Die Rückreise von Ludwigslust nach Erlangen

Der treue Freund Lenthe begleitete uns nach Berlin. Der letzte Tag in Ludwigslust war ein warmer Frühlingstag, mir aber durch die große äußere wie innere Bewegung, in der ich mich vom Morgengrauen an befunden, war er nicht nur ein warmer, sondern ein sehr heißer gewesen. Wir fuhren mit der Post; schon am Abende wehte uns ein kühler, bei Nacht ein kalter Ostwind an. Ich saß ohne Reisemantel vorne, wo die freie Aussicht ist, im Wagen, denn meinen Mantel hatte mir am letzten Tage, als man ihn heraus an die Luft gehangen, Einer entwendet, der ihn vielleicht noch mehr bedurft hatte, als ich. Da meldete sich bei mir ein rheumatischer Schmerz, welcher dann abwechselnd bald mehr, bald minder heftig mich bis Erlangen begleitet hat. Als die Morgensonne uns wieder schien, da fühlte ich mich erleichtert und schon lag das mächtig große Berlin vor mir. Mitten in der weit ausgedehnten Häusermasse, so wie hinter und neben ihr suchte ich nach der eigentlichen Stadt, denn ich hatte bis dahin die großen Städte alle an ihren hohen Türmen und Kirchen schon von weitem erkannt. Doch tröstete ich mich und meine kleine Reisegesellschaft bald mit dem Gedanken, dass da drinnen in der Stadt eines so großen Königs zwar keine solchen Kirchen ständen, welche, wie in Bamberg, Regensburg, Nürnberg, Wien und Lübeck die Augen durch hohe Türme anzögen, wohl aber möge es solche geben, welche Geist und Herz durch mächtigere Töne als die der Nürnberger Glocken in ihr Inneres hineinzögen. Und Gott erhalte und mehre das, denn die Türme und Glocken sind gerade nicht das Höchste und Beste, was man an und in den Kirchen sucht.

Eine Stunde ohngefähr bin ich doch in der prächtigen Stadt herumgegangen, habe mir ihre Paläste betrachtet und bald da bald dort in ihre langen schnurgeraden Gassen hineingeschaut, die wohl ein Gesunder zu Fuß durchmessen kann, ein Kranker aber nicht. Und ein solcher war ich, denn mein Schmerz griff mich alsbald wieder so gewaltig an Haupt und Gliedern an, dass er mich aus der großen, weiten Stadt hineintrieb in das kleine Zimmer und das enge Bett, die für einige Tage unser gemietetes Eigentum waren. So kann ich wohl sagen, ich bin zwar auch in Berlin gewesen, habe dort etliche Tage gelebt, kaum aber es nur gesehen.


Ich hatte einen Brief aus Lübeck von der Schwester an den jungen Claudius aus Wandsbeck, welcher damals in Berlin Theologie studierte. Wenn er hier diese Zeilen lesen sollte, dann grüße ich ihn darin und sage ihm, dass mir sein liebes Bild nicht nur noch immer, in diesen meinen alten Tagen, hell vor Augen, sondern warm im Herzen geblieben ist. Denn er war schon damals ein gar wackerer Junge, dem das treue Herz aus den Augen herausschaute und der in Wort und Wesen nicht nur die leibliche Abstammung von dem Vater Claudius in Wandsbeck kund gab, sondern auch zu einem anderen, geistigen Geschlechte und Stamme sich bekannte, zu dem ich auch gern gehören möchte. Ich sandte ihm das Brieflein von seiner Schwester und meinte, er könne dasselbe noch kaum gelesen haben, da war er schon bei mir an meinem Krankenbette, darin ich, in ziemlichem Einverständnisse mit meinen Schmerzen, mir so eben das Stillsein und Ruhen gefallen ließ. Arzneien mochte ich nicht nehmen, mein junger Freund Claudius brachte mir aber bessere und kräftigere schmerzstillende Mittel als der Apotheker geben kann, er führte mir den teuren August Neander und den Vater von Kottwitz zu. Diese treuen Freunde und Tröster der Kranken an Seele und Leib kamen während der Tage meines Aufenthaltes in Berlin gar oft zu mir an mein Krankenlager, zugleich mit einander oder auch abwechselnd jetzt nur der eine, dann der andere, nicht um mir die Zeit zu vertreiben, sondern um mir dieselbe zum bleibenden Segen zu machen.

