Die Reise nach Hamburg und Lübeck

Von meinem lieben Jugendfreunde: dem trefflichen Hartmann aus Bautzen, habe ich lange nicht gesprochen. Er war von Wien, ohne sein Zutun, nach Hamburg gezogen worden, wo man ihm die Redaktion eines vielgelesenen Tagblattes und zugleich die Lehrstelle der Geschichte am Johanneum übertragen hatte. Da stand er denn in Achtung und Ehren, glücklich in dem Frieden, den er in seinem Hause und mit all' seinen besseren, achtungswerteren Mitbürgern gefunden. Er war nicht sehr lange vor mir aus dem Süden des deutschen Vaterlandes hierher in den Norden gekommen; hatte sich meiner Nachbarschaft herzlich erfreut, und war mit mir in einen beständigen lebhaften Verkehr durch Briefe getreten. Wir Beide waren durch unsere amtlichen Verhältnisse an unseren Ort gebunden; er, durch die alltägliche Last, die ihm die Redaktion seines Blattes aufbürdete, noch mehr als ich. Seine dringende Einladung, ihn zu besuchen, damit wir noch einmal im Leben uns sähen, wäre mir schon allein ein kräftiger Antrieb zu der Reise nach Hamburg gewesen, wenn auch dazu nicht noch ein anderer gekommen wäre: der Wunsch, den ich seit langer Zeit in mir bewegt hatte, die altehrwürdige Stadt zu besuchen, die einst eine so mächtige Fürstin unter den Hansestädten war, und noch jetzt als eine wohlhabende Erbin des Nachlasses ihrer Vorzeit in hoher Achtung dasteht. Die drei Hauptstände der Gesellschaft: der Wehr-, der Nähr- und der Lehrstand sind alle drei bei dem deutschen Volke als ansehnliche Mächte aufgetreten, deren jede ihre eigene Zeit der Blüte, ihre eigene Geschichte hat. Welches andere Volk der neuen Zeit hat mit Wehr und Waffen ritterlichere Taten getan, als das unsrige in den abwehrenden und siegreichen Kämpfen seiner alten Herrscher und Helden gegen den übermächtigen Andrang der Feinde des Kreuzes aus Süden, aus Osten und Westen! Zu welcher Kraft und Herrlichkeit war der ritterliche Wehrstand der Deutschen unter den ersten sächsischen Kaisern, so wie unter den Hohenstaufen erstarkt! Er blieb dieses noch in späterer Zeit, doch nicht mehr vorherrschend im Dienste des allgemeinen Wohles, sondern mehr noch zum gewalttätigen Missbrauche der Macht und Habgier des Einzelnen. Neben dem Wehrstande in den alten Ritterburgen war auch der bürgerliche Nährstand hinter den Mauern der Städte herangewachsen, er erstarkte im Kampfe mit jenem, so wie mit den äußeren Feinden seiner Sicherheit und seines Wohlstandes zu einer Macht, welche den Fürsten und Völkern Achtung gebot. Auch dieser Stand hatte anfangs die Waffen nur zur Abwehr ergriffen, als in den Zeiten des Faustrechtes die Fürsten der einzelnen Länder, durch welche die Kaufleute und friedlichen Bürger zogen, nur noch Abgaben für den Schutz der Unbewaffneten erhoben, ohne ihnen diesen teuer bezahlten Schutz zu gewähren. Damals, noch vor der Mitte des 13. Jahrhunderts, schloss zuerst Hamburg mit den nächsten Nachbarn an den Ufern der Elbe, dann mit Lübeck ein Schutz- und Trutzbündnis gegen den gemeinsamen Feind, den Dänenkönig Waldemar III. Bald traten diesem Bunde, deren Haupt Lübeck war, nicht nur die deutschen Seestädte an der Nord- und Ostsee bei, sondern auch eine Menge der Städte des nördlichen Deutschlands, welche durch ihre Lage an schiffbaren Flüssen entweder unmittelbar oder auch mittelbar an dem Seehandel Teil nahmen, so dass die Zahl der verbündeten Städte öfters mehr denn 50, ja zu einer Zeit über 80 betrug. Doch ich würde allen meinen Lesern nur das Bekannte wiederholen, wenn ich ausführlicher an das Ansehen der Hansa nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und den nordischen Reichen erinnern, wenn ich von der Macht ihrer Flotten, von den dritthalbhundert ihrer Schiffe vor Kopenhagen, von ihrem Einflusse selbst auf die Besetzung und den Verlust der Fürstenthrone reden wollte. Denn dieser Bund der Städte und Flotten, so wie ihres Geldes und ihrer Güter zu einem gemeinsamen Zwecke stand nicht bloß in selbstständiger Unabhängigkeit neben der Macht der Könige und Fürsten, sondern über dieser da. Doch auch er ging seiner Ohnmacht und Auflösung entgegen, als die Feststellung des allgemeinen Landfriedens den Kampf und die Notwehr unnötig machte und der europäische Handel auf dem neu aufgefundenen Seewege nach Ostindien und Amerika eine andere Richtung durch die Völker und Länder nahm. Dennoch hat sich Hamburg bis zu unseren Zeiten als Handelsstadt auf einer Höhe des Ranges und des inneren Wohlstandes erhalten, welche zwar nicht der von London und Liverpool, so wie von Neuyork gleichkommt, sonst aber keiner anderen Handelsstadt des europäischen Festlandes im Range nachsteht.

