liegt mit zerschmettertem Hirn jetzt eingescharrt. Er wird keine Peitsche mehr schwingen, keine Geißel mehr den Unglücklichen sein.“
„Und meinethalben habt Ihr Menschenblut vergossen“, sagte Sally, ihm gerührt in die Augen sehend, „meinethalben habt Ihr Euer eigenes Leben gewagt, einer armen, verachteten Sklavin wegen.“
„Sally“, bat Jack, „und weißt du so gewiß, daß ich es deinetwegen nur getan? Doch jetzt beruhige dich erst, mein Herz; scheuche die trüben Gedanken von dir, denn mit der Stelle dort lassen wir jede Gefahr hinter uns - so wirf auch alle Angst und Sorge von dir. Die Leute hier dürfen nicht ahnen, was dir das Herz wohl immer noch bedrückt. Zeig ihnen heitere, sorgenfreie Augen und bedenke, daß nur wenige Tage uns auf immer den Sklavenstaaten ja entführen. Hoch oben an diesem Strom liegt noch ein freies, schönes Land - mein Vaterland und künftig hoffentlich auch das deine. Willst du die trüben Sorgen da vergessen?“
Sally schaute ihn mit einem Blick an, in dem ihre ganze Seele lag, dann nickte sie ihm freundlich lächelnd zu und sagte bittend:
„Nur eine einzige Stunde gebt mir noch - dann ist alles vorüber und - vergessen“, und ehe er nur ein Wort erwidern konnte, war sie ihm wieder in das innere Deck entwichen. Jack aber hätte laut aufjubeln mögen in der Lust und Seligkeit und sprang hinauf jetzt auf das Hurricane-Deck. Mußte er doch allein sein, den Gefühlen Luft zu geben, die in ihm tobten, und hier unten hätte er sich kaum mäßigen können, dem ersten besten Fremden um den Hals zu fallen und ihm zu sagen, wie froh, wie glücklich er sei. Als er aber nach einer Stunde wieder herunterkam, trat ihm das Mädchen mit heiterem Lächeln froh entgegen. Aller Gram, aller Kummer war aus den lieben holden Zügen der Jungfrau gewichen und selbst die Spur der letzten Träne verwischt und aufgetrocknet.
Und so verging ihnen jetzt im raschen Flug die Zeit. Die Tage verplauderten sie zusammen, und Jack mußte dem Mädchen von dem Leben erzählen, das sie oben im Norden führen, von den Feldern, die sie bebauen, und die nicht mit Negerblut und Schweiß gedüngt waren; von dem freundlichen Familienleben dort, von seinen Eltern und Geschwistern und dem wunderschönen Land mit seinen weiten, herrlichen Prärien und waldbewachsenen Hügeln. Aber nachts lag Jack, in seine Decke eingehüllt, vor ihrer Koje und hielt treue Wacht und sorgte für das Mädchen, wie er es dem alten Neger versprochen, als ob sie seine eigene Schwester sei.
Fünf Tage waren solcherart verstrichen, und wenn Jack am Anfang auch noch immer ein unbehagliches Gefühl überkommen wollte, sobald sie an irgendeiner größeren Stadt landeten, oder irgendein Boot vom Ufer ab kam, um neue Passagiere an Bord zu holen, so verlor sich das doch bald. Sie näherten sich dem Norden; hinter ihnen lag schon Arkansas und der Mississippistaat, zur Linken dehnte sich Missouri aus, ihnen zur Rechten zogen sich die bewaldeten Berge Kentuckys hin. Weiter und weiter brauste das wackere Boot stromauf, und wie die Sonne wieder unterging, da nahm Jack freundlich Sallys Hand und führte sie zum erstenmal mit sich zum Hurricane-Deck hinauf, von wo sie die weiten Ufer überschauen konnten. Er war aber so sonderbar aufgeregt dabei, wie ihn das Mädchen noch nie gesehen, und Sally blickte staunend zu ihm auf. Da endlich streckte er den Arm aus und sagte, nach dem rechten Ufer deutend, mit zitternder, bewegter Stimme:
„Siehst du dort, mein Herz! Siehst du den breiten schönen Strom, der dort, von Osten niederkommend, sich in den Mississippi wälzt? An seiner Mündung liegt die kleine Stadt da vorn.“
„Gewiß“, lautete die schüchterne Antwort des Mädchens, das sich die Bewegung des Mannes nicht erklären konnte.
