Die Reise nach Stralsund

Ich weiß nicht mehr, war es der Besuch von hohen Gästen, oder war es eine andere Veranlassung, welche eine kurze Unterbrechung meines gewöhnlichen Unterrichtes bei der Prinzessin Marie zur Folge hatte; ich erbat mir und erhielt in wohlwollender Weise Urlaub für mehrere Tage zu einem Besuche in Stralsund bei dem Freunde und zu einer Wanderung auf die Insel Rügen.

Ich hatte dem Freunde den Besuch von mir und meiner Frau durch einige Zeilen angekündigt, diese aber, nach dem damaligen Gange der Posten, kamen an demselben Abende und fast zugleich mit uns an. Doch es bedurfte der Ankündigung nicht, wir waren hier im Hause und in den Herzen schon längst nicht bloß besuchende, sondern bleibende Gäste gewesen. Aber nur selten in unserem Leben haben wir Beide solche Gastfreunde getroffen, die dem Herzen so reiche Gaben der Liebe spendeten, als Mohnike und seine teure Hausfrau, und bessere niemals sonst auf der Erde, wo sie mein armseliger Dank nicht mehr trifft, denn sie sind mir Beide schon längst vorangegangen zur Ruhe. Nur wer Mohnike und seine Frau so gekannt hat, wie ich sie kannte, der wird die Träne der dankbaren Rührung verstehen, die mir das Auge füllt, wenn ich an die wenigen Tage meines Aufenthaltes in Mohnikes Haus und an Das zurückdenke, was ich da im Geiste und Herzen empfangen und genossen.


Ich fand den Freund stiller und ernster, als er mir in Jena erschienen, dabei aber eben so innig, so teilnehmend und zugleich mitteilend, als sonst. Er war zuerst als Schulmann in Greifswalde, dann als Prediger, Lehrer und Seelsorger einer, ihrer Zahl und ihren Anforderungen nach, sehr bedeutenden Gemeinde in Stralsund durch eine Vorbereitungsschule der Geschäftstätigkeit gegangen, welche ihn bei seiner gewissenhaften Treue öfters zu einer Schule der Mühen und Sorgen geworden ist. Doch hiervon war weniger und seltener unter uns die Rede, als von dem großen, ernsten Anliegen der Zeit: von dem Bedürfnisse einer christlichen Volksbildung. Mein Freund vernahm mit stiller Teilnahme die Berichte über mein Hinweggehen aus Nürnberg, über das Aufgeben meines früheren, mir so teuren und lieben Berufes im Gebiete der Naturwissenschaft. Ich erzählte ihm auch wohl von Dem, was ich bisher in Mecklenburg erfahren. Er sprach wenig Worte dazu, aber in diesen Worten fand sich für mich eine Mahnung, gleich jener, die in dem wiedergefundenen Ringe des Duschmanta lag; ich erwachte wie aus einem Traume; in vollster Stärke lebte in mir wieder das Verlangen auf nach Dem, an welchem vorhin mein Herz gehangen, dem ich mit meinen Neigungen und Kräften so innig verbunden gewesen war, dem ich Treue gelobt und das ich dennoch verlassen hatte. Mohnike war treu und fest auf der Bahn seines inneren und äußeren Berufes geblieben, er war auf seinem Wege zuletzt über die Schranken all' der äußeren Hemmungen, die ihn früher oft bekümmert hatten, hinüber gekommen zu dem Genusse einer freien, selbstständigen Wirksamkeit. Ich sah auf ihn, den Treugebliebenen, wie ein Schiffer auf schwankendem Boote, wenn Wind und Wogen seiner Fahrt zum Lande entgegen sind, auf ein Haus, das auf der Höhe des Strandes fest gebaut und sicher daliegt. Aber schon der Anblick des fest gegründeten Hauses, die Nähe des lieben Freundes und seiner Familie tat mir wohl. Mein Freund war, das fühlte ich wohl, nicht nur, wie ich, seitdem wir uns nicht mehr sahen, im Maß der Lebensjahre, sondern auch der inneren Lebensreife vorgeschritten. Ich konnte mich seiner nur freuen.

