Ein erschwertes Scheiden

Während ich (nach Kap. 14) mit mir selber und mit den Gedanken an meine Zukunft beschäftigt, um mich her nur lauter Dunkel sah und in weiter, unsicherer Ferne nach einem Lichtstrahle hinausblickte, dämmerte schon ganz in meiner Nähe, von meinen Augen unbemerkt, ein Morgen auf, der nach gar vielen Seiten hin ein neues Leben weckte. Dass es mit diesem Wecken und Aufwachen lange Zeit so still und von Menschenaugen unvermerkt herging, das hatte seinen guten Grund in der Natur des Vorganges selber. Die Flamme eines brennenden Körpers leuchtet freilich so hell, dass sie alsbald nach ihrem Hervorbrechen weithin gesehen wird; sie kann wohl auch durch ihr Licht und ihre Wärme eine Bewegung des Lebens wecken, aber sie verlischt, wenn der auflodernde Holzstoß zur Asche wird. Das Leben dagegen, das der Tag mit seiner Helle von obenher weckt, keimt Anfangs unbemerkbar unter der Decke des Bodens auf, tritt, nur für ein nahe stehendes Auge sichtbar, aus der Decke hervor, und wird erst im allmählichen Fortgange der Entwickelung zum hochwüchsigen Stamme, der seine Früchte trägt. Der Lebenskeim, den ich hier meine, war schon im Frühling 1818 in den Boden des Landes gelegt, als nach ihrer Vermählung mit dem all' den Seinigen teuren, lieben H. Erbgroßherzog Friedrich Ludwig die Prinzessin Auguste Friederike von Hessen-Homburg zu uns nach Mecklenburg kam.

Ich möchte wohl gern selber und in meinem Sinne von den gesegneten Folgen dieses Ereignisses reden; ich darf dieses aber nur in dem Sinne einer anderen Seele tun, der mir höher steht als mein eigener. Und in diesem Sinne möchte Das, was hier zu sagen wäre, etwa so lauten: „Gott kann alle seine Kreaturen: die Winde, die Feuerflammen, wie das Gewächs, das Tier und den Menschen zu willenlosen Werkzeugen seiner Taten und seiner Erbarmungen machen. Sie wissen nicht, was sie tun, nur Er weiß es; Ihm allein gebührt die Ehre. Wenn er aber den Menschen schon auf Erden so selig macht, dass dieser, nach dem Maße seiner Kräfte von Herzen sagen kann: „Gott, deinen Willen tue ich gern“, und dass er, wenn auch immer nur als unnützer Knecht, mit Freuden vollbringt, was ihm befohlen ist, wer soll dafür das Lob und den Dank haben? Nur der Geber, nicht der Empfänger solcher Freuden, welcher nicht einmal in seiner Ohnmacht so loben und danken kann, wie er gern möchte. Aber wir sind bald, wir sind nach wenig Erdentagen daheim und der Ohnmacht los, dann werden wir das Loben und Danken besser verstehen.“ —


Mag uns die Äolsharfe in ihrem Maße ein Abbild sein von dem Wesen und Wirken mancher Seelen, die im lauten Verkehre der Welt und im Getümmel ihrer Gassen nicht daheim sind. Das Ohr vernimmt die harmonischen Laute einer Harfe, das Auge sieht keine Hand, welche die Saiten rührt. Aber je länger man das Tönen hört, je näher und tiefer man in das Bewegen seiner Wellen tritt, desto bewegter und verlangender schaut man nach oben, von woher das Tönen zu kommen schien. Das Auge sieht da nichts. Und dennoch war es so: Das, was die Harmonie erweckte, das ging nicht von unten, vom Grund und Boden der Erde aus, sondern es war ein lebendiger Hauch, der von obenher kam.

Dass etwas Neues, dass etwas Gutes im Fürstenhause vorgegangen sei, das konnte man zuerst an den Kindern des Erbgroßherzogs, an den Kleinsten am meisten, bemerken. Da war ein kindlich liebliches Frohsein, das unter einer liebend ernsten Zucht stand; man sah den Stab des Hirten nicht, der die Lämmer auf ihre frische Weide führte, aber sein Leiten und Regieren bemerkte man wohl. Und dem ganzen geistigen Haushalte war, wie jenem der Bienen durch ihre Königin Mutter, eine ordnende Seele gekommen, welche, ohne dieses zu suchen und durch äußere Macht zu gebieten, die Achtung empfing, welche ihr gebührte.