Ich wünschte sehr, dass ich all' die Gespräche in fester Erinnerung behalten hätte, darin wir unsere Herzen gegen einander aufschlossen und an der Gemeinschaft des Geistes uns erfreuten, die uns geschenkt war. Nur von Etwas will ich reden, was wohl ein mehrmals wiederkehrender Gegenstand dieser Gespräche mag gewesen sein. Es war dieses eine Selbsttäuschung des geistigen Blickes in die nahe Zukunft unserer Zeit, daran vornämlich ich damals litt.

Eine nach ihrem Maße ähnliche Selbsttäuschung des leiblichen Blickes begegnet uns wohl im kindlichen Alter, wenn wir das Abendrot der Wolken für so nahe am Boden stehend halten, dass man dort auf dem Hügel in dasselbe hineinsteigen könne, und selbst den Mond und die Sonne für nicht viel weiter von uns entfernt, als das Gebirge, hinter welchem sie uns heraufkommen oder niedersinken. Der Eindruck, den der Purpurglanz der Abendröte, oder das Licht der Gestirne auf das leibliche Auge macht, ist ein so kräftig naher, dass man den Irrtum des Kindes leicht begreiflich finden muss und so vielleicht nicht minder jenen, darin Manche unter uns in der damaligen Zeit befangen waren. Ich meine hiermit die Erwartung von einem ganz nahen, goldenen Zeitalter in der Welt des Geistes, von einem allgemeineren Aufleben des Glaubens in der Gesamtmasse des christlichen Volkes. Vor Allem aber die Erwartung von einem Reiche des Friedens und der brüderlichen Einigung zwischen allen innig und rechtgläubigen Christen der verschiedenen Konfessionen; eines Sieges des Lichtes der göttlichen Wahrheit über das Dunkel, in welchem man sich gegenseitig verkannt und angefeindet hatte. „So werde das Volk des Herrn gemeinsam den schweren Kämpfen wohlgerüstet entgegen gehen können, die da kommen sollten.“ - - -

Allerdings durfte die damalige Zeit mehr denn manche ihr vorhergehende mit Freudigkeit den Zuruf des Propheten auf sich anwenden: „Mache dich auf, werde Licht, denn dein Licht kommt und die Herrlichkeit des Herrn gehet auf über dir“ (Jesaias 60 V.1). Doch hätte sie nicht vergessen sollen, dass bei jeder neuen Schöpfung, auch im Geistigen, sich der Verlauf der anfänglichen Schöpfungsgeschichte wiederholen müsse. Diese begann mit dem Worte des Schöpfers: „es werde Licht.“ Ja, schon das Werk des ersten Tages war so herrlich und göttlich groß, dass die Vorsänger des Sabbaths ihre Stimmen erhoben, als Ihn, wie das Buch sagt, die Morgensterne mit einander lobeten und zujauchzten die Kinder Gottes (Hiob 38 V. 7). Aber die Feier der Sabbathsruhe war noch fern, denn es folgten dem Werke des ersten Tages, welcher der Welt das Licht gab, zuerst die Werke der Scheidung der oberen und unteren Wasser, dann die der unteren Wasser und ihrer Meere vom trockenen, festen Lande mit seinen Weltteilen und Inseln, auf deren Boden die Kraft des Lebens in der Mannigfaltigkeit der unzählbaren Gestalten aufgrünte, blühte, und ihren Samen trug. Aber selbst die Macht des allgemeinen Lichtes schied sich in die Besonderheit der einzelnen Lichtträger und im Strahle der Sonne wachte jetzt ein neues sich selbst fühlendes und bewegendes Leben (der Tierwelt), abermals zuerst in der Mannigfaltigkeit der unzählbaren, scharf von einander geschiedenen Formen auf, bis die Vielheit ihrer Kräfte in dem Werke des sabbatlichen Vorabends am Menschen zur Einheit wurde und über Ihm, dem Gott erkennenden Menschen, der Sabbat anbrach. Mag die Welt des Unglaubens, wenn sie von der des Glaubens durch die Kraft des Lichtes sich scheidet, übermächtiger noch an Umfang und Masse gegen diese dastehen, als das Gewässer der Erde mit seinen Meeren gegen das trockene Land; immerhin bleibt dieses der feste Grund, darauf der Fuß sicher stehen und wandeln kann. Und die Inseln, auf denen ein sicher wohnendes Volk im steten Verkehre und Kampfe mit dem übermächtigen Elemente seine Kräfte stählt, erinnern an jene von Mauern umschlossenen Städte, darin Kaiser Heinrich I. das Volk des offenen, schutzlosen Landes verteilte, damit es hier gegen den Einbruch des Feindes sicher wohnen und sich rüsten, in der Stunde aber des entscheidenden Kampfes gemeinsam und siegreich ihm begegnen könne. Denn in solch' entscheidenden Stunden ruhet der kleinliche Zwiespalt zwischen der einen Stadt und der anderen; der Feind ist da; das Losungswort für Alle ist: Wahrheit, die Allen gilt, oder Lüge; dort Leben, hier Tod. Auf das Waffengetümmel und die Mühen der Werktage wird endlich doch eine Stille des Vorabends und auf diese der ewige Friede des Sabbats folgen.

