Die Insel Rügen

Wer etwas Besseres, ja das Beste, was über die Insel Rügen gesagt werden kann, lesen will, dem empfehle ich N. H. Riehls meisterhafte Schrift: Land und Leute (2. Aufl. S. 145 u. f.). Mir aber möge man hier auch diese Lustfahrt meiner Erinnerungen nachsehen, an die sich in meinem späteren Leben ein merkwürdiges gesegnetes Ereignis angeschlossen hat.

Ich habe es schon bei mehreren anderen Gelegenheiten gesagt, dass neben all' den Schönheiten und majestätischen Herrlichkeiten der Natur, welche ich auf meinen verschiedenen Reisen gesehen, die Insel Rügen, mit den Reizen ihrer Natur, in meiner Erinnerung fortwährend einen sehr hohen Rang behauptet hat. Und ich gedenke in dem nachstehenden Berichte über unsere kurze Wanderung durch das Heimatland anmutiger Sagen. Das in hinreichender Weise anzudeuten, was mich hier so ergötzt und angezogen hat.


Es war noch sehr früh am Morgen, als wir in Begleitung des Freundes Mohnike über den schmalen Meeresstrich hinüberfuhren nach Altenfähre. Der Freund hatte uns bis dahin begleitet; Amtsgeschäfte nötigten ihn zur Umkehr nach der Stadt. In Garz, so riet er uns, sollten wir ein Fuhrwerk nehmen, denn die Fußreise bis Sagard sei für meine Frau in einem Tage zu weit.

Ich weiß nicht, hatte der Moritz Arndt mir es angetan, oder lag es in einer besonderen Stimmung der Luft und der Herzen, uns wurde es Beiden gleich in der ersten Stunde unserer Fußwanderung so „frisch, fromm und frei“ zu Mute, wie es uns seit einer kleinen Fußreise, die wir am Tage unserer Verlobung mit einander gemacht hatten, kaum jemals sonst geworden war. Wir kamen nach Garz; hier war uns das beste, bequemste Fuhrwerk zur Weiterreise nach Sagard genannt und empfohlen worden, meine liebe Hausfrau wollte jedoch vom Fahren nichts wissen, ihr gefiel das Fußgehen an meiner Seite, das Stillestehen bei jeder Aussicht nach dem Meere, das Hineinschauen in den Haushalt der Dorfbewohner besser, als das schnelle Vorbeifahren an Allem. „Ein Weg von etwa 10 bis 12 Stunden an einem so schönen Tage und in so schönem Lande sei ja für mich und für sie kein ungewohntes Meister- oder Wagstück. Und die Meilen, nach denen man uns den Weg berechnet habe, schienen ihr keine alten deutschen Meilen, von denen nur 12 auf einen Grad gingen, sondern sehr junge zu sein. Ich stimmte ihrem Wunsche mit Vergnügen bei, denn der Mensch sieht und genießt alle Dinge, die ihm begegnen, am besten, wenn er auf seinen eigenen Füßen steht.

Wir hatten in Garz ein leichtes Frühstück genossen und zum Teil mit uns genommen; es mag Mittag gewesen sein, als wir nach dem herrlich gelegenen Putbus kamen*).

*) Schon auf dem Wege hierher hatten wir die Aussicht genossen von Garz gegen Süden auf dem fruchtbaren Landhaken des Sudar und auf die Bucht, in deren Nähe der Geburtsort Arndts, Schoritz lag; näher gegen Putbus ergötzte uns die nahe Aussicht auf die naturherrliche Halbinsel Mönchgut, die ihre Landzungen wie ein riesenhafter Polyp seine Arme herausstreckt ins Meer. Dort sind es nicht allein die meist bewaldeten Hügel mit ihren Talschluchten, und kleinen Bächen, so wie die riesenhaften Wanderblöcke an der östlichen Küste bei Göhren, sondern auch das Volk, was den Reisenden anziehen kann. Denn dieses meist kräftig schöne Volk, das wie die homerischen Phäaken abgeschieden selbst von den Nachbarn in friedlicher Vergnügtheit lebt, die Männer als Lotsen und Fischer auf dem Meere, die Frauen am Webstuhl beschäftigt, hält sich in Tracht und Sitte noch treu an das Vorbild früherer Jahrhunderte.

