Die Abfahrt



„Hallo“, rief Bill, der oben mit einem der Kameraden etwa hundert Schritt vom Boot entfernt auf der Levée saß, „was war das? Klang das nicht wie das Zeichen des Alten?“


„Der Teufel wird ihn doch nicht plagen, daß er den alten Kasten noch heut abend in den Strom hinausschieben will?“ sagte ein anderer.

„Dem ist alles zuzutrauen“, meinte Bill, „aber dann... Wahrhaftig, da ist der zweite Pfiff!“ unterbrach er sich rasch emporspringend. „Jungens, da muß was vorgefallen sein, und wir wollen machen, daß wir an Bord kommen.“

Die Bootsleute zögerten auch nicht lange und hatten kaum den Fuß an Deck gesetzt, als der Alte mit seiner gewöhnlichen Ruhe sagte:

„Seid ihr alle da?“

„Ich denke, ja“, meinte Bill.

„Wo ist Jack?“

„Hier, Sir.“

„Gut - Planke ein...“

„Wollen wir fort?“

„Jawohl, mein Herz.“

„Jetzt wird’s aber schon dunkel“, meinte Tom, einer der Leute, „und bei Nacht und Nebel werden wir wahrscheinlich auf das Holz da unten rennen.“

„Bill, kannst du die Leine an dem Stamm da oben festbringen?“ sagte der Alte. „Nimm das Kanu - hier wirst du wohl gegen die Strömung aufkommen. Du tust mir aber einen Gefallen, wenn du dich ein wenig beeilst.“

„Kann ich? Gewiß, kann ich!“ sagte Bill, dem es ordentlich unheimlich vorkam, daß ihn der Alte um etwas bat. Im Nu griff er auch die Leine auf, warf sie in das Kanu hinein, dessen Seil der Alte löste, und ruderte im nächsten Augenblick schon dem ihm bezeichneten Stamm zu, der etwas weiter im Strom draußen und höher, als sie sich befanden, festgeschwemmt saß. Es kostete allerdings einige Mühe, das schwankende Kanu gegen die starke Strömung zu stemmen. Bill war aber ein kräftiger Bursche und gewandter Ruderer und erreichte nach kurzer Arbeit einen der Äste, an dem er sich jetzt leicht hinaufziehen konnte. Sowie er den Stamm erreichte, schlug er das mitgebrachte Tau darum, und das andere Ende an seinem Kanu befestigend, war er mit wenigen Ruderschlägen wieder an Bord zurück. Die ganze Mannschaft hängte sich jetzt an das Tau. Das vom Ufer freie Boot wurde gegen die Strömung an- und mehr hinausgezogen, bis es außer aller Gefahr von dem unterhalb liegenden Holz war, dann stellten sich die Leute alle wieder an ihre Plätze, und während sich Bill mit dem Kanu rasch wieder an dem Tau hinaufzog, bis wo es befestigt war, löste es der Alte von Bord ab.

„Jetzt alle zusammen!“

Die ausgehobenen Ruder fielen zusammen ein, das Steuer knarrte, als es den breiten Bug herumwarf, und während Bill schon wieder mit der eingeholten Leine zurückkam und rasch an Bord kletterte, nahm die Strömung das schwere Boot mit hinaus in das offene Fahrwasser, in dem sie jetzt schnell und gefahrlos dahinglitten.

Zu gleicher Zeit sah übrigens der Alte, der mit seinen Augen das Ufer überflog, wie ein Reiter die Levée hinab der Plantage zusprengte. Der Aufseher war es nicht, es konnte möglicherweise der Konstabler sein, und er wandte sich langsam pfeifend und mit einem spöttischen Lächeln auf den schmalen Lippen dem Strom wieder zu.

Die Nacht brach allerdings jetzt ein, und von den Häusern der Pflanzer, an denen sie vorüberglitten, schimmerten ihnen schon einzelne Lichter entgegen.

Der Mond goß aber dafür sein helles Licht auf sie herab, und wenn sie sich nur aus der Nähe des Ufers hielten und keinen Nebel bekamen, konnten sie recht gut hier unten die Nacht durch unterwegs bleiben. Hier durften sie übrigens die langen, schweren Ruder noch nicht ruhen lassen, da die Strömung nach dem eben verlassenen rechten Ufer hinübersetzte und einige hundert Schritt weit, unterhalb der Plantage, eine scharfe niedere Landspitze vorsprang. Die aber einmal passiert, hatten sie auch nicht das geringste mehr zu befürchten, und breit und offen lag ihre Bahn dann mitten im mächtigen Mississippi hin.