Ich habe Hamburg im Jahre 1819, noch vor seinem großen Brande, in seiner altertümlichen Gestalt gesehen und freue mich dessen. Der erste Eindruck, den ich beim Hineintreten in die merkwürdige Stadt empfing, war ein Achtung und Aufmerken gebietender. Wir kamen am anderen Tage nach unserer Abreise aus Ludwigslust, Mittwochs vor Ostern, am 7. April, einige Stunden vor Mittag, in der Stadt an, stiegen in einem Gasthofe ab, der am Alsterkanale lag. War es doch hier zum ersten Male in meinem Leben, dass ich den Wechsel zwischen Ebbe und Flut des Meeres mit eigenen Augen sah. Auf dem gepflasterten Boden des Alsterkanals hatten, als wir dort ankamen, die Verkäufer mehrerer Arten von Esswaren und Früchten ihre Tische aufgeschlagen und es war da für die Käufer und Verkäufer trockener Boden; die Räder einiger benachbarten Mühlen oder anderer Wasserwerke standen hoch über dem Wasser des Kanals in der Luft. Da auf einmal, als wir so eben bei Tische saßen, hörten wir das Klappern der Räder, die Buden der Obstverkäufer waren hinweg, der Kanal bis hoch hinauf zu seinem Rande, so wie es in den Zeiten des Vollmondes zu geschehen pflegt, mit Wasser gefüllt. Außer der Stadt auf einer Anhöhe des Elbufers sahen wir die Niederung zwischen Hamburg und Harburg in einen See verwandelt. So bezeugt schon hierdurch die Lage von Hamburg, dass sie nicht allein zur Herrschaft über die Schifffahrt des Flusses, sondern über die des Meeres gemacht ist.


Unser lieber Freund Hartmann fand sich schon in der ersten Viertelstunde, durch einen Brief von mir gerufen, bei uns im Wirtshause ein und blieb, während der Tage unseres Besuches in Hamburg, unser beständiger Führer und Begleiter. Mir war hier Alles neu; Nürnberg ist auch eine alte, ehrenwerte Stadt und hat, was die äußere Gestalt betrifft, eben so seine eigentümlichen Vorzüge vor dem alten Hamburg als dieses vor der ehrenwerten süddeutschen Reichsstadt. Man merkt aber dennoch gleich nach dem ersten Überblicke, dass hier ein anderer Geist den Bauplan der Stadt gemacht und im Verlaufe vieler Menschenalter ausgeführt hat, als in Nürnberg (II S. 273). In Hamburg, der Weltstadt, der Genossin des Handels und geschäftigen Verkehres mit allen Völkern und Reichender Erde, hat nicht wie in Nürnberg der volkstümliche deutsche, sondern mehr ein weltbürgerlicher Geist geschaffen und gebaut, dessen vorsorgender Blick weit hinaus auf die Erhaltung und Sicherung des mächtigen Geschäftsverkehres nach außen, so wie der bürgerlichen Ordnung nach innen gerichtet war. Wie ansehnlich fielen uns die Gebäude der Börsenhalle, des Rathhauses, des Kommerziums, das Einbeckische, so wie das Stadthaus in die Augen; wie beachtenswert erschienen das Waisen-, wie das Krankenhaus. Und dabei das rege Leben und Bewegen der Volkshaufen, die sich an einigen der öffentlichen Plätze zusammenfanden und durch die engen Gassen sich ausstreuten. Da begegneten uns Männer aus den verschiedenen hohen Kollegien oder regierenden Behörden der Stadt, in ihrem althergebrachten Ornate, da sah und hörte man unter den Deutschen aus allen Gegenden Engländer, Schweden, Franzosen, auch wohl Spanier und Portugiesen. Wenige von ihnen nur als müßige Zuschauer, fast alle im Drange und der Eile einer Geschäftigkeit, welche gerade jetzt, unmittelbar vor den Osterfesttagen, in lebhaftestem Gange war. Und lauter als die Stimmen der sprechenden Menschen sang oben vom Turme herab das bewundernswerte Glockenspiel seinen ernsten Choral.

