Die Reise nach Mecklenburg

Die Weisung, welche ich noch in Jena erhalten hatte, dass ich nicht vor der Rückkehr des Herrn Erbgroßherzogs nach Ludwigslust dort eintreffen solle, hatte meinen Aufenthalt im Kreise der Verwandten noch verlängert. Ich sah wahrend dieser Zeit die Geschwister in Chemnitz und Lößnitz und wurde durch die verständige Weise und das Gottvertrauen, damit meine Schwester in Chemnitz und der Schwager Reichel in Lößnitz mein Vorhaben auffassten, sehr erfreut und gestärkt.

Die milden, heiteren Frühlingstage in der letzten Hälfte des April und selbst noch die ersten Tage im Mai, welche dem regnigen Sommer des Jahres 1816 vorausgingen, begünstigten unsere Reise nach dem neuen Wohnorte sehr. Wir durften uns Zeit lassen zu einem zweitägigen Aufenthalte in Leipzig. Es war so eben in der Zeit der Ostermesse, in welcher alle Gasthöfe von Besuchenden aus der Nähe und Ferne überfüllt sind, welche, wenn nicht das Geschäft des Handels selber, doch die Lust am Schauen und geselligen Vergnügen hierher führt. Wir fanden eine stille Privatwohnung und ich fand zugleich die Gelegenheit zu einem anderen lebendigeren Verkehre, als zu dem des Handels um die Schätze und Kleinoden aus den verschiedensten Ländern. Ich suchte nach Dem, das ich in Nürnberg so reichlich genossen hatte: nach einem brüderlichen Zusammensein mit Menschen, die an demselben Kleinod, das mich erfreute, ihre Lust hatten. Wenn man das geistige Leben in dem damaligen Leipzig mit dem früheren verglich, das mein Vater während seiner Studentenjahre dort gefunden, oder noch mehr mit dem jetzigen, an welchem meine Kinder und Enkel sich erfreuen, da konnte man freilich den großen Unterschied zwischen dem Sonst und Jetzt nicht verkennen. Allerdings hätte man die Erinnerung an Gellert und an die treuen Zeugen seiner Zeit nicht allein draußen unter den Denkmalen des Johanniskirchhofes zu suchen gebraucht, man hätte sie auch noch in dem Herzen manches der alten Bürger der Stadt und hin und wieder in manchem vor dem Auge der „gebildeten Welt“ verborgenen Haushalt gefunden, aber jene sogenannt gebildete Welt war, mit wenig Ausnahme, eine ganz andere geworden als sie zu Gellerts Crusius und ihrer Freunde Zeiten gewesen. Der Leuchter war hinweggenommen von der Stätte, dahin er gehörte; es war nicht mehr das göttliche Wort, das man von den Kanzeln vernahm, um welche die Menge nach angewohnter Sitte sich versammelte, sondern fast durchgängig nur ein ungöttliches, kraft- und trostloses Menschenwort voll Künstlichkeit der Rede. Da, wo hin und wieder noch ein treuer Zeuge das Wort der Wahrheit in Einfalt und Lauterkeit verkündete, fand die gebildete Menge nicht Das, was ihren Ohren wohl gefiel; es war nur ein kleines Häuflein, welches dahin kam, und das zu jener Zeit so teuer gewordene Brot des Lebens mit freudigem Herzen aufnahm. Mehrere Jahre nach diesem meinem Besuche in Leipzig (so erzählte man mir) kam eine Dame von hohem Stande, welche das Brot des Lebens kennt und seiner von Herzen begehrt, auf ihrer Reise nach Thüringen durch Leipzig. Es gab damals noch keine Eisenbahnen, welche den Verkehr zwischen dem nördlichen Deutschland mit dem südlichen so mächtig beschleunigen; die hohe Reisende musste in der Stadt übernachten. Es war Sonnabend, den Sonntag pflegte sie als Tag des Herrn zu feiern. Sie ließ den Wirt auf ihr Zimmer rufen, „Herr Wirt,“ so fragt sie diesen, „gibt es wohl hier in der Stadt noch irgend einen Geistlichen, der zu den Mystikern und Pietisten gehört und als solcher predigt?“ — „Nein, Gott Lob! E. K. H.“ antwortet der Wirt, „solche Leute brauchen wir nicht mehr zu hören. Unsere Herren Prediger sind lauter aufgeklärte Männer, keine Finsterlinge. Ein einziger solcher Finsterling ist noch da, ein gewisser Hänsel, der Prediger in der Zuchthauskirche. Es hört aber Niemand sein altmodisches Geschwätz an, außer die Züchtlinge, die in seine Kirche müssen und etliche Wenige aus dem geringen Volke.“ — Die Dame hatte jetzt erfahren, was sie zu wissen wünschte; sie entließ den Wirt, begehrte aber den Kirchenzettel für den Sonntag zu sehen. Durch diesen erfuhr sie die Stunde, in welcher Hänsel predigte; der Lohnbediente wird für den anderen Morgen wieder bestellt. Dieser erstaunt nicht wenig, als die hohe Dame am Sonntag Morgen an ihn das Begehren stellt, er solle sie und ihre Begleiterin in die kleine, arme Zuchthauskirche zu Hänsels Predigt führen. Sie ging dahin, nach ihrer prunklos demütigen Weise zu Fuße, und das einfältige Wort von der Buße und von der heilenden Kraft des lebendigen Glaubens au Christum war so ganz nach ihrem Sinne, dass sie bei dem Herausgehen aus der Kirche eine ihrer Kirchennachbarinnen ermahnte, diesen Prediger so oft als möglich und mit treuer Hingebung zu hören.