Ich kann nicht beschreiben und will es auch nicht, was in mir vorging, als ich der Veränderung inne wurde, die in meiner nächsten Umgebung sich zugetragen hatte. Mein Kleinmut ward aufs Tiefste beschämt; da, wo ich rings um mich her nichts gesehen als Fels und dürre Wüste, der es überall an Wasser fehlt, war auf einmal ein reicher Quell, aus dem harten Felsen selber hervorgebrochen, der sich über das ganze Land umher ergoss. Da konnten nun freilich Bäume des Lebens aufgrünen, unter deren Schatten sich's gut wohnen ließ. Mir aber sollte dieser Schatten keine Erquickung mehr bringen. Mein Wanderzelt war bereits abgebrochen, ich hatte mein Reisegeräte vor Aller Augen herausgetragen auf die Gasse, wie Einer, der, wenn der Morgen kommt, von hinnen gehen soll.

Dennoch gab es der inneren wie der äußeren Widersprüche noch gar viele, welche meinem Wege entgegenstanden und die, ehe ich den Fuß weiter setzte, noch beseitigt werden mussten. Ich hatte jetzt dringender und deutlicher denn jemals es erkannt, was mein noch künftiger Beruf im Leben sei; die Wissenschaft, die ich verlassen, war nicht nur ein Gewand, das man ablegen kann, wie und wenn man will; sie war ein Glied meines Wesens selber, das durch den Gebrauch für seine eigentliche Bestimmung erstarkt, ohne ihn aber verkümmert. Ich erkannte wohl, was die Aufgabe des ernsteren Forschers in der Geschichte der Natur und des menschlichen Wesens gegenüber dem mächtig hereinbrechenden Materialismus der Zeit sein solle. Das Buch der Werke und das der Offenbarungen Gottes haben beide denselben einigen Geist zu ihrem Urheber; es kann kein Widerspruch in ihrem Inhalte sein. Dies müsse sich, wenn man beide recht verstehen lerne und lehre, vor Augen stellen und erweisen lassen. Darum hieß es in meinem Innern: mache dich auf, du Fauler, du Träumer! und lege deine Hand an das Werk.