Mehr noch als in der Stadt selber konnte man außen am Landungsplatze der Fahrzeuge und Schiffe Hamburgs Bedeutung für den Welthandel erkennen. Dort sah man nicht nur die Flaggen und Abzeichen aller handeltreibenden Nationen von Europa, sondern da schafften Amerikaner ihre Warenballen und Fässer ans Land, aus Madeira und Teneriffa gab es Seefahrer und Verkäufer des Weines sowie südlicher Früchte, selbst Chinesen, wenn auch nicht Besitzer, doch dienende Mannschaft eines Schiffes, das aus dem östlichsten Asien kam, gaben uns hier durch ihr persönliches Erscheinen ein seltenes Schauspiel. Fast eben so augenfällig, so wie hin und wieder lauter noch als am Tage war das Getümmel des Volkslebens am Abende und bis spät in die Nacht hinein. Es war jetzt in mehr als einem Sinne vorzugsweise in die tieferen Regionen herabgedrungen, nur wenige noch von den handeltreibenden Herren, sondern mehr nur ihre Diener, nicht sowohl die Offiziere der Schiffe, als die Matrosen derselben gingen jetzt nach Beendigung des Tagesgeschäftes ihrem Vergnügen nach. Aus den geöffneten Kellern unter den Häusern schienen die Lichter, tönte die Musik, schallte der Lärmen der Versammelten herauf; es waren dieses keine Sinneseindrücke, die zur Stimmung der stillen Woche vor Ostern sich schicken wollten. Wir aber brachten schon den ersten Abend im Familienkreise unseres Freundes Hartmann, im Hause seiner Schwiegereltern zu, wo die gesellige Stimmung eine solche war, dass sie eben so mit der kindlich frohen eines Weihnachtsabends als mit der feierlich erhebenden eines Ostermorgens in Einklang stehen konnte. Ich durfte meinen Jugendfreund vor manchen meiner Bekannten und Jugendgenossen glücklich preisen, dass er eine Lebensgefährtin gefunden, die mit der äußeren Gabe einer seltenen Anmut und Lieblichkeit zugleich die innere der Demut und Sanftmut, so wie eines Herzens voll Liebe empfangen und bei dem Reichsein an mancherlei irdischen Gütern jenes Armsein am Geiste sich erhalten hatte, auf welchem ein höherer Segen ruht als der irdische ist.

Der bürgerliche Mittelstand in Hamburg machte auf mich durch sein Leben und Wesen, so weit ich ihn kennen lernte, im Einzelnen und Besonderen denselben Eindruck, der mir von der Gesamtheit ihrer Stadt geblieben ist. Eine Bekanntschaft mit der Geschichte der Gegenwart, die nicht in die Grenzen der nächsten Nachbarschaft beschlossen ist, sondern weit über die Länder und Meere hinüber geht, schien sich da bei den ehrbaren Bürgern in großer Allgemeinheit zu finden; ein Urteil über die Angelegenheiten und Dinge dieser Gegenwart, das nicht aus den Zeitungsblättern entnommen ist, sondern auf die im Verkehre mit der Nähe und Ferne gewonnenen Anschauungen und Erfahrungen sich gründet. Denn diese Leute, auch wenn sie selber weder in Handelsverbindungen noch in anderem Verkehre mit den Bewohnern der entfernteren Gegenden standen, wussten um Das, was manche an ihrem Orte angesehene Häuser in Leipzig, in Dresden, während der letztvergangenen Kriegsjahre betroffen, besseren Bescheid als die Mehrzahl der Bürger der sächsischen Städte selber; sie waren mit den bürgerlichen Verhältnissen in Augsburg und München besser bekannt, als ich, in Nürnberg wohnend, dieses jemals geworden war. Freilich hatte auch diese Bekanntschaft ihre Begrenzung; sie ging nur selten über den Ruf der Gewerbtätigkeit und über jenen ökonomischen so wie sittlichen Credit hinaus, den sich der einzelne Bürger so wie ganze Gemeinschaften seines Standes erworben hatten; wäre ich aber ein Reisender gewesen, den sein Geschäft nach Amsterdam, nach London, nach Neuyork oder Philadelphia geführt hätte, dann würde mancher der Hamburger Bürger mir bessere Weisung und Rat über die Wahl des Unterkommens und der geselligen Verbindungen erteilt haben, als kaum einer der gepriesensten Reisebeschreiber. Und mit seiner weltbürgerlichen Einsicht verbindet der gebildetere Mittelstand in Hamburg, der hierin wie ein erfahrener Mann neben der unerfahrenen Kindlichkeit des Bürgers einer süddeutschen Reichsstadt dasteht, insgemein eine gewisse politische Unparteilichkeit in seinem Urteile, welche man bei den Bewohnern der deutschen Herrscherländer: Preußen und Österreich, Bayern und Baden u. s. w. öfters sehr schmerzlich vermisst. Das vereinzelte Interesse, welches diese trennt und entzweit, ist nicht das des Hamburger Bürgerstandes, seine Politik ist nicht die der Kabinett und ihrer sich gegenseitig hemmenden Geschäftigkeit, sondern die des Handels und seiner mehr oder minder bedeutenden Vortheile. An diesen Vorteilen sucht der ehrbare Bürger der Stadt durch fleißige Benutzung seiner Kräfte und Mittel Teil zu haben und weiß das Gewonnene zu vermehren, so wie mit Anstand zu genießen.