Es ist eine herrliche Sache um die vielfache Nutzbarkeit des reinen Glases. Als Fensterscheibe lässt es das Licht herein und hält Wind und Wetter von unserer Wohnung ab; als Brillenglas gibt es dem Auge des Greises eine verjüngte Sehkraft. Aber nicht nur das Dunkel unseres Haushaltes und sein tägliches Geschäft sollte das Glas uns erhellen und erleuchten, es sollte das Licht einer Welt in unsere Sinne hereinlassen, die für unser natürliches Auge unsichtbar ist. Wie wunderbar sind die Leistungen des Glases in einem Fernrohre. Da finden sich etwa außerdem großen Objektivglase am Ende des Rohres und dem kleinen Okularglase noch mehrere (Collectiv-) Gläser, die in wohlgemessenem Abstande von einander alle das Licht von außen aufnehmen und hindurch lassen, und wenn wir durch ihre festgestellte Reihe hindurch sehen, da tut sich unserem Blicke die Pforte der Nacht oder der dunklen Ferne auf; die verborgene Tiefe des Sternenhimmels mit ihren Welten, wie die vorhin unsichtbare Welt des irdisch Kleinsten wird uns sichtbar, das unverkennbar Ferne wird uns zum deutlich Nahen. Auf die Größe und Brennweite des Objektivglases kommt bei dieser Wirkung der Teleskope freilich gar viel an, eine einzige mächtig große Glaslinse leistet da überaus viel mehr, als eine ganze Anzahl kleiner Linsen. Wer aber die kleinen Gläser durch Klopfen und Hämmern zu einem großen machen und unieren wollte, der würde bald nur scharfe Splitter unter der Hand haben. Die Glasmasse war teilbar und ließ sich auf verschiedene Weise formen, als der Schmelzer sie im Feuer seines Ofens flüssig gemacht hatte; die beim Erkalten fest und spröde gewordenen Stücke werden sich aber nur wieder zu einem Stücke vereinen lassen, wenn der Meister im Feuer seines Ofens sie wieder flüssig macht und zusammen schmilzt. —

So wohl mir auch das öftere Sehen und Sprechen der drei Freunde tat, die sich in Berlin zu mir gefunden, konnte ich dennoch nach etlichen Tagen dem Verlangen nicht mehr widerstehen, aus der Gefangenschaft des Krankenzimmers herauszubrechen. Zum letzten Male auf Erden drückte ich dem treuen Lenthe seine brüderliche Hand, auch den teuren Baron von Kottwitz sah ich nicht mehr, Neander nur noch einmal im Leben, der junge Freund Claudius hat mir seinen Besuch versprochen und ich warte noch mit Verlangen auf die Erfüllung seines Versprechens, obgleich schon 37 Jahre vergangen sind seit den Tagen unseres Zusammenseins in Berlin.