Was mir auf der einen Seite mein Hinweggehen von meinem Posten schwer machte, und mich dabei beunruhigte, das konnte mir auch von der anderen Seite zur Beruhigung und zur Bestärkung dienen. Was hatte ich zu dem Werke, das mir am meisten am Herzen lag, während der Jahre meines Hierseins in Mecklenburg eigentlich getan? Ich hatte, wie der Gehilfe an einem Musikchor, den Versuch gemacht, die Instrumente zu stimmen, und war bei meinem schlechten musikalischen Gehöre in diesem Geschäfte nur wenig vorwärts gekommen; jetzt war eine Hand da, welche nicht nur in kurzer Zeit den Saiten ihre wohllautende Stimmung gab, sondern sie auch in meisterhafter Weise in harmonische Bewegung setzte. Mein Unterricht bei der an Geist und Gemüth freudig heranreifenden jungen Herzogin ging nach dem zu Grunde gelegten Lehrplane mit dem dritten Jahre zu Ende. Mit welcher mütterlichen Treue, mit welcher Umsicht, die das wesentlich Beste bedenkt, für den Unterricht der beiden jüngeren fürstlichen Kinder nach meinem Hinweggehen gesorgt sein werde, das war leicht vorauszusehen. Und das ist auch geschehen durch die Berufung der beiden teuren Männer: Koch aus Vellahn, Sohn des oben (S. 83) erwähnten alten Pfarrer Koch, dieses treuen Zeugen und Bekenners der ewig alten und neuen Wahrheit, und des reichbegabten Rennecke, denen beiden ich, wie ich später berichten werde, noch einmal auf meinem Lebenswege begegnet bin. Jener ward Lehrer bei dem Prinzen Albrecht, dieser bei der Prinzessin Helene. Der Vorsatz, zurückzukehren in meine vorige Heimath und in mein mir angewiesenes geistiges Lebenselement musste dennoch, so sehr ich mich auch zu seiner Ausführung innerlich frei fühlte, von außenher noch manche Probe und Versuchung bestehen, darin er zeigen konnte, ob er auch fest und beständig sei. Die guten, wohlwollenden Herrschaften, obgleich sie jetzt Zeit und Gelegenheit genug gehabt hatten, zu sehen, was sie eigentlich an mir hätten, wollten mich dennoch nicht gern aus ihrem Dienste entlassen, sondern darin fest halten. Sie hätten keinen kräftigeren, geschickteren und in jeder Hinsicht besseren Vertreter ihres so wohlgemeinten Wunsches für mich finden können, als den edlen, eben so hochsinnigen als vertraulich sich herablassenden Minister von Plessen. Dieser hatte, als Gesandter an verschiedenen Höfen, mitten in den Stürmen der damaligen Zeit die gerechten Ansprüche sowohl als Wünsche seines Fürstenhauses und Vaterlandes mit siegreicher Beredsamkeit und Einsicht vertreten, er tat dieses jetzt einem Menschen gegenüber, von welchem man wohl meinen konnte, er wisse selbst nicht recht, was er eigentlich wolle. Was die verstorbene, geistreiche Frau Erbgroßherzogin Caroline Luise, welche die Welt und die Menschen mit einem Blicke von seltener Klarheit und Schärfe durchschaute, von diesem Manne geurteilt hatte, das erwähnte ich schon oben (S. 61). Ich habe nicht viele Herren dieses Standes kennen gelernt, meine aber auch, der Minister von Plessen sei ein Mann gewesen, der das Recht und die Wahrheit immer auf seiner Seite hatte, weil er nichts wollte, als das gute Recht und die lautere Wahrheit; Begleiter, mit denen man der Welt immer offen und mutig entgegentreten kann. Eine liebenswürdige, äußere Persönlichkeit, kräftig und wohlgebildet, das Siegel des Verstandes und der Klugheit auf seiner Stirne, das der Herzensgüte und des Wohlwollens auf seinem ganzen Angesichte. Er war in der Zeit meines Aufenthaltes in Ludwigslust fast immer, in Geschäften seines Hofes, abwesend gewesen, so dass ich ihn nur einige Male, wie im Vorübergehen gesehen hatte, jetzt, vom Bundestag in Frankfurt a. M., wohin auch seine Familie ihm gefolgt war, verweilte er einmal länger bei uns. Es bedurfte keiner langen Zeit, um uns beide mit einander bekannt zu machen; er sah bald, was in meiner Gesinnung mit der seinigen befreundet sein mochte, und hierbei fasste er mich so an, dass ich mich mit vollem Vertrauen ihm hingab. Er nahm mich mit sich in die Schule seiner Erfahrungen und Weltkenntnisse, fragte mich aus über Das, was ich in Erlangen an äußeren Vorteilen zu erwarten habe, die doch auch zum Haushalte nötig und der Berücksichtigung wert seien. Ich sagte ihm aufrichtig, wie diese Sache (nach S. 214) stünde, sprach es aber auch zugleich aus, dass weder ein äußerer Vorteil noch Nachteil mich bestimmt habe oder bestimmen könne, einen anderen Weg zu gehen als den, welchen ich für meinen natürlichen, mir von Gott angewiesenen erkannt habe. Mit ungemeiner Zartheit wies er mich dann auf Das hin, was ich in Mecklenburg hatte und wenn ich da bleiben wolle, für mich und meine Familie, so lange diese es bedürfe, behalten werde; fragte mich, ob ich denn das Vertrauen und die Liebe eines edlen, wohlwollenden Fürstenhauses und seiner Kinder, das mich hierhergezogen und gern mich behalten möge, nicht auch für einen Beruf von Gott halte? Ich dürfe ja nur sagen, was ich etwa anders wünschte und begehre, ich dürfe mir eine meinen inneren Neigungen zusagende Stellung wählen. Ich leugne nicht, dass mir es bei dieser so tief eingehenden Prüfung meiner Gedanken und Neigungen sehr heiß und wunderlich zu Mute wurde. Ich fühlte mich ungeschickt, auf die Fragen eines so hochverständigen Examinators in recht verständiger Weise zu antworten, obgleich er mir zum Bedenken Zeit genug ließ, denn er nahm mich nicht nur einmal, sondern öfters in diese Prüfung. Es war ja wirklich so, wie er in schonender Weise mir andeutete: ich war mir selber nicht klar genug über Das, was ich eigentlich mit meiner zukünftigen Wirksamkeit als Lehrer der Jugend und als Schriftsteller vorhabe und von ihr erwarte; es war mir wie einem Boten, welchen sein Herr, dem er gehorchen muss, mit einem versiegelten Briefe an einen fernen Ort sendet und ihm sagt: dort, wo man den Brief eröffnet, wird man dir anzeigen, was du weiter tun sollst. Wo mein eigener Verstand, dem fremden gegenüber, nicht mehr ausreichte, da musste das feste Beharren bei dem einmal gefassten Vorsatze, auch ohne weitere verständige Gründe mir helfen; ich hatte bereits den Ruf nach Erlangen angenommen, hatte die Zusage gegeben, schon an Ostern in mein Amt einzutreten; man hätte meiner schon in dem Winterhalbjahre bedurft, es war eine besondere Vergünstigung, dass man mir die freilich unvermeidliche Verzögerung nachsah. Mein damaliges Benehmen gegen den trefflichen Minister kommt mir jetzt selber unzart und roh vor, doch ich bin es von seiner Gesinnung überzeugt, dass, wenn er noch lebte, die innere Notwendigkeit, welcher ich gehorchte, ihm ganz verständlich sein würde und Anderen, die noch leben, und welche um die Sache wissen, wird sie dies auch sein. Denn der verschlossene Brief ist im weiteren Verlaufe meiner inneren Entwicklungsgeschichte aufgetan worden, und ich bin nach Kräften den Weisungen gefolgt, die sein Inhalt mir gab.