Der Bürger aber, zu welchem mich am Tage nach unserer Ankunft Freund Hartmann hinführte, stellte doch wieder mitten im Bürgerstande seiner Stadt einen ganz besonders ehrenhaften Stand vor, dessen Genossen zwar an vielen verschiedenen Orten der Erde gefunden werden, nirgends aber in großen Haufen, sondern immer nur als vereinzelte Seltenheiten. Es war der edle Buchhändler Friedrich Perthes, eine Persönlichkeit, deren Bekanntschaft nicht nur einer Reise, sei sie noch so fern aus Deutschland her, nach Hamburg an der Elbe, sondern nach dem Hamburg, das in den blauen Bergen von Pensylvanien, wie nach dem, das in Südcarolina am Savannah liegt, wert gewesen wäre, und der selbst das Hamburg im Ohiostaate, trotz seiner Nachbarschaft an der Unionsniederlassung der seltsamen Shakers, zu Ehren gebracht hätte. Denn bei ihm fand man eine Gemeinschaft, nicht der irdischen und vergänglichen Güter, wie bei den Shakers in Union, sondern der geistigen und unvergänglichen, in welche man gern und mit Herzenslust eintrat. Es wäre ein überflüssiges Bemühen, wenn ich es versuchen wollte, ein Lebensbild von diesem mir lieben, werten Manne zu geben, denn ein solches, nicht als Silhouette oder in Miniatur, sondern meisterhaft in Lebensgröße ausgeführt findet sich in einem Werke (Friedrich Perthes Leben, von seinem Sohne Clem. Th. Perthes), das ich allen guten Deutschen als ein Buch für Haus und Herz empfehlen möchte. Denn der Inhalt desselben ist nicht bloß das Portrait eines einzelnen, bedeutungsvollen Zeitgenossen, sondern ein treues, wohlgelungenes historisches Gemälde seiner ganzen Zeit, in ihren politischen sowie religiösen Kämpfen und Stellungen. Der Friedrich Perthes war ein Mann, der mitten in den wirbelnden Bewegungen seiner Außenweit unbeweglich fest stand, auf einem guten Grunde, der niemals wankt; verständig und treu in seinem Thun als Hausvater, als Bürger und als Christ. Bei dem Lesen der Geschichte seines Lebens, das in Schwarzburg-Rudolstadt seinen Anfang genommen, ist es mir gleich beim Eingange so gemütlich wohl zu Mute geworden als da, wo ich in meiner Jugend zuerst in das wunderschöne Waldtal von Schwarzburg eintrat, auf dessen tiefem Grunde die Schwarza rauscht, so wohl wie auf der Heidecksburg zu Rudolstadt, wo ich in späterem Alter bei einem Kleeblatt fürstlicher Schwestern Stunden verlebte, deren Erinnerung wie das immer ab- und neu wieder zufließende Wasser der Schwarza und der Saale unversiegbar durch die Seele rinnt. Und welche Szene eines steifledern ehrbaren Bürgertums tut sich dem Sinne des Lesers auf in der Beschreibung der Lehrjahre bei dem Buchhändler Böhme in Leipzig; wie hebt sich das Lebendes Jünglings, gleich dem Goldkäfer aus seiner im Ameisenhaufen begrabenen festen Puppe, auf einmal bei seinem Eintritte in die neue geistige Vaterstadt Hamburg so frei hervor; findet, wie der ausgeflogene Goldkäfer, seine Rosen in der Bekanntschaft der Heroengeister jener Zeit: eines Fr. Jacobi, Klopstock, Claudius und im Hause des Wandsbecker Boten eine so kostbare Centifolie, dass er gar nicht von ihr lassen kann: die Tochter Caroline Claudius, seine nachmalige Frau, mehr aber noch als die Rose selber: den Balsam aus Gilead, den Tau vom Hermon: den Glauben, der das Leben der Ewigkeit zum Wachen bringt und ernährt.