Die Leute wußten das auch recht gut schon selber, denn sie waren alle lange genug auf dem Strom gefahren, um den sich ziemlich gleichbleibenden Charakter desselben zu kennen. Mit bestem Willen legten sie sich deshalb in die schweren Ruder, während der Steuernde den Bug fast ganz vom Land abhalten mußte.

Jack war natürlich ebenso rasch wie die anderen dem Zeichen an Deck gefolgt und hatte dort, was ihm oblag, mit bestem Willen verrichtet. Während sich die Kameraden aber bei ihrer Arbeit lebhaft miteinander unterhielten, sprach er kein Wort und blickte nur stumm und traurig nach den Gebäuden hinüber, an denen ihr Boot jetzt vorbeiglitt. Dort konnte er den Garten wiedererkennen, die düstere Baumgruppe bezeichnete den Platz, an dem die Unglückliche heute gepeitscht worden - in einer jener kleinen, niederen Hütten, die selbst jetzt mit ihren hellen Mauern durch die Dunkelheit zu ihnen herüberschimmerten, lag sie, von Schmach und Qual das Herz gebrochen - eine Sklavin, der Willkür der Tyrannen preisgegeben. Aber Sklavinnen werden von ihren Herren auch verkauft - wie nun, wenn er selber sein kleines Besitztum daheim veräußerte, zu Geld machte, was ihm gehörte, und sie befreite? Wie ein Messer stach ihm der Gedanke plötzlich durch das Herz, und die Glieder zitterten ihm ordentlich in dieser so jäh auftauchenden, neu gezeigten Hoffnung. Wenn er vor sie treten und sie als sein Eigentum - nein, frei - in die Welt hinausführen und das arme mißhandelte Kind zum erstenmal in ihrem Leben glücklich sein durfte.

„Paß auf, Jack, paß auf!“ rief ihm der Alte da vom Steuer aus mahnend zu und weckte ihn aus seinen süßen Träumen.“ Du vergißt ja das Rudern, Mann. Wenn wir erst an der Spitze dort vorüber sind, könnt ihr euch ausruhen, soviel ihr wollt.“

Jack erschrak ordentlich und legte sich wieder mit aller Kraft in das Ruder, daß sich das elastische Holz unter seinem Gewicht bog. Der Alte aber sah schon nicht mehr nach ihm hin; sein Auge haftete an einem hellen Gegenstand, der sich vom dunklen Ufer loszulösen schien.

„Da kommt ein Kanu oder Boot auf uns zu“, sagte da Bill, der zunächst dem Alten sein Ruder mit der Schulter vorwärtsdrückte, „dort gleich über der Spitze, Kapitän.“

„Ich hab’ es schon gesehen, Bill“, erwiderte dieser, „möchte nur wissen, was sie wollen. Etwa zu uns herüber?“ Vom Ufer ab schoß jetzt ein kleines, schmales Kanu gerade auf sie zu, und Bill sagte halblaut: „Verdammt will ich sein, wenn da nicht ein einzelnes Weib drinsitzt!“

Auch die übrigen Leute waren jetzt aufmerksam darauf geworden, durften aber nicht mit dem Rudern aufhören, da sie sich fast dicht an der Landspitze befanden - nur noch ein Büchsenschuß, und sie waren vorüber, während die hier gerade sehr starke Strömung sie reißend schnell darauf zu führte. Das Kanu war indessen dicht vor ihrem Bug vorbeigefahren; vergebens schauten sie sich aber auf der anderen Seite danach um - es kam dort nicht wieder zum Vorschein, und der Alte durfte sein nach rechts hinübergedrücktes Steuerruder nicht verlassen, um zu sehen, was daraus geworden wäre.

Jetzt passierten sie glücklich die Landspitze, die kaum fünfzig Schritt an ihrer Rechten liegenblieb. Ein Reiter hielt dort an - sie konnten die Gestalt des Pferdes und des Mannes darauf auf dem hohen Damm gegen den helleren Himmel deutlich erkennen. Er winkte mit dem Arm und rief etwas herüber, aber die Worte verstanden sie nicht.