„Das ist der Ohio“, rief da Jack, „und jenes Land dort drüben, das unser Bug in keiner halben Stunde Zeit berühren wird, ist Illinois, der erste freie Staat und künftig unsere Heimat. Dort drüben landen wir, und noch heute abend führt uns eins der kleinen Ohioboote, die du dort liegen siehst, den wunderschönen Strom hinauf und in die Arme meiner Eltern - meines Vaters - meiner Mutter.“
„Vater - Mutter“, flüsterte das Mädchen leise und traurig vor sich hin, „wie süß, wie lieb die Namen dem Ohre klingen - und ich habe nie Vater - nie Mutter sagen dürfen!“
„Du sollst es lernen, Mädchen“, sagte da der junge Mann, in tiefster Seele von den rührenden Tränen bewegt, „mein Vaterhaus, du armes Kind, sei auch von jetzt das deine, und jetzt, wo du frank und frei bist, wo dich kein Sklavenhalter suchen und finden wird, und wenn sie dich fänden, dich nie wieder mir entreißen sollten, frag ich dich, Mädchen, willst du die Meine - willst du mein Weib sein, mein braves, liebes Weib in Freud und Leid, was immer für uns auch kommen möge?“
Sally erblaßte, und die großen blauen Augen schüchtern und staunend zu ihm erhebend, sagte sie:
„Die Sklavin wolltet Ihr zu Eurem Weib erheben?“
„Oh, nenne das Wort nicht mehr!“ bat Jack, ihre Hand ergreifend und in der seinen haltend. „Wie ich dich deinen Henkersknechten entführt, will ich dir auch und werd ich dir die Freiheit sichern, und müßte ich selber mit dir nach Kanada hinüberziehen. Aber seit ich dich zum erstenmal gesehen, bin ich dir gut, von Herzen gut, mein Mädchen. Der Eltern Segen aber ist mit uns, sie kennen mich und werden meine Wahl billigen; haßt doch mein Vater nichts so sehr auf der Welt wie den sklavenhaltenden Süden. So denn, schlag ein, Sally - willst du die Meine sein?“
Er hatte zum erstenmal den Arm liebend um sie gelegt und fühlte, wie der schlanke Körper in der Berührung zitterte und bebte. Sally sprach kein Wort, kein Hauch entfloh den lieben Lippen, aber sie lehnte den Kopf an des Mannes treue Brust, und fest umschlossen hielt der Glückliche das geliebte Mädchen.
Erst als der Blick des Negers von ihr genommen, als sie die Gestalt desselben durch die schmale Tür verschwinden sah, kam sie wieder zu sich selber. Sie wußte, daß Salomo nie allein das Boot betreten haben würde, und in dem unbestimmten Gefühl, daß er sie nicht verraten würde, stand sie auf, drehte ihr Antlitz langsam der Wand zu und legte sich dann, mit einem Bonnet den Kopf bedeckend, in die niedere Koje vom Deck abgewandt. Als Salomo gleich darauf wieder einen flüchtigen Blick in den inneren Raum warf, sah er sie sehr zu seiner Zufriedenheit solcherart untergebracht und versuchte nun, wie wir schon wissen, ihren Begleiter ebenfalls zu finden.
Regungslos blieb das Mädchen indessen in ihrer Stellung, und wenn auch ihr Körper ruhte, arbeitete die Seele doch in wilder peinigender Angst in ihr. Da hörte sie die Stimme ihres Herrn - wußte ihren Beschützer der Gefahr, die ihm so gut wie ihr drohte, ahnungslos ausgesetzt und durfte ihn nicht warnen. Auch die Stimmen der Negertreiber - ihrer Feinde - hörte sie, und endlich hielt das Boot. War sie entdeckt, hatten sie die Plantage schon erreicht, und würde nicht plötzlich eine rauhe Hand sie fassen und von der Schwelle des schon betretenen Glücks, der schon geschauten Freiheit, gewaltsam zurückreißen in das fürchterliche Leben? Alles war ruhig - wieder arbeitete das Boot und klapperte die Maschine, zischte der Dampf, rauschten die schweren Räder und schlugen die Wellen plätschernd hintendrein. Sie wagte kaum zu atmen - sie wollte beten, aber sie vermochte es nicht. Die Gedanken verwirrten sich, und all die alten Schreckgebilde des verflossenen Lebens jagten sich in wilder Hast an ihrem inneren Geist vorbei. Da plötzlich berührte eine Hand ihre Achsel - galt es der entlaufenen Negerin? Ihre Glieder flogen wie in Fieberfrost.