Ich lernte bei Mohnike mehrere Männer und Frauen kennen, die ihm an Gesinnung befreundet und gleich waren. Ich nenne hier vor Allem den edlen, deutschen Mann: den Ernst Moritz Arndt, welcher damals so eben eine Reise vom Rheine her nach seinem Vaterlande gemacht hatte und hier auf kurze Zeit verweilte. Eine mächtige Menschennatur, deren Erscheinen und Begegnen im Leben auf mich in ähnlicher Weise gewirkt hat, als einige Jahre später die Bekanntschaft mit dem Peter Cornelius. Waren sich doch auch diese Männer an Gaben und Tatkraft verwandt, hatten beide die gleiche Aufgabe für das geistige Leben ihrer Zeit und ihres Volkes, beide dieselbe Weihe jenes wahrhaften, gottbegeisterten Ernstes, der den Werken und Taten des Menschengeistes eine Dauer über die Zeit hinaus gibt. Cornelius hat den deutschen Geist in der Kunst zu einem Kampfe geweckt gegen die flache Effektmacherei des bloßen Farbenprunkes und hat dieser, dem ächten Sinne unseres Volkes fremden Gewaltherrschaft als siegreicher Feldherr ihre Schranken gesetzt; er hat dem Geiste sein altes Recht wieder gegeben: zu herrschen über das Fleisch. Ernst Moritz Arndt hat durch seine Gedichte und Schriften mit der lauten Stimme eines Herolds den Geist des deutschen Volkes aus dem Grabesschlummer aufgerufen, in welchem es unter einer fremden, schmachvollen Gewaltherrschaft befangen lag. Es galt vor Allem, das höchste Gut unseres Volkes, den frommen Sinn und Glauben der Väter aus dem Schlamme der fast allgemeinen Verdorbenheit zu retten, darein er versunken war, da mussten vorerst die fremden Kobolde besiegt und hinweggescheucht werden, die den Schlamm beschützten und vermehrten und das Annahen zu dem Schatze unmöglich machten. Nach diesem Schatze und Horte, vergleichbar im geistigen Sinne dem Hort der Nibelungen, hat unser Arndt durch seine schönsten Lieder das Sehnen in unserem Volke geweckt; er hat dieses Volk zu einem Gefühle und Bewusstsein seiner eigenen Kraft und seiner hohen Bestimmung unter den anderen Völkern erhoben. An und neben den hohen Kirchengebäuden tobt und wirbelt der Zug des Sturmwindes gewöhnlich am heftigsten, in ihrem Turme, wenn er durch keinen Wetterableiter geschützt ist, schlägt der Blitz am öftesten ein. Aber du, alter Turm mit deinem Kirchengebäude, du, mein alter Moritz Arndt, stehst, weil ein guter Wetterableiter von oben dich schützt, nach all' den Stürmen und Wettern, die dich getroffen, fest da, und Gott erhalte dich, du Ehrensäule des deutschen Vaterlandes, noch lange zu unsrer Augen Lust!

Arndt, im Jahre 1769 geboren, stand damals, wo ich ihn kennen lernte (1816), in der vollen, frischen Kraft des Mannesalters da. Ein Mann, der mit der um ihn her stehenden Welt wenig Umstände zu machen gewohnt war, ein geistiger „Clas Astenstaken*)“ aus der Mährchenwelt in die Wirklichkeit getreten, d. h. wie einer, der seinen Mann überall selber stellt und braucht keinen anderen Mann dazu, hat aber seinen Gott bei sich und in seinem Herzen, der dem Arme bessere Kräfte gibt, als Zehntausende aus der Fremdenlegion.

*) M. v. die prächtigen Märchen von Arndt.

Arndt ist bekanntlich auf der Insel Rügen, in Schoritz, geboren, und die Eingeborenen dürfen sich auf diese Merkwürdigkeit ihrer Insel schier eben so viel einbilden, als auf ihren wunderschönen Herthasee und die Kreidefelsengruppen von Stubbenkammer. Doch sind diese mit ihren Naturreizen gar hoher Beachtung und teilnehmender Gefühle des Herzens wert und Arndt durch seine mündlichen Mitteilungen, wie er dies ja selbst auf die Seelen der Kinder durch seine unvergleichlichen Märchen getan, gab meiner Reiselust eine so kräftige Richtung nach seiner heimatlichen Insel, dass ich gleich den anderen Morgen zur Auswanderung dahin bestimmte.