Obgleich der mit Recht hochgepriesene Bade - und Lustort Putbus, als wir im Jahre 1816 ihn besuchten, noch nicht zu der prächtigen Ausstattung gekommen war, die er in späterer Zeit durch den Fleiß und die Kunst der Menschenhand empfangen hat, so ist er dennoch schon damals eine Lust der Augen gewesen. Wie schön und stattlich erschien uns das Schloss mit der ehrwürdigen alten Kapelle, wie einladend zum Ausruhen und längeren Verweilen die Gärten und schattigen Baumanlagen in seiner Nähe. Sie mögen jetzt noch viel schöner geworden sein, uns vergnügte aber schon Das, was wir sahen, im vollsten Maße.

In der Nähe eines Rinnwassers auf einem beschatteten Ruhesitze genossen wir den zweiten Teil unseres Frühstückes und ich machte auf einer Landkarte, die ich schon von Nürnberg mit mir genommen, den Weg mit den Augen voraus, den wir in der zweiten Hälfte des Tages mit den Füßen zurücklegen sollten. Auf meiner Karte waren weder Hügel, noch Sand und Heide, nur die Ortschaften mit ihren Namen angedeutet, und die schmale Heide, über welche der Weg nach Jasmund führt, so wie noch mehr die andere Landenge zwischen Jasmund und Wittow, erschienen noch mehr verschmälert, als sie dieses nach dem wahren Maßstabe der Karte hätten sein sollen. Mich erfreute jedoch die Hoffnung auf den nahen Anblick dieser langen Naturbrücken unbeschreiblich. Ist mir doch, so dachte ich, die Aussicht von der Dresdener Brücke hinaufwärts und hinabwärts den Elbstrom so entzückend schön vorgekommen, was wird mir erst die von den beiden fast stundenlangen Hochdämmen sein, welche nicht die Menschenkunst, sondern die Natur über das Meer hinüber gelegt hat. So zu beiden Seiten, nahe unter den Füßen das anbrandende, rauschende Meer; auf seinen Wogen vielleicht Schiffe oder doch Kähne der Fischer!“ — Meine liebe Hausfrau, bei ihrer damals noch sehr lebhaften Furcht vor den großen Wassern, stimmte nicht in die Freude, meiner Erwartungen ein. Der Weg, wie ihr auf der Karte schien, wäre so schmal, dass, wenn er auf einem Felsrücken hinginge, vielleicht kaum zwei Wagen ohne Gefahr des Hinabsturzes ins Meer sich ausweichen könnten, und zöge er unten am Saume des rinnenartigen Landstreifens sich hin, dann sei man auf keinem Schritte sicher davor, ob nicht eine heranschlagende Woge dem Gehen für immer ein Ende mache. Aber es blieb der sonst so frischen und mutigen Wandrerin keine andere Wahl, als die zwischen einer Überfahrt auf dem Meere nach Jasmund oder das Gehen auf dem Fußwege über die schmale Heide, und ihr schien der letztere noch immer der am wenigsten bedenkliche und gefährliche.