„Was sagt er?“ fragte Bill, zum erstenmal jetzt das Ruder ruhenlassend, indem er sich nach dem Alten umdrehte und den Schweiß von Stirn und Nacken trocknete.

„Weiß nicht“, brummte dieser, mit dem Kopf schüttelnd, „ist auch gleichgültig. Wenn er uns hätte etwas sagen wollen, konnte er früher kommen, wie wir noch am Land waren. Jetzt ist’s zu spät, und in einer Viertelstunde sind wir mehr drüben an der anderen Seite und in einem anderen Staat. Da drüben ist doch noch Mississippi, nicht wahr, Bill?“

„Gewiß“, sagte der Bootsmann, „noch wenigstens f?r dreißig oder vierzig Meilen. Aber was ist aus dem Kanu vorhin geworden?“

Der Alte hatte das Kanu fast ganz vergessen; jetzt aber, da er sein Steuerruder über den anderen Bug drückte, kam er auch damit mehr an die linke Seite seines Boots und sah über Bord.

„Alle Wetter!“ brummte er dabei. „Da liegt es - dicht unter dem vorderen Ruder längsseits. Was ist nun wieder im Wind, und wer sitzt drinnen?“

Er hatte allerdings recht. Das Boot lag dicht an der Stelle des Flatboots an, und eine helle Gestalt kauerte darin, rührte sich aber nicht und hatte mit der Hand nur den vorderen niederen Ausbau oder Bug des Boots erfaßt, an dem sie sich festhielt:

„Hm“, sagte Bill, der ebenfalls hinübersah, „das ist am Ende jemand, der ans andere Ufer oder ein Stück stromab will und hier bequeme Passage nimmt. Ich will aber gehängt werden, wenn’s nicht wie ein Frauenzimmer aussieht.“ Die übrigen waren jetzt ebenfalls an den Rand des Boots getreten, und Jack, der gerade über dem Kanu stand, zuckte, wie vom Blitz getroffen, zusammen. Die Gestalt im Boot war allerdings eine weibliche, aber der helle, ihm zugedrehte Rücken zeigte dunkle Flecken - heiliger Gott! Wenn jenes Mädchen... Kaum seiner Sinne mächtig, sprang er vorn in den Bug hinab, wo er den Vorderteil des Kanus erreichen konnte, ergriff ein in diesem liegendes kurzes Tau, das zum Anhängen desselben benutzt wurde, und befestigte es sicher an Bord. Jetzt, da keine Gefahr mehr war, daß es abgleiten konnte, fragte er laut:

„Wer ist da drinnen? Wollt Ihr zu uns an Bord?“

Da hob das Mädchen das bleiche, vom Mond jetzt hellbeschienene Angesicht empor und flüsterte mit bittender, zitternder Stimme:

„Oh, verratet mich nicht - rettet mich, rettet mich um des Heilands willen!“

„Was ist da los?“ sagte in diesem Augenblick der Alte, der sein Steuer an Bill gegeben hatte und nach vorn kam. Auch Mrs. Poleridge hatte die klagende Mädchenstimme gehört und kam mit zurückgeschobenem Bonnet, den eben gebrauchten Kochlöffel noch in der Hand, auf den Vorbau heraus, um zu sehen, wer da gesprochen.

„Jesus!“ hauchte der junge Bursche und konnte den Blick nicht von dem bleichen, zu ihm aufgehobenen Gesicht abwenden.

„Ein weißes Mädchen“, rief da Mrs. Poleridge erstaunt, „und allein hier bei Nacht und Nebel in einem Kanu. Aber so helft ihr doch ins Boot, Jack! Steht der Mann nicht da, als ob er den Gebrauch seiner Glieder verloren hätte und nicht bis drei zählen könnte?“

Jack sah die Frau seines Kapitäns an. - Ein weißes Mädchen? Aber war sie denn nicht weiß? Hatte er sie nicht selber dafür gehalten? Und dadurch war vielleicht Rettung für die Unglückliche möglich; hatte er erst einmal der alten Dame Teilnahme für sie geweckt, konnte vielleicht noch alles gut werden. Ihm selber freilich schwindelte der Kopf, wenn er an alles das dachte, was die Unglückliche hier hinausgetrieben und zur Flucht gezwungen haben konnte, aber derlei Gedanken trieb er zurück - die sollten ihm jetzt das Herz nicht schwer machen. Rasch streckte er dem Mädchen die Hand entgegen, die sie zitternd erfaßte, hob die Arme zu sich herauf, bis sie aufrecht im Kanu stand, und half ihr dann herein ins feste Boot.