„Sally“, flüsterte da Jacks freundliche, tröstende Stimme leise an ihrem Ohr, „beruhige dich, mein Herz, und stehe auf - die Gefahr ist vorüber - das letzte, was uns drohte. Wir sind gerettet.“
Noch immer regte sich das Mädchen nicht. Zu rasch folgte dieser neue Wechsel von Glück und Sicherheit der kaum erst überstandenen Angst und Pein, bis sich die mühsam zurückgedämmten Gefühle endlich in einem lindernden Tränenstrom die Bahn ins Freie brachen. Jack zog seine Hand zurück - machten doch die Tränen dem gepreßten Herzen Luft, und mit einem Zartgefühl, wie es selbst der roheste Hinterwäldler gar nicht selten, besonders den Frauen gegenüber, beweist, setzte er sich still und schweigend vor der Koje nieder. Aber das arme Mädchen war in Leiden gekräftigt und gestählt und überwand gar bald das augenblickliche Gefühl von Schwäche, das sie entnerven wollte. Noch in der Koje nahm sie das Bonnet ab, strich sich die vollen Haare aus der Stirn und erhob sich dann langsam von ihrem Lager.
Als Jack sah, daß sie aufstehen wollte, verließ er leise seinen Platz und ging wieder auf den Larbord-Gang hinaus, bis das Boot endlich sich mehr und mehr der Stelle näherte, auf der die Plantage jenes Pflanzers lag. Schon konnte er die Landspitze darunter erkennen, über der der Strom einen weiten Bogen gegen Westen machte - schon sah er die Dächer der Häuser aus dem dunklen Grün der Gartenbäume herausragen und zögerte noch immer, ob er Sally dazu herausrufen solle oder nicht. Aber das Mädchen hatte ihn schon selbst gefunden, und an seine Seite tretend, schaute sie still und gedankenvoll nach dem, oh, so wohlbekannten Platz hinüber!
„Dort liegen die furchtbaren Hütten“, sagte sie endlich, fast wie mit sich selber redend und zusammenschaudernd, „dort liegt das Haus, das mir eine Hölle war - das es vielen armen, unglücklichen Wesen noch ist und bleiben wird - ich kann es nicht mehr sehen“, brach sie da plötzlich ab, „es ist, als ob ich noch immer die gehobene Peitsche über mir wüßte und die scharfen Schläge meine Glieder zerfleischen fühlte.“
„Ich habe dich gerächt, mein armes Kind“, sagte der junge Mann ernst. „Der Schuft, der dich dort mißhandelte, liegt mit zerschmettertem Hirn jetzt eingescharrt. Er wird keine Peitsche mehr schwingen, keine Geißel mehr den Unglücklichen sein.“
„Und meinethalben habt Ihr Menschenblut vergossen“, sagte Sally, ihm gerührt in die Augen sehend, „meinethalben habt Ihr Euer eigenes Leben gewagt, einer armen, verachteten Sklavin wegen.“
„Sally“, bat Jack, „und weißt du so gewiß, daß ich es deinetwegen nur getan? Doch jetzt beruhige dich erst, mein Herz; scheuche die trüben Gedanken von dir, denn mit der Stelle dort lassen wir jede Gefahr hinter uns - so wirf auch alle Angst und Sorge von dir. Die Leute hier dürfen nicht ahnen, was dir das Herz wohl immer noch bedrückt. Zeig ihnen heitere, sorgenfreie Augen und bedenke, daß nur wenige Tage uns auf immer den Sklavenstaaten ja entführen. Hoch oben an diesem Strom liegt noch ein freies, schönes Land - mein Vaterland und künftig hoffentlich auch das deine. Willst du die trüben Sorgen da vergessen?“
Sally schaute ihn mit einem Blick an, in dem ihre ganze Seele lag, dann nickte sie ihm freundlich lächelnd zu und sagte bittend:
„Nur eine einzige Stunde gebt mir noch - dann ist alles vorüber und - vergessen“, und ehe er nur ein Wort erwidern konnte, war sie ihm wieder in das innere Deck entwichen. Jack aber hätte laut aufjubeln mögen in der Lust und Seligkeit und sprang hinauf jetzt auf das Hurricane-Deck. Mußte er doch allein sein, den Gefühlen Luft zu geben, die in ihm tobten, und hier unten hätte er sich kaum mäßigen können, dem ersten besten Fremden um den Hals zu fallen und ihm zu sagen, wie froh, wie glücklich er sei. Als er aber nach einer Stunde wieder herunterkam, trat ihm das Mädchen mit heiterem Lächeln froh entgegen. Aller Gram, aller Kummer war aus den lieben holden Zügen der Jungfrau gewichen und selbst die Spur der letzten Träne verwischt und aufgetrocknet.