Doch ich will nicht weiter von dem Buche reden, das ein treues Seelenportrait meines lieben Perthes und zugleich ein historisches Tableau von meinen und seinen Lebenstagen in sich fasst. Es soll und wird von Vielen eben so gern gelesen werden als von mir, der ich darin wie in wenig anderen Büchern unserer Zeit Belehrung, anmutige Unterhaltung und geistige Bekräftigung gefunden und manche klarere Ansicht über die Geschichte meiner Zeit gewonnen habe. — Ich gehe weiter im Berichte über meinen Besuch in Hamburg.

Der dritte Tag unseres Aufenthaltes in Hamburg war der Karfreitag. Ich entnehme einen Teil der Erinnerungen an die Vormittagsstunden dieses Tages der schriftlichen Mitteilung meines brüderlichen Freundes Adolf Zahn, welcher mein Begleiter auf der Reise und treuer Teilnehmer an ihren Genüssen war. Auffallend und erfreulich war uns der Ernst und die äußere Andacht, mit welcher dieser ernsteste Tag des christlichen Kirchenjahres in einer Stadt gefeiert wurde, von welcher es scheinen konnte, als ob sie nur für materielle Interessen lebe. Einige Kirchen, in welche uns Hartmann und seine Frau führten, waren dicht vollgedrängt von den Scharen einer andächtig erscheinenden Gemeinde. Wir hörten aber damals in keiner derselben ein Wort, das in die göttlich große Geschichte und Bedeutung dieses Tages und hiermit zugleich in die Tiefe der Herzen einging, und dennoch sehnten wir uns nach einem solchen Worte. Da führte uns Hartmann in die kleine französisch-reformierte Kirche. „So eben las hier der Vorleser seinen heutigen, biblischen Abschnitt und dann schritt der jugendlich kräftige, in Gestalt und äußerer Haltung würdevolle Merle d'Aubigny herein und mit einem Feuer der Begeisterung, dessen Wärme und Licht nicht aus dem Fleisch und Blute kamen, verkündete er nach 2. Kor. 5. B. 19 u. f. die große, einzige Tat Gottes, die sündige Welt zu versöhnen. So, in fremder Zunge, wurde uns der Segen des Tages dargeboten. Wir waren befriedigt.“

Es war, obgleich erst der 9. April, ein lieblich milder, heiterer Frühlingstag. Wir gaben uns ganz der Führung unserer Freunde hin, zogen mit ihnen — die Männer zu Fuße, die Frauen im Wagen — hinaus vor die Stadt, besuchten auf dem Kirchhofe zu Ottensen das Grab des Friedrich Gottlieb Klopstock, dieses geistig hochadeligsten Dichters des vergangenen Jahrhunderts und des deutschen Volkes, freuten uns dann an der für uns hier ganz unerwartet schönen Gegend von Bergedorf und an seinen Anlagen*). Auf dem Rückwege besuchten wir Männer noch den ehrwürdigen, lieben Gilbert van der Smissen in Altona, den vieljährigen Freund des Tobias Kießling und anderer Nürnberger Freunde. Den Abend brachten wir noch mit Hartmann und Zahn in dem Familienkreise des edlen F. Perthes zu, dieses Musterbildes eines deutschen Mannes. Mein Freund Zahn hat aus den Gesprächen jenes Abends etwas aufbehalten, das mir aus der Erinnerung geschwunden war, und doch der Erwähnung wert scheint. Perthes in seiner kräftig lebhaften Weise sprach mit Missbilligung von der damals überhand nehmenden Verdrängung der bisher in Hamburg bestandenen naturgemäßeren Tagesordnung durch eine andere, bei welcher man die Nacht zum Tage, den Tag zur Nacht machen wollte. „Man möchte“, so sagte er, „lieber ein Stückchen Religion missen als die Ordnung“. Seine stille, sinnige Hausfrau, die Tochter des Matthias Claudius, welche lauschend unter den Männern saß, fiel ihm ins Wort und fragte: „Nun, lieber Perthes, sag' mal, welch' Stück unserer Religion möchtest du dran geben?“ Schweigend und wie beschämt nickte ihr Perthes Beifall zu; die Klage über die Veränderung der altgewohnten Ordnung war verstummt und es war hier, wo uns Alles an den teuren Wandsbecker Boten erinnerte, wo mir Perthes sein neben der Wohnstube gelegenes Zimmer und darin sein Bette gezeigt hatte, nur von diesem lieben Vater die Rede, von der kindlichen Einfalt und dem Gottesfrieden seines Wesens und Lebens von Jugend an, so wie von seinem in Hoffnung seligen Ende. War es uns doch zu Mute, als ob er bei uns säße, uns hörte und väterlich segnete.

*) Der Reisende aus Süddeutschland, der vielleicht hier nur Ebene zu finden meinte, wird durch den Anblick der Bergedorfer Höhen angenehm überrascht, so wie durch die Anhöhen in der Nachbarschaft der Odermündungen im Barnimschen Kreise und noch mehr durch die wahrhaft ansehnlichen Schönberger Berge in der Nähe der Weichselmündung.