Es war wieder ein schöner, milder Frühlingsmorgen, als wir außen vor der großen Königsstadt zwischen den Gärten hinfuhren, deren Beete voll blühender Hyazinthen standen. Wären nur die kühlen Nächte nicht gewesen, oder hätte man ihnen, so wie dieses jetzt möglich ist, mit Dampfeseile entgehen können! Aber auch auf dem Wege nach Dresden musste ich nach dem damaligen Laufe der Posten, der über die weiten Flächen des Sandes hin kein sehr schneller sein konnte, die schmerzhafte Geduldprobe durch eine ziemlich kalte, regnige Nacht bestehen. Doch der Gewitterregen war bald vorüber, das Wetter wurde wieder heiter und meine Stimmung wurde das nicht minder, denn ich fühlte bei dem Wiedersehen der lieben Freunde in Dresden keinen Schmerz mehr.

Wir hatten uns viel zu erzählen und zu sagen, Kügelgens und wir beide. Mit ihm traf ich nur noch einmal, in Freiberg, wohin wir uns bestellt hatten, zusammen; sie, die schwesterliche Freundin, sah ich zum letzten Male bei einem späteren Besuche in Dresden. Das Vaterhaus des Theodor Körner, sonst so belebt, fand ich ausgestorben und von all' seinen mir bekannten Bewohnern verlassen. Dem Bruder war die Schwester bald in das Heldengrab unter der alten Eiche im fern abgelegenen Mecklenburg gefolgt (II S. 236), der Vater war von Dresden, welches ihm nach dem Tode der Seinen zur Fremde geworden, nach Berlin gezogen. Bei meinem Freunde Friedrich ging das Leben noch in seinem alten Geleise. Sein guter Humor lebte so frisch auf als sonst, da er mich wiedersah; er freute sich, dass wenigstens die Franzosen aus dem Lande hinaus waren, wenn auch noch sonst Vieles darin geblieben, das man ihnen gern nachschicken möchte, über und noch lieber unter den Rhein. Der liebe, geistreiche Theodor Hell wirkte freudigen Sinnes noch fort, in seiner gewohnten Weise, den alltäglichen Gang des Lebens und seiner Ereignisse mit anmutigen „Lyratönen“ begleitend *).

*) Er war damals fleißig mit der Vollendung seiner „Lyratöne“ beschäftigt, die bald hernach in Braunschweig gedruckt erschienen.

Auch einige neue Bekanntschaften machte ich schon diesmal und noch mehr bei einem späteren Besuche in Dresden. Zu dem ernst und wohlgesinnten Minister, dem Grafen von Einsiedel, zog mich eine herzliche Ehrerbietung hin. Er hatte sich dem herrschenden Geiste seiner Zeit und den Wortführern desselben gegenüber, durch Wort und Tat zu dem Christenglauben bekannt und darum ist über ihn an seinem Orte eine ähnliche, ja noch heftiger flutende Taufe der Lästerungen gekommen als über Harms, in der Zeit des Thesenstreites (S. 184). Er aber ist in diesen Stürmen unerschüttert geblieben, denn seine Wurzel stand und steht noch jetzt fest in dem felsigen Grunde, welcher Das, was er trägt und hält, nicht fallen lässt. Die Stunden, welche ich in der gräflich Dohna'schen Familie zu Lausa zubrachte, haben mir eine Erinnerung zurückgelassen, an der ich noch jetzt zur Bekräftigung und Ermunterung auf meinem Wege gern ausruhe. Bei diesen Seelen, das fühlte man, war gut wohnen, da hätte man gern sich mögen eine Hütte bauen. Und dieses hatte auch ein Mann getan, dessen Andenken mir zu den „feurigen Steinen“ gehört, unter denen mein Herz gerne wandeln geht. Ich meine hier den David Samuel Roller, den Pfarrer zu Lausa. Ein ehrenwerter Freund, dem wir Alle dafür herzlich dankbar sind, hat uns eine treffliche Lebensbeschreibung des Pfarrer Roller gegeben*), er aber selber, dieser Mann, hat sich in die Seelen Aller, die ihm geistig näher kamen, hineingelebt und wird in ihnen fortleben.

*) Rollers Leben und Wirken von Magnus Adolph Blüher, Dresden bei Naumann 1852.