„Aber nun, um Gottes willen, Kind, sagen Sie mir, was Sie hier mitten in der Nacht allein auf den Strom getrieben hat?“ fragte die würdige alte Dame, indem sie den Arm der Fremden ergriff und sie in den inneren Raum führte. „Mein Kind, Sie sind ja ganz naß von der feuchten Nachtluft“, rief sie bestürzt, indem sie die Hand, mit der sie das Mädchen gehalten, an ihrer Schürze abtrocknete, „und können sich ja auf den Tod erkälten. Solch ein zartes Figürchen. Ja, wenn sich unsereins die Nacht durch auf dem Wasser herumtreibt, so hat das eben nicht viel zu sagen, aber solch ein Kind noch, wie Sie sind! Doch ich schwatze da und schwatze in einem fort, und Sie stehen hier im Freien und zittern am ganzen Leib. Da bitte, setzen Sie sich und warten Sie - erst will ich Ihnen einmal eine Tasse heißen Tee machen; der tut gut und wird Sie bald wieder ein bißchen durchwärmen.“

Das junge Mädchen hatte der alten, würdigen Dame mit bebenden Gliedern gegenübergestanden. Sie fühlte, daß sie hier fälschlicherweise für etwas gehalten wurde, was sie nicht war, und sie zitterte vor dem Augenblick, wo ihre wahre Abstammung entdeckt werden mußte, aber sie wagte es nicht, ein Wort darüber zu sagen - ja, sie vermochte es nicht einmal. Die Zunge klebte ihr vor Angst am Gaumen, und halb ohnmächtig sank sie auf den für sie hingeschobenen Stuhl. Der alte Poleridge hatte am Anfang allerdings Lust gehabt, ebenfalls in seine kleine Kajüte - ein einfacher Bretterverschlag, im Vorderteil des Boots hergerichtet - zu treten; war er doch selber neugierig geworden, zu hören, was es für eine Bewandtnis mit der Fremden habe. Da er aber sah, daß sich seine Alte derselben so annahm und seine Gegenwart überhaupt für jetzt noch an Deck notwendig war, kehrte er, schon am Eingang, wieder um und stieg nach oben, vor allen Dingen erst einmal zu sehen, ob der am Steuer stehende Bill auch das richtige Fahrwasser halte.

Die Leute standen indes an Deck zusammen und unterhielten sich über das rätselhafte Erscheinen des jungen Mädchens. Daß sie mit dem Kanu vom Ufer abgekommen war, hatten sie alle da oben gesehen; was in aller Welt konnte sie aber zu einer solchen Fahrt bewogen haben? War sie ihren Eltern davongelaufen? Und wo gehörte sie überhaupt hin? Der Alte schüttelte selber den Kopf, meinte aber, als sie ihn danach fragten, seine Alte würde das schon alles in Ordnung bringen und sie sollten für jetzt nur noch eine Weile in der Nähe von ihren Rudern bleiben, wenn sie vielleicht noch einmal gebraucht würden. Jack, der hier allein hätte Auskunft geben können, saß still und regungslos, den Kopf in beide Hände gestützt, gleich über dem Eingang der Kajüte. Was sollte er tun? Der Frau alles sagen oder die Entwicklung dem Schicksal anheimgeben? Und hätte der Alte die Unglückliche an Bord behalten, wenn er erfuhr, daß sie eine Sklavin sei? Hatte ihn nicht die Frau selber erst heute noch gewarnt, sich, um Gottes willen nicht in solche Sachen zu mengen, die, wenn entdeckt, die schlimmsten Folgen haben könnten - und würde sie sich jetzt einer solchen Gefahr eines Niggers wegen ausgesetzt haben?

Er horchte nach unten - dort war alles ruhig. Er konnte hören, wie die Frau die Töpfe rückte und mit den Tassen klirrte - aber kein Wort wurde mehr gesprochen. Diese Stille und Ungewißheit war ihm peinlicher als die furchtbarste Gewißheit, und er sprang endlich auf, um seine fieberheiße Stirn dem kalten Nachtwind entgegenzuhalten. Plötzlich horchte er erschreckt empor. Über dem stillen Strom konnte er deutlich die regelmäßigen Ruderschläge eines hinter ihnen dreinrudernden Boots hören. Waren das schon die Verfolger? Todesangst erfaßte ihn, als ob er selber ein Verbrechen begangen hätte, und er sprang an den hinteren Teil des Fahrzeugs, um dort besser ausmachen zu können, wohin sich das fremde Boot wendete und welchen Kurs es nehme.