Wie es uns jedoch auf dem langen Wege durch das Leben so oft geschieht, so erging es uns auch auf dem kurzen Wege über die schmale Heide. Sowohl meine glänzend schönen Erwartungen von der reizenden, langdauernden Aussicht nach dem nahe unter den Füßen brandenden Meere, als die Furcht meiner Begleiterin waren nur wie die Bilder einer Luftspiegelung gewesen, welche, wenn man der Gegend näher kommt, aus der sie aufstiegen, sich allmählich auflösen und verschwinden. Wir wanderten rüstig weiter. Der Weg von Putbus aus gewährte zuerst zu seiner Linken eine unerfreuliche Aussicht auf den moorigen Torfgrund der Garwitz, doch lohnte sich's schon hier, hinüber zu schauen zur Rechten auf die grünen, waldigen Hügel gegen den kleinen Schmachternsee hin. Dann gegen den Anfang der schmalen Heide hin traten wir aus einem Wäldchen, darin wir an den reifen, süßlichen Früchten der Alpen-Johannisbeere den Durst gestillt und im Schatten der Bäume uns abgekühlt hatten, hinaus auf einen Hügelabhang, von welchem wir die freie Aussicht gegen Westen hin auf die nahe Meeresbucht, nach Norden auf die schmale Haide hatten, die uns jedoch nicht mehr, wie meine Frau gemeint hatte, als ein schmaler Riemen erschien, oder als ein weit hinlaufender, ebener Hügelsattel, wie ich sie mir gedacht, sondern als ein ansehnlich breiter, flacher Damm, darauf nur hin und wieder eine Hütte oder ein Baum sich sehen ließ. Nun, es gab dennoch auch beim Weitergehen manche Unterhaltung für die Augen; statt der Pferde- und Rinderzucht doch eine Bienenzucht, dergleichen ich noch nie gesehen, welche die Insel Rügen zu einem Lande des besten, klar und hell fließenden Honigs macht; eines Honigs, dem an Geschmack nur selten ein anderer, den ich sonstwo versucht, gleichkommt, erinnernd an die Trefflichkeit des Methes, der den Göttern und Helden des alten, skandinavischen Nordens ein hochgepriesener Freudentrank war. Nur an wenigen Stellen sahen wir das Meer; an der einen derselben die kleine Insel Pulitz, deren Granitblöcke ich mir gern in der Nähe betrachtet hätte. Die Sonne stand schon tief im Westen, als wir auf dem bunten Teppich des Heidebodens die letzte Streckt durchwanderten, und die Halbinsel Jasmund mit ihrem waldigen Berglande im Osten, mit den flacheren Ebenen im Westen vor uns sahen. Die blauliche Färbung, in welcher am Abende die höhere Ostseite dastand, konnte allerdings an den Beinamen Jasmunds: das Blauland erinnern.

Es war dunkel geworden; der Mond spiegelte sich vor uns zur Rechten und zur Linken auf dem Wasser; der gebahnte Weg, auf dem wir gingen, schien meiner sorglichen Begleiterin zu Ende zu sein. Ich suchte sie zu beruhigen; der Steig war festgetreten und gebahnt; er musste zu einer Ortschaft oder wenigstens zu einem Hause führen. Ich wollte vorausgehen und weitere Kundschaft einziehen; die ängstliche Frau ließ mich nicht allein, sie blieb bei mir, und bald zeigte sich, dass hier die Wasserfläche durch einen festen Zwischenboden getrennt war, auf dem wir ohne Bedenken weiter gingen und in kurzer Zeit, wenn ich nicht irre, in eine Baumallee kamen. Wir waren bei dem Hofe Wostewitz und das vom Monde beleuchtete Wasser, das meine treue Wandergenossin erschreckt hatte, waren die Wostewitzer Teiche, von deren Fischen wir noch am heutigen Abende in Sagard ein gutes Gericht bekamen. Ich fragte an dem Hofe, wie lang der Weg noch nach Sagard sei und ob auch nicht zu verfehlen? Die Antwort war vollkommen beruhigend und tröstlich, und ein Mann aus dem Hause kündigte uns an, dass er uns bis Sagard ins Wirtshaus begleiten werde, denn er gedenke Fische dahin zu bringen.

Endlich, ich meine, es war schon nahe an 8 Uhr des Abends, waren wir im Wirtshause zur Krone am Ziele des heutigen Tagmarsches. Die Hausfrau, wie sie mich versicherte, hatte selbst in den letzten Stunden der Wanderung keine sonderliche Ermüdung, wohl aber ihre gewöhnliche sonderbare Furcht vor dem Wasser gefühlt. Doch tat ihr das Ausruhen auf dem kleinen Sopha, dahin man uns das gastfreundliche Tischchen gestellt hatte, sehr wohl, und das trefflich bereitete Abendessen, bei welchem wir namentlich die nähere Bekanntschaft von mehreren Arten der auf und neben der Insel einheimischen, besten Fische machten, war uns auch eine erwünschte Labung nach dem guten Tagmarsche. Ich setzte mich nach dem Essen noch ein wenig an den großen Tisch im Wirtszimmer, daran Leute aus dem Orte und aus verschiedenen Gegenden der Insel saßen. Mehrere davon waren wackere, vielgeübte Seemänner, die als Lotsen fremde Schiffe oder als Steuermänner und selbst als Kapitäne eigene Schiffe geführt hatten. Es wurde meist nur plattdeutsch gesprochen, doch war dieses meinem Ohre nicht ganz fremdartig, und bald nahm auch das Gespräch eine Wendung, der ich gern mit Aufmerksamkeit folgte. Einer der Anwesenden erzählte von dem Pfarrer Baier in Altenkirchen. Das ist, sagte er, der musikalischste Mann auf der ganzen Insel, ja vielleicht im ganzen Pommerlande. Ich weiß gar nicht, wie viele Instrumente er spielen kann, und einen so schönen Gesang habe ich noch von keinem Menschen gehört. Der dieses erzählte, schien mir ein Schullehrer zu sein. Ich fragte ihn noch Manches über den Pfarrer Baier, an den ich von Freund Mohnike einen Brief abzugeben hatte, und was ich da hörte, obwohl es nicht sehr tief einging, das gefiel mir wohl, ohne dass ich wusste, welcher Segen aus dem Hause des Pfarrers Baier, etwa 6 Jahre nachher, in mein Halls kommen sollte.