Und so verging ihnen jetzt im raschen Flug die Zeit. Die Tage verplauderten sie zusammen, und Jack mußte dem Mädchen von dem Leben erzählen, das sie oben im Norden führen, von den Feldern, die sie bebauen, und die nicht mit Negerblut und Schweiß gedüngt waren; von dem freundlichen Familienleben dort, von seinen Eltern und Geschwistern und dem wunderschönen Land mit seinen weiten, herrlichen Prärien und waldbewachsenen Hügeln. Aber nachts lag Jack, in seine Decke eingehüllt, vor ihrer Koje und hielt treue Wacht und sorgte für das Mädchen, wie er es dem alten Neger versprochen, als ob sie seine eigene Schwester sei.
Fünf Tage waren solcherart verstrichen, und wenn Jack am Anfang auch noch immer ein unbehagliches Gefühl überkommen wollte, sobald sie an irgendeiner größeren Stadt landeten, oder irgendein Boot vom Ufer ab kam, um neue Passagiere an Bord zu holen, so verlor sich das doch bald. Sie näherten sich dem Norden; hinter ihnen lag schon Arkansas und der Mississippistaat, zur Linken dehnte sich Missouri aus, ihnen zur Rechten zogen sich die bewaldeten Berge Kentuckys hin. Weiter und weiter brauste das wackere Boot stromauf, und wie die Sonne wieder unterging, da nahm Jack freundlich Sallys Hand und führte sie zum erstenmal mit sich zum Hurricane-Deck hinauf, von wo sie die weiten Ufer überschauen konnten. Er war aber so sonderbar aufgeregt dabei, wie ihn das Mädchen noch nie gesehen, und Sally blickte staunend zu ihm auf. Da endlich streckte er den Arm aus und sagte, nach dem rechten Ufer deutend, mit zitternder, bewegter Stimme:
„Siehst du dort, mein Herz! Siehst du den breiten schönen Strom, der dort, von Osten niederkommend, sich in den Mississippi wälzt? An seiner Mündung liegt die kleine Stadt da vorn.“
„Gewiß“, lautete die schüchterne Antwort des Mädchens, das sich die Bewegung des Mannes nicht erklären konnte.
„Das ist der Ohio“, rief da Jack, „und jenes Land dort drüben, das unser Bug in keiner halben Stunde Zeit berühren wird, ist Illinois, der erste freie Staat und künftig unsere Heimat. Dort drüben landen wir, und noch heute abend führt uns eins der kleinen Ohioboote, die du dort liegen siehst, den wunderschönen Strom hinauf und in die Arme meiner Eltern - meines Vaters - meiner Mutter.“
„Vater - Mutter“, flüsterte das Mädchen leise und traurig vor sich hin, „wie süß, wie lieb die Namen dem Ohre klingen - und ich habe nie Vater - nie Mutter sagen dürfen!“
„Du sollst es lernen, Mädchen“, sagte da der junge Mann, in tiefster Seele von den rührenden Tränen bewegt, „mein Vaterhaus, du armes Kind, sei auch von jetzt das deine, und jetzt, wo du frank und frei bist, wo dich kein Sklavenhalter suchen und finden wird, und wenn sie dich fänden, dich nie wieder mir entreißen sollten, frag ich dich, Mädchen, willst du die Meine - willst du mein Weib sein, mein braves, liebes Weib in Freud und Leid, was immer für uns auch kommen möge?“
Sally erblaßte, und die großen blauen Augen schüchtern und staunend zu ihm erhebend, sagte sie:
„Die Sklavin wolltet Ihr zu Eurem Weib erheben?“
„Oh, nenne das Wort nicht mehr!“ bat Jack, ihre Hand ergreifend und in der seinen haltend. „Wie ich dich deinen Henkersknechten entführt, will ich dir auch und werd ich dir die Freiheit sichern, und müßte ich selber mit dir nach Kanada hinüberziehen. Aber seit ich dich zum erstenmal gesehen, bin ich dir gut, von Herzen gut, mein Mädchen. Der Eltern Segen aber ist mit uns, sie kennen mich und werden meine Wahl billigen; haßt doch mein Vater nichts so sehr auf der Welt wie den sklavenhaltenden Süden. So denn, schlag ein, Sally - willst du die Meine sein?“
Er hatte zum erstenmal den Arm liebend um sie gelegt und fühlte, wie der schlanke Körper in der Berührung zitterte und bebte. Sally sprach kein Wort, kein Hauch entfloh den lieben Lippen, aber sie lehnte den Kopf an des Mannes treue Brust, und fest umschlossen hielt der Glückliche das geliebte Mädchen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Flatbootmann