„Na, Jack“, sagte Bill, der dort noch am Steuer stand, „hast du unseren Besuch gesehen? Wer ist es denn eigentlich?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete, die Worte kaum hörend, der junge Mann, „wo hinaus ist das Boot, das hinter uns war?“

„Es wird über den Strom wollen, die Ruderschläge klangen wenigstens so. Jetzt hör ich aber auf einmal gar nichts mehr davon, sie müssen still liegen - ha, da sind sie wieder!“

Die Leute in dem Boot hatten jedenfalls kurze Zeit mit dem Rudern aufgehört, jetzt fingen sie wieder an, und das regelmäßige Knarren der Riemen, die sich in den hölzernen Dollen bewegten, klang deutlich zu ihnen herüber.

„Sollte mich gar nicht wundern“, sagte da der Alte, der zu ihnen getreten war, „wenn die Leute da drüben hinter der Mamsell unten her wären. Muß doch jedenfalls erst einmal hören, was damit los ist, damit man weiß, was man sagen soll, wenn sie kommen.“

Der Alte drehte sich langsam um, nach vorn zu gehen, und Bill brummte:

„Weiß, was man sagen soll? Da wird nicht viel zu sagen bleiben. Das Kanu da vorn sehen sie doch jeden Augenblick und wissen dann gleich, daß wir Besuch haben.“

„Hast recht, Bill“, rief Jack, der daran gar nicht gedacht, „das werde ich aus dem Weg bringen. Um Gottes willen, verratet das Mädchen nicht. Es ist eine Unglückliche, die wir verbergen müssen.“

„Hallo“, lachte Bill, als Jack nach vorn sprang, um seinen Plan auszuführen. „Jack hat den ganzen Tag das Maul nicht aufgetan, und jetzt ist er auf einmal Feuer und Flamme. Nun, ich verrate sie schon nicht. Ist auch eine Sache, die mich nichts angeht - das mögen die da unten abmachen.“

Jack war indessen zu dem vorn angehängten Kanu gesprungen, nahm das kleine leichte Ruder an Bord und trat dann nur auf den einen Rand des schwankenden Fahrzeugs, daß es sich von dortherein füllen konnte. Im Nu war das geschehen, das Wasser lief hinein, und das Kanu sank bis an den Rand unter. Im Schatten des großen Boots ließ es sich solcherart nur erkennen, wenn man dicht daneben war und den Platz wußte, auf dem es lag.

Poleridge war indessen in seine kleine Kajüte untergetaucht. Wenn er aber auch erst die Absicht gehabt hatte, seinen Schützling etwas näher ins Auge zu fassen, sah er bald die Unmöglichkeit ein. Mrs. Poleridge wirtschaftete nämlich gar geschäftig mit dem kleinen Kochofen, um den versprochenen Tee für die Fremde herzustellen, und diese saß hinter ihr auf dem niederen Stuhl, den Kopf gesenkt, die Hände im Schoß gefaltet. Die kleine Lampe, die in dem engen Raum hing, fiel aber voll auf die bleichen, wunderlieblichen Züge der Fremden, und der Yankee, sonst eben nicht gerade zarter Natur, fühlte sich doch ganz eigentümlich von dem leidenden Engelsgesicht bewegt.

„Hören Sie einmal, Miß“, sagte er endlich und erschrak ordentlich, als sie die großen Augen fragend zu ihm aufschlug, „ich - ich wollte Sie nicht gern stören, aber da draußen fährt ein Boot im Strom herum, das mir gerade solche Bewegungen macht, als ob es Ihr Kanu suchte. Möglich, daß die Leute auch hier an Bord kommen, ja sogar sehr wahrscheinlich, und da wollte ich Sie denn nur einfach fragen, ob es Ihnen vielleicht recht ist, wenn sie erfahren, daß Sie hier sind. In dem Fall könnte man sie auch vielleicht anrufen.“ Das Mädchen hob die Hände bittend zu ihm empor und sagte mit ihrer sanften, klagenden Stimme leise nur die Worte:

„Wenn Sie mich verraten, bin ich verloren.“

„Hm“, brummte der Händler kopfschüttelnd, „also so stehen die Sachen - aber wie, um Gottes willen...“

„Na, laß das arme Kind nur jetzt zufrieden“, sagte die Frau. „Nachts läßt du ja doch kein fremdes Boot an Bord heran, wer weiß denn auch, was für Gesindel drinnen sitzt, und daß die Raubbande doch noch hier und da am Mississippi besteht, dächt ich, hättest du weiter oben zur Genüge gehört. Wenn sie was wollen, sollen sie am hellen Tag kommen, und bis dahin sind wir schon ein tüchtiges Stück stromab. Du siehst doch, wie sich das arme Ding da ängstigt und abquält.“

„Nu, nu“, lächelte der Mann, sie beruhigend, „das gehört gerade nicht mit zu meinem Geschäft, daß ich bei Nacht und Nebel junge Mädchen entführen helfe; wenn du’s aber absolut so haben willst, kann’s mir auch recht sein. An Bord sollen uns die Burschen schon nicht kommen, dafür werd ich sorgen und bin nur neugierig, was sie vorgeben werden. Übrigens kommen sie näher, wenn ich nicht irre. Na, fürchten Sie sich nicht“, sagte er dann weit freundlicher, als es sonst gerade seine Sitte war, zu seinem Schützling, als er sah, wie die Fremde ängstlich zusammenzuckte. „Wen der alte Poleridge nicht gutwillig herausgeben will, den können sie mit einem Boot voll Nigger nicht holen, so viel ist sicher.“ Und ziemlich entschlossen die Hände in die Tasche schiebend, stieg er langsam wieder an Deck. Kaum hatte er übrigens die Kajüte verlassen, und sein schwerer Tritt drückte noch über den Frauen auf das rundgebogene Bretterdeck des Boots, als sehr zu Mrs. Poleridges Erstaunen Jack in den Raum glitt und wie unschlüssig vor ihr stehenblieb. Von den Leuten kam nie jemand um diese Zeit noch zu ihnen herein, ausgenommen, wenn sie zur Koje gingen und dann durchpassieren mußten, oder vielleicht bei heftigem Regen, um vorn unterzutreten. Die alte Dame drehte sich denn auch etwas erstaunt gegen den jungen Mann um und sagte:

„Nun, Jack, was bringt Ihr? Ist das Boot da?“

„Mrs. Poleridge“, sagte da Jack, und ordentlich mit Gewalt mußte er die Worte aus der Kehle pressen, „ich - ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen - hören Sie mich ruhig an.“

„Jesus, meine Güte, was ist Euch, Jack? „ sagte die Frau, ihn erstaunt über ihre Brille betrachtend. „Was fehlt Euch denn, und Ihr seht aus...“ Sie drehte sich nach der Lampe um, diese etwas höher hinaufzuschrauben. Als sie aber die rechte Hand zu dem Licht aufhob, sah sie erstaunt, daß sie ganz blutig war. „Na?“ unterbrach sie sich bestürzt. „Was ist denn das? Blute ich denn, oder - um Gottes willen, liebes Kind, sind Sie...?“

Jack ließ sie nicht ausreden. Einen Schritt vortretend, ergriff er ihre Hand und flüsterte bittend:

„Hören Sie mich, beste Frau, und helfen Sie einer Unglücklichen, die ohne Sie verloren ist.“

„Aber, Jack - ich begreife Euch nicht -“, rief die alte Dame aufs äußerste erstaunt. „Mein Mann hat ihr ja schon seinen Schutz versprochen, und das arme Mädchen...“

„Ist eine Sklavin“, sagte Jack, und Mrs. Poleridge hätte bald einen Schrei ausgestoßen. Ihr Blick flog dabei nach der Unglücklichen hinüber; als er aber auf dem bleichen Antlitz der Armen haftete, sagte sie rasch:

„Unsinn, Mann, die ist so weiß wie Ihr und ich...“

„Und doch Sklavin“, stöhnte Jack, „aber hören Sie alles und urteilen Sie dann selbst ...“ Und mit hastigen, aber klaren, einfachen Worten erzählte er jetzt der die Hände in Angst und Bestürzung faltenden Frau die ganzen Erlebnisse des heutigen Tages, von denen er Zeuge gewesen war und die das Mädchen wahrscheinlich zu verzweifelter Flucht getrieben hatten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Flatbootmann