Wir lesen (1. Petr. 2, 9) von einem königlichen Priestertum, zu dessen Würde der Glaube auch solche erheben kann, deren irdisches Reich noch im Entferntesten auch jenem nicht gleichkommt, das Arnan Arafna, der König der Jebusiter, beherrschte, dem die Tenne auf einem der Hügel von Jerusalem gehörte, samt etwa einem Stücke Feldes und etlichen Ochsen (2. Sam. 24 N. 16—24). Das Siegel dieser königlichen Würde war dem Pfarrer zu Lausa, dem Dav. Sam. Roller, in seinem ganzen äußeren wie inneren Wesen so deutlich aufgeprägt, als ich es nur selten gesehen habe. Schon die Bauern seiner Gemeinde, ob gern oder ungern, erkannten die Achtung und anständige Ordnung gebietende Macht an, die in der ganzen Persönlichkeit des Mannes lag, so dass, wenn einer zum Pfarrer hinging, er zuerst vor der Türe seines Zimmers das Haar mit dem damals gewöhnlichen, das Hinterhaupt umfassenden Kamme sich ordnete, dann sich niederbückend, nicht oben oder in der Mitte, sondern ganz unten an der Stubentüre anklopfte, als ob er, wie die Freundin von Kügelgen sich ausdrückte, welche es öfter gesehen, ein Mäuschen wäre, das von unten her zum Pfarrer hineinwollte. Aber dieser Eindruck einer seltenen Mannhaftigkeit, den Roller auf alle Menschen machte, welche eines Gefühles der Achtung vor Anderen noch fähig sind, kam nicht von dem äußeren Stande, sondern von dem inneren Zustande des Mannes her, er war deshalb nicht auf den Kreis seiner nächsten Umgebung beschränkt, sondern ein allgemeiner, den jeder von auswärts her Kommende gemeinsam mit den Bauern des Dorfes empfand. Ich habe bei späterer Gelegenheit eine Erntepredigt von ihm gehört, deren Inhalt voll tiefen, mächtigen Ernstes, im Tone des Mannes, der allein auf Sinai dem Herrn nahte, Segen verkündend dem Gehorsam und Fluch dem Ungehorsam mir unvergesslich geblieben ist*). Roller durfte mit solchem unerschütterlichen Ernste zu seiner Gemeinde sprechen, denn sein Allen vor Augen liegendes Leben und Tun bezeugte es, dass er diesen Ernst zunächst und am meisten an sich selber übte. Damals, als ich ihn zum ersten Male im Zimmer der Gräfin Dohna sah, kam er von dem Sterbebette einer frommen, alten Mutter aus der Gemeinde, mit welcher er bis zu ihrem letzten Augenblicke gebetet und die Sterbende eingesegnet hatte zu ihrem friedlich seligen Heimgange. Er las uns das Lied des alten Kantors in Joachimsthal, des Nikolaus Hermann: „Wenn mein Stündlein vorhanden ist,“ dessen Inhalt und Worte der Dahingeschiedenen noch ein recht kräftiger Trost auf ihrer Heimfahrt gewesen waren; erzählte von ihren letzten Worten. Der Mann verstand es, von Tod und Ewigkeit in gebührender Weise zu reden. Uns Allen war es, als vernähmen wir Botschaft aus einem uns Allen nahen und doch ungesehenen ernsten Jenseits, tröstend und heilsame Furcht erweckend zugleich.

*) Er rügte die Entheiligung des Sabbats, zu der sich wohl manche Mitglieder seiner Gemeinde durch zaghaften Unglauben während der Ernte hatten verleiten lassen.