Wir hatten uns schon auf eine frühe Morgenstunde des anderen Tages einen Führer bestellt, der uns nach Stubbenkammer und an den Hertha- oder Borgsee begleiten sollte. Der Mann war eher bei der Hand als wir; der sanfte, stärkende Schlaf hatte uns länger als gewöhnlich im Lager gehalten. Dennoch war die Sonne erst im Aufgehen, als wir unseren Taglauf begonnen. Wäre hier der Ort dazu, ich könnte und würde viel von der Augen- und Herzenslust dieses Tages berichten. Einiges aber muss ich dennoch meinen Lesern mitteilen, weil die Anschauungen, die ich dort in Stubbenkammer und seiner Nachbarschaft von den großen Werken, meines Gottes mit mir nahm, einen nicht unbedeutenden Anteil jener Belehrungen bildeten, die ich in der Schule der Natur selber, nicht aus der Weisheit der Gassen und aus Büchern empfing.

Wir durften schon sehr dankbar und froh darüber sein, dass der Himmel nicht so, wie er von den Reisenden auf Rügen öfters sich finden lässt, getrübt und umwölkt, sondern vollkommen klar und heiter, die Luft warm und dabei von dem Herbstwinde lieblich gekühlt war. Noch für etwas Anderes bin ich aber in der Erinnerung ganz besonders dankbar, das war die Stille, die, als wir ihn betraten, so eben in dem hehren Naturtempel der Kreidefelsen herrschte. Damals gab es noch kein Logierhaus auf Stubbenkammer; der Königsstuhl stand noch in seiner wilden Naturschönheit und ungebrochenen Kraft da; wir waren die einzigen Feiernden im Tempel, ungestört von Anderen, denn unser Führer stand still und schweigend uns zur Seite. Dort bei dem Hinausblicke auf das Meer, der nirgends Ende noch Grenzen fand, erwachte das innere Lied, von welchem ich oben (S. 102) sprach, noch als ein viel höherer, gewaltigerer Chorgesang in mir, als am Ufer bei Doberan; die Wogen glänzten im Strahle der Sonne heller als dort; der frische Ostwind regte das Gewässer des Meeres so mächtig auf, als ich bis dahin noch nie gesehen, und kündigte damit, wie der Führer sagte, eben so wie der Flug der Möwen, einen nahenden Sturm an; in unserem Innern aber war kein Sturm, sondern tiefe Stille und Freude. Wir schauten da auf der Höhe bei dem Königsstuhle, nicht, wie man erzählt, der König Karl der Zwölfte von Schweden einer Seeschlacht mit den Dänen zu, sondern den mächtigen Taten eines Herrn, in dessen Reich ein ewiger Frieden herrscht, auch dann ungestört, wenn im Reiche der unteren Elemente und der Menschenwelt der heftigste Kampf tobt. Auch verlangte uns nicht nach dem Schatze, den die Seeräuber Gödeke (Gottfried) und Klaus Störtebeck [Störtebeker], vor länger denn vierhundert Jahren, unten in eine Kluft der unersteiglichen Felswand im Steinschutt verbargen; nicht nach dem Anblicke der gespenstigen Jungfrau, die in fürstlichem Gewande, mit dem aufgelösten Haare, den Mienen einer tief Trauernden, ein blutiges Tuch waschend, zu seltener Stunde einem lebenden Auge erscheint, und den, welcher durch die geheime Kraft eines frommen Grußes sie erlöst, zum Besitzer des Schatzes macht. Uns war der Besitz eines besseren Schatzes urkundlich fest zugesichert, als alle Schätze der dichtenden Volkssage sind.