Diese kleine Geschichte, die ich mittelbar aus einem glaubwürdigen Munde vernommen, mag nicht ungeeignet sein, die geistige Stimmung und den unkirchlichen Ton anzudeuten, welcher während der ersten Jahrzehente dieses Jahrhunderts allmählich in Leipzig der vorherrschende geworden war. Die Geschichte der furchtbaren Gräuel, durch welche unser deutsches Volk in den Jahren der Empörung von 1848, 1849 sich befleckt hat, sind vielleicht noch ein neben der besseren frischen Saat zurückgebliebener Unkrautsamen aus jener ungesegneten, verödeten Zeit gewesen. Das gehaltlose Gestrüpp stand da, zum Anbrennen dürr; der zündende Feuerbrand aus ruchloser Hand kam von ferne her und der wüste Teil des Feldes samt seinen Dornen stand in Flammen.

Aber schon im Jahre 1816 gab es in dem steinigen Felde voller Dornen nicht nur einzelne Strecken des guten Bodens, darauf die Saat zu reichlichem Ertrage reifte, sondern auch Bäume von kräftigem Wuchs und Stamm, voller Blüten und Früchte. Wie ein solcher lebenskräftiger Baum, in dessen Schatten man gerne ruhte, stand namentlich der Professor Dr. Friedrich Wilhelm Lindner in Leipzig da, den ich durch meinen Vetter und nachmaligen Schwager Ferdinand Werner, seinen treuen und eifrigen Schüler, persönlich kennen lernte. Lindner, mit mir von gleichem Alter, hatte schon frühe als Lehrer und Schriftsteller den Weg des lauten ernsten Bekenntnisses von dem einigen Heil in Christo betreten. Er ist, nach seinem Maße, für seine Zeit und seine Umgebung die Stimme eines Predigers in der Wüste gewesen, der viele Schläfer geweckt und auf den Weg des Lebens hingewiesen hat. Unter den Jünglingen, die aus seiner Schule hervorgingen, haben viele durch Wort und Wandel ein treues Zeugnis von der erkannten Wahrheit gegeben und Das, was er als Lehrer an der Bürgerschule an den jungen Seelen gewirkt, das wird einen anderen Lohn finden, als den einer irdischen Bürgerkrone. Maria Mertens, deren tief ergreifenden Lebenslauf aus guter Hand wir so eben erhalten haben, ist eine von jenen vollwichtigen Ähren, deren Garben von der Aussaat des gesegneten Lehrers an der Bürgerschule hervorgewachsen und gereift sind zum Tage der Ernte. Lindner war unter den namhaften Meistern der Erziehungskunde seiner Zeit einer der ersten, welcher das Christentum als die Grundlage aller ächten Bildung und Erziehung der Jugend öffentlich anerkannte und in seinem Unterrichte betätigte. Es sind viele Stürme über den kräftigen Baum ergangen, der alte Stamm aber stehet auf seinem guten Grunde fest gewurzelt und die Zweige grünen.