Meine Zeit war mir knapp zugemessen; schon am Osterheiligabend, den 10. April, musste ich von dem lieben Hamburg Abschied nehmen. Wie Vieles gab es schon damals und wie viel mehr dazu gibt es jetzt in der großen, deutschen Weltstadt, das mein Herz anzieht und fest hält. Dort, mein teurer Wichern in seinem segensreichen Werke; die treuen Zeugen und Bekenner, die sich in der Kirche und in den Schulen zu ihm gesellt haben; die edlen Männer und Frauen, (die S. und die J. wissen es, dass ihnen der Gruß ganz besonders gilt), welche durch Wort und Tat, mitten in der Weltstadt, Diener und Genossen eines Reiches sind, das nicht von der Welt ist. Segne euch Gott, ihr lieben Stillen und dennoch Lautzeugenden im Lande eurer Wallfahrt und Er gebe uns Allen eine selige Heimkehr.

Es war auch heute ein herrlicher Frühlingstag; die ersten Schwalben zogen munter über uns hin. Wir traten in Wandsbeck in das Wohnhaus des Matthias Claudius, zu seiner Wittwe, der ehrwürdigen Mutter Rebecka, hinein, reichten ihr in kindlicher Liebe und Ehrerbietung die Hand, — der seltenen Frau, einfach und lauter wie gediegenes Gold; kräftig fest so wie innig. Wir standen da in dem Zimmer, darin Claudius gewohnt, und seinen Wandsbecker Boten, so wie viele andere seiner segensreichen Bücher geschrieben hatte, setzten uns in den Großvaterstuhl, darin er nach der Arbeit zu ruhen und mit seinen Kindern und Enkeln sich zu vergnügen Pflegte, und schieden bewegt, mit einem Segen im Herzen, von dieser guten Stätte.

Da im Vorüberfluge an dem lieben, werten Holstein, das unser Weg an seinem Saume streifte, wandelte mich ein Gefühl an, wie das eines Liebenden, der bei Nacht und Nebel am Hause der Geliebten vorbei muss. Lebten doch schon damals im Lande gar Viele, zu denen mich ein Verlangen der Liebe hinzog, und später hat es noch Mehrere darin gegeben. Wir kamen am Abende nach Lübeck; hier wollten wir unseren Ostertag feiern.

Früh mit dem Tage waren wir am Ostermorgen auf und sahen die ehrwürdige Stadt, die mich viel mehr als Hamburg an mein liebes Nürnberg erinnerte. Welch' altertümlich prächtige Kirchen, welch' ehrenfest, stattlicher Bau der Häuser! Wird aber auch in einer dieser Kirchen, so fragte ich meinen Freund Zahn, ein Mann im Geiste von Harms oder des Merle d'Aubigny, oder meines alten Vater Schöner uns ein Wort sagen, das dem heutigen Festtage sich geziemt? Mag es wohl da einen Verkündiger der seligen Botschaft geben, der im Geiste mit Christo auferweckt und auferstanden ist? Ich lasse auf diese Frage den Freund Zahn selber antworten aus seinen schriftlichen Mitteilungen über unser Zusammenleben in Mecklenburg und über die damalige Reise.

„Die lutherische Kirche (in der Betäubung des Rationalismus ihrer Prediger), schlief damals (1819) in Lübeck. Was Harms für Kiel, das war der reformierte Pfarrer Johannes Geibel für Lübeck. Um ihn sammelten sich aus allen Ständen die zum Glauben erwachten Seelen, für deren höhere Kreise Oberdeck, der Vater des frommen Maler Oberdeck in Rom, der russische Konsul, Baron von Adercaß, der recht würdige Rechtsgelehrte Pauli, so wie für die Frauen eine Tochter von Claudius im Vereine mit Geibels Hausfrau, die zusammenhaltenden Mittelpunkte bildeten. Auch wir sammelten uns am Vormittage in der reformierten Kirche um den mit Geist und Kraft angetanen Johannes Geibel. Er legte da über 1. Kor. 15 in seiner tief und mächtig nach Wahrheit ringenden biblisch demonstrierenden Weise ein herrliches Bekenntnis ab.“

Der Wirt in unserem Gasthause, der sich auch zu Geibels Kirche hielt und uns manche Freundlichkeit erwies, zeigte uns das merkwürdige Innere der schönen, alten Kirchengebäude und manches Andere, das des Besehens wert war, lud uns dann ein, mit ihm am Nachmittage ein englisches Schiff zu besuchen, das auf der Rhede von Travemünde vor Anker lag. Wir folgten dieser Einladung gern, fuhren in einem Nachen hinüber nach dem ziemlich tief im Wasser gehenden und deshalb etwas fern von der Küste vor Anker liegenden Schiffe. Der Kapitän desselben war ein vieljähriger, naher Bekannter unseres Wirtes; wir fanden bei ihm die freundlichste Aufnahme, freuten uns an der großen Sauberkeit, Ordnung und sonntäglichen Stimmung, die auf dem Schiffe herrschte, wurden von dem Kapitän in seiner schön ausgestatteten, wohl eingerichteten Kajüte in seemännischer Weise mit starkem englischem Biere, Schiffszwieback und Käse reichlich bewirtet und kehrten vergnügt am Abende nach der Stadt zurück.