Von ganz anderer Art als der Eindruck, den Rollers Bekanntschaft mir für immer hinterließ, war jener, den ein damals vielgenannter Prediger in Dresden, Stephan, auf mich machte. Ich hatte, wenn anderwärts von diesem strengen Prediger die Rede war, ihn zuweilen lebhaft in Schutz genommen, weil ich, und nicht ganz mit Unrecht, die Feindschaft gegen ihn der vorherrschenderen feindseligen Gesinnung gegen das Christentum und sein lautes Bekenntnis zuschrieb. Ich kam deshalb gewiss mit dem günstigsten Vorurteile für ihn in seine Kirche. Ich getraute mich selbst nicht gegen Andere Das auszusprechen, was ich da empfunden, aus Furcht, dem Manne in meinem Urteile unrecht zu tun. Ein Freund führte mich nach der Predigt zu Stephan hin. Schon in den scharf eingeschnittenen Zügen seines Angesichtes, in Mienen und Blick, denen das Wehetun mehr zur Übung geworden schien als das Wohltun, lag etwas, dem ich mich niemals mit Vertrauen und Liebe hätte nahen können. Roller, so wie die treuen Väter von Schöners, Kießlings, Burgers und des Pfarrer Kochs (S. 83) Art, machten keine solche Mienen, blickten andere Menschen nicht so an. Seine Predigt hatte mich kalt und innerlich unberührt gelassen. Mag der Ernst des Gesetzes immerhin Zorn anrichten, er bringt dennoch zugleich auch seinen Segen und Frieden. Die herbe Härte jedoch, im Heiligenscheine und Gewande des Gesetzes, geht selber aus einer inneren, bitteren Wurzel der Feindseligkeit hervor und erzeugt um sich her eine Feindseligkeit, welche der Versöhnung vielleicht für immer fern und fremd bleibt. Damals schon machte mich das so bedenklich, was ich von der fanatischen Gehässigkeit gegen die Brüdergemeinde und zugleich von den fast zuchtlosen Abweichungen von äußerer Sitte und Ordnung hörte, welche sich St. durch seine nächtlichen Erbauungsgesellschaften in Wäldern erlaubte. Denn Gott ist ein Gott der Ordnung, zu welcher auch die Beachtung der äußeren Sitte gehört. Was ich jedoch auch noch später durch einen nahe Bekannten seines Hauses von solchen Zügen aus Stephans Leben vernahm, welche einen Hang zur rohen, fleischlichen Lust verrieten, das hielt ich Anfangs für Übertreibung, ja für grundlose Verleumdung, bis das innere Verderben an ihm zum offenkundigen Ausbruche kam. Doch der Mann steht vor seinem Richter; wir dürfen nur beklagen, dass er mit den Gaben, die ihm verliehen waren, so viel Schaden getan, so viel Ärgernis erregt hat. Wer da stehet, der sehe zu, dass er nicht falle. Dieses Falles Anfang ist überall der Hochmut, je höher dieser gestiegen, desto tiefer ist sein Sturz zum Abgrunde. Von dem Ende des unglückseligen Mannes weiß ich übrigens nichts.

Von Dresden hinweg, wo ich mich bei dem milden Frühlingswetter von meinem Fieber fast ganz für genesen hielt, reisten wir in möglichster Eile zuerst zu den Geschwistern und Verwandten in Chemnitz, wo wir auch die Schwester aus Hohenstein trafen, dann über Lösnitz nach Bärenwalde. Hier war indessen der teure Vater und Großvater Martin in kindlich gläubiger Fassung zu seiner ewigen Ruhe eingegangen. Die Mutter Martin, als eine von jenen Witwen, welche der Apostel (1 Timoth. 5, V. 5, 6) als die rechten Witwen beschreibt, bewohnte mit einer treugesinnten Enkelin einsam das Haus. Auch die beiden Schwestern meiner lieben Frau hatten sich indes verheiratet, die eine im Orte selber, die andere mit meinem lieben Vetter, Ferdinand Werner, vermählt*), in einer etliche Stunden entfernten Stadt. Jene, die zweite Tochter des Mühlmann'schen Hauses, war damals ihrer Entbindung und dem Genusse der Mutterfreuden nahe, es geschah jedoch etwas Anderes, als wir gehofft und erwartet hatten: sie selber in der Stunde der Geburt ihres Kindes wurde ausgeboren zum Genusse anderer Freuden, als die der Mutter sind. Es war eine fromme, an Demut, Sanftmut und Liebe reiche Seele.

Während unseres kurzen Aufenthaltes in Bärenwalde hatte sich, nach der frühzeitigen Wärme und nach der Entladung eines starken Gewitters wieder ein Nachwinter und mit ihm zugleich mein schmerzliches Übel eingestellt, das mich erst mehrere Wochen nach der Ankunft in Erlangen und nach dem Beginne meiner dortigen Amtsgeschäfte bis auf die letzte Spur verließ.

*) Wie ich von mütterlicher, so er von väterlicher Seite her ein Enkel des alten Pfarrer Gotthilf Werner in Hohenstein (m. v. Bd, I S, 72).