Lindners Bekanntschaft und belehrende Mitteilungen waren mir auf meinem damaligen Wege von ganz besonderem Werte, ich benutzte jede hiezu günstige Stunde, um mit ihm zusammen zu sein.

Auch Adolf Wagner, den Freund Kannes, lernte ich während meines damaligen kurzen Aufenthaltes in Leipzig kennen und gewann ihn lieb; mit ihm so wie durch seine und Lindners Vermittelung noch einige andere werte Männer. Unter ihnen nenne ich den k. Oberpostdirektor Hüttner in dankbarem Andenken an seine große mir, so wie meinem Freunde Kanne erwiesenen, unermüdeten Gefälligkeiten. Der Verleger meines ersten wissenschaftlichen Werkes, Reclam, hatte während der Tage der großen Völkerschlacht bei Leipzig gleich vielen anderen seiner Mitbürger große Verluste erlitten. Ihm sagte ich den Verlag des ersten Bandes meines Alten und Neuen unter Begünstigungen zu, welche nicht die zwischen Autoren und Verlegern gewöhnlichen waren. Denn Freund Lindners kräftiger Zuspruch hatte mich bestimmt, das Buch so bald als möglich zu vollenden und drucken zu lassen.

Die Zeit, welche mir zum Eintreffen in Ludwigslust bestimmt war, rückte jetzt nahe heran, mir war es, als ob ich von dem wohlbekannten Festlande abstieße und hinauszöge auf ein unbekanntes Meer, als ich von den brüderlichen Freunden in Leipzig schied und hinausfuhr von meinem Vaterlande und meiner Heimath in ein Land, auf welches, wie ich fest glaubte, der Finger des Herrn mich hingewiesen hatte— Schon damals war mir Leipzig ein geistiges Festland, dessen Bergspitzen aus einer darüber ausgebrochenen Flut hervortraten; wie anders stand es später, steht es jetzt da. Sei mir gesegnet, du wieder gewonnenes Land des Segens mit deinem Friedensboten.

Von der Reise über Dessau, Zerbst, Magdeburg hätte ich wohl Manches zu erzählen, das mir lebhaft in der Erinnerung geblieben ist, das jedoch für die eigentliche Geschichte meines Lebens ohne Kraft und tiefer gehende Bedeutung blieb. Ein Fernblick auf den Harz, auf das, jenseits der Elbe gelegene Wittenberg, von Wörlitz aus, das kurze Verweilen in dem ehrwürdigen Dom zu Magdeburg, das Alles wären wohl anziehende Punkte zum näheren Hinzutreten oder zum längeren Verweilen gewesen, aber mein Hoffen, mein Denken und Sinnen waren jetzt weder zur Rechten noch zur Linken, sondern gerade aus nur nach dem Ziele meines Weges gerichtet. In einem Föhrenwalde jenseits Stendal wandelte mich, obgleich die blühenden Pulsatillen mich an ihre edlere, höhere Schwesterart bei Jena erinnerten, eine bängliche Sorge und geistige Beklemmung an; ein gewaltiger, plötzlich ausbrechender Gewittersturm hielt unsere Fähre bei der Überfahrt über die Elbe nach Lenzen an einer seichten Stelle des Stromes fest und regte in meinen Begleiterinnen große Furcht und Schrecken auf. Desto lieblicher war dann Allen das geistige wie das leibliche Ruhen in Lenzen und in Hoffnung und Vertrauen neu bekräftigt traten wir am letzten Morgen der Reise in das Land unserer neuen irdischen Pilgerstation ein.