Hier führte uns eine Einladung näher als dies am Vormittag nach seiner Predigt geschehen, mit Geibel zusammen, diesem treuen Haushalter im Hause Gottes, das er aus den lebendigen Steinen seiner Gemeinde, seinem Herrn zu Ehren in Lübeck erbaut hatte. Es waren da wieder mehrere dieser lebendigen Bausteine um ihn versammelt; außer dem Baron Adercaß, welcher den Wirt machte, der mir teuer werte Pauli, eine Frau von Platzmann, so wie die edle Claudiustochter aus Wandsbeck. Auch mein Freund Zahn war mit zu der Gesellschaft geladen, von welcher ich hier, weil mich die sichere Erinnerung daran verlassen, nicht alle Namen nennen konnte. Einer aber der Gäste mit Namen, Gestalt und ganzem Wesen, ist mir so fest in der Erinnerung geblieben, dass ich, wenn ich ein Maler wäre, sein leibliches Bild malen wollte, so wie ich dies an einem anderen Orte mit seinem geistigen zu thun gedenke. Dieses war der höchst originelle Johannes Menge, seiner wissenschaftlichen Profession nach Mineraloge, dabei nicht nur ein Jünger, sondern ein Meister in der Erkenntnis göttlicher Dinge; der ganzen Tat seines Lebens nach, wie Zahn mit Recht von ihm sagt: ein glaubensstarker, inniger Christ. Dieser wunderseltsam geartete Mensch, dem der geniale Geibel, wenn er ihm zuweilen auf seinen kühnen Phantasieflügen nicht folgen konnte oder wollte, in scherzhaftem Unmute zurief: „du bist ein geistiges Ungeheuer“, konnte es nicht lassen, jene Flüge durch „Sonne, Mond und Sterne, ja zu den Thronen der Mächte der Geisterwelt“, schon im Voraus, bei Leibesleben, statt mit den Flügeln des Geistes, die ihm noch nicht gewachsen waren, in den Bewegungen der Hände und Füße zu antizipieren. Er wird wohl jetzt noch, als „Vater Menge“ allen dort lebenden Deutschen bekannt, auf Australiens Kontinent umherwandeln, wohin er vor mehreren Jahren, um auch dieses fünfte Rad am Wagen der Erdteile zu sehen, geschifft ist. Damals stand er so eben im Begriffe, nach Island zu reisen, um daselbst der vulkanischen Gestaltung der Felsenberge und Jökuls nachzuspüren. Seine originellen Ansichten, die er zunächst nur aus jenem Lichte gewonnen, welches ihm das tägliche Forschen in der Bibel über sein eigenes Wesen, so wie über die Natur der sichtbaren Dinge, und selbst des Steinreiches gegeben: Ansichten, mit denen er das All der geschaffenen leiblichen wie geistigen Weiten zu umfassen strebte, würden wohl den meisten Lesern dieses Buches nicht nur neu, sondern unverständlich sein. Ich hoffe sie jedoch durch die Züge aus der Lebensgeschichte des merkwürdigen Mannes, die ich noch anderswo mitzuteilen gedenke, Vielen verständlich zu machen.

Hätten an diesem Abende Geibel und abwechselnd mit ihm Menge das Wort geführt, dann wäre dieses für mich und die anderen Gäste gar wohlgetan gewesen. Geibel aber war nicht nur nach oben hin ein Diener des Wortes, dessen Weihe und Salbung er in reichem Maße empfangen hatte, sondern auch zugleich ein Selbstherrscher des eigenen Wortes; dieses, wie das Tönen der Memnonssäule, wurde bei solcher Gelegenheit, wie die heutige war, nur laut, wenn mit dem Strahle der aufgehenden Sonne der Wind von Osten her ihn anrührte. Bei Menge dagegen verlief sich die gehaltvolle Rede wie eine schüchterne Herde, die ohne Hirten zerstreut war, bald wieder in das Dickicht, das sie verbarg. So kam es, dass ich vor den Anderen das Wort führte, sei es nun, dass ich von außen oder von innen, durch den Drang der lieben Eitelkeit dazu verführt war. Ich weiß nicht mehr, was ich Alles gesagt, aber ein dunkles Gefühl, das bei der Erinnerung an jenen Abend geblieben ist, lässt mich vermuten, dass meine, wenn auch gutgemeinten Erzählungen und Gespräche eines solchen Kreises der Zuhörer nicht würdig waren. Doch die lieben Mitgenossen jenes Abends, welche noch leben, haben wohl, so wie ich, des Gespräches vergessen, haben aber, so wie ich sie, den Sprecher in freundlichem Andenken behalten.

War mir es doch auf der Heimreise von Lübeck nach Ludwigslust, als sollte sich mir das gute Mecklenburg zum Abschiede noch einmal in seiner anmutigsten Gestalt und Geberde zeigen. Wir machten uns am zweiten Ostertage frühe auf den Weg, der uns an den schön gelegenen Landseen bei Ratzeburg vorbeiführte. Selbst der dürre Sand hatte sich mit einem Gewande angetan, das wie von Gold durchwirkt war, denn allenthalben prangte da das niedrige Gesträuch des europäischen Hecksamens (Ulex europaeus) mit seinen großen, goldgelben Blüten, und der ungewöhnlich zeitige Frühling hatte mit den Lerchen und Finken zugleich auch andere Singvögel zur Vorfeier der Maientage herbeigezogen.

Ein bleibender Gewinn meiner ganzen damaligen Reise ist mir das vertrauliche Zusammensein mit meinem teuren jungen Freunde A. Zahn gewesen. Ich habe von der neuen Richtung, welche dieser liebe Jüngling in Mecklenburg genommen, schon oben (S. 165) gesprochen. Er hatte, wie er sich später darüber schriftlich aussprach, für die große Frage, welche um jene Zeit wieder mächtig laut wurde: „Was dünket euch von Christo, wes Sohn ist er?“ die rechte, sichere Antwort in seinem Inneren gefunden, hatte erkannt, dass der Mittelpunkt der falschen Lehren des Rationalismus, dem er vorhin zugetan gewesen, die Verkennung Christi in seiner göttlichen Natur sei. Vor Allem zwar das lautere Wort der Offenbarung selber, darin er jetzt eifrig forschte und las, daneben aber auch manches gute Wort, das er von Menschen hörte oder in ihren Schriften fand, bekräftigte und entwickelte in ihm den Keim der neugewonnenen Erkenntnis. „Aber“ (so fährt er fort) fast keine Schrift hat mich mehr gefördert in der Erkenntnis Christi als das liebe Buch von J. M. Sailer „Fennebergs Leben“ namentlich in der Stelle von S. 107— 133, wo in dem fingierten Gespräche zwischen Fenelon und Fenneberg von Christo dem lebendigen Gotte die Rede ist. Die Worte Jes. 14 V. 9: Philippe, wer mich sieht, der sieht den Vater, schlugen wie ein Blitz in mein Inneres.“ Seit dieser Zeit ward ihm die Bibel so ganz und gar das Wort des lebendigen Gottes und ist ihm kein Zweifel mehr darüber gekommen. Und dennoch fehlte ihm bei all' dieser Erkenntnis Christi die Einsicht in das Kleinod der Lehre der evangelischen Kirche: die Rechtfertigung des Sünders vor Gott durch den Glauben. „Einer ziemlich vorherrschenden Richtung der Erweckten jener Zeit war die Lehre verschlossen geblieben, dass Rom. 7 von den Wiedergeborenen handle, wie das längst vor Luther und Calvin der Vater der Kirche Augustin klar aussprach und für unsere Zeit Dr. Kohlbrügge der Holländer in seiner Paraphrase so tief in des Augustin Sinne erfasste. Man ging häufig den mystischen Weg, welcher den alten Menschen heilig sprechen will, indem er ihn immer als mit Christo begraben ansieht.“

Das waren uns recht vergnügliche Abschiedsstunden, als wir so ungestört und aus treuem Herzen uns noch einmal gegenseitig gaben, was wir hatten und Das betrachteten und erwogen, was uns früher gefehlt und auch jetzt noch abging. Wir saßen beide noch auf den Schulbänken der ewigen Weisheit, um das rechte Aufmerken aufs Wort zu lernen und wollen auch jetzt noch, wo uns das Aufmerken nicht mehr so schwer ankommt, gern darauf sitzen bleiben, um dasselbe immer besser zu lernen. Noch einmal, nach meinem Abgange aus Mecklenburg, hat mich mein lieber Zahn, damals aus Pommern, besucht und ein längeres, bleibendes Wiederfinden ist uns ja beiden gewiss.

Fast nur noch wie ein vorüberreisender Fremdling — denn unser ganzes, zum Haushalt gehöriges Eigentum war uns schon voraus, den Weg nach Süden gegangen — kamen wir nach dem lieben Ludwigslust zurück, wohin ich meine Leser auch zum Abschiede mit mir nehme.