Ist doch nicht allein das Gewebe der Volkssagen, das diese majestätisch schönen Küstenwände überkleidet, von vergänglichem Wesen, das allmählich in der Vergessenheit des späteren Geschlechtes sich auflöst, sondern selbst die mächtigen Pfeiler, die dort neben dem Felsenthrone sich erheben, müssen, wie die ganze Kreidewand zu ihren Seiten einer immer weiter gehenden Auflösung unterliegen. Dort auf dem einen Pfeiler hatte noch in der Jugendzeit der nachbarlich wohnenden Greife ein Seeadler seinen Horst, jetzt fände da ein solcher Bau, selbst im verkleinertsten Maßstabe, keinen Raum und keine Sicherheit mehr. Unten am Strande spült das anbrandende Meer die weiche Kreide hinweg und arbeitet dem Einsturze der Wände vor; nach oben hin treiben der Regen, der tauende Schnee, selbst der feuchtende Nebel, wenn auch in langsamem Verlaufe, dasselbe Werk der Zerstörung. Aber so augenfällig auch der Fortgang dieser Zerstörungen ist, erscheint er dennoch nur als ein schwacher Nachhall jener uralten Kämpfe der Elemente, welche dem jetzigen ruhigeren Bestande der Erdfläche vorangingen. Wie die Regenfluten und Überschwemmungen der Neuzeit gegen eine allgemeine Flut der Erde, wie das Hinabrollen einzelner Trümmer des Kreidefelsens, dessen Grundlage das Meer auswusch, dessen Gefüge der Regen auflöste, zu der Wirkung eines Erdbebens, das die Höhen zur Tiefe stürzt, die Tiefen zur Höhe hebt, so verhalten sich die Schrecknisse, welche vormals den Kräften der Tiefe entstiegen, zu den verheerenden Ungewittern und Erschütterungen der oberen Erdfläche und ihres Luftkreises, in dem jetzigen Äon des Regenbogens. Doch sie sind nur gebunden, die Riesenkräfte der Tiefe, nicht erstorben. Mehr noch als an den Kreidefelsen von Stubbenkammer lässt sich an denen bei Arkona erkennen, dass die lehmige, bröcklige Sandsteinmasse, die zwischen den senkrecht stehenden Kreide-Wänden sich findet, nicht durch spätere Einfüllung, sondern gleichzeitig mit der Kreide entstanden sei. Denn die Feuersteinlagen durchsetzen in fortlaufend horizontaler Richtung die Kreide wie die lehmige Sandmasse (m. v. Brückner a. a. O. S. 126).

Auch die Aussicht nach Arkona hinüber zog den Blick und die Gedanken mächtig an; unten am Meeresufer, nach welchem ein bequemer Fußsteig zwischen der großen und kleinen Stubbenkammer hinabführt, konnte man das Gefüge der Kreidefelsen und ihre Zerklüftungen deutlicher sehen. Mir wurde es da begreiflich, wie ein gemeinsamer Freund von mir und dem Landschaftsmaler Friedrich (m. v. II, S. 182), der treffliche Münzmeister Kummer aus Dresden, als er mit Friedrich auf Rügen war, hier hinanklimmend, gar bald an eine Stelle kommen musste, an welcher er, wie einst der gute Kaiser Maximilian I. auf dem Berge bei Zierl weder vor- noch rückwärts konnte, ohne in die Gefahr des Hinabsturzes zu geraten. Und die Lage des guten Kummer, als er auf scheinbar gefahrloserem Wege über den Schutt hinauf, unversehens an seinen Haltpunkt kam, war noch ungleich beschwerlicher, als die des Kaisers, denn es gab keine Grotte für ihn, keine feste, breitere Platte, auf der sein Fuß ruhen konnte, sondern er musste mit den Armen und Händen an den Felsenzacken sich halten, unbequemer als Odysseus an den Zweigen des Baumes, der den Schlund der Charybdis beschattete, bis ihn als guter Engel sein Freund Friedrich aus der Gefahr errettete, was er auch nicht allein, sondern nur mit Hilfe der Knechte, vermochte, die er aus einem nachbarlichen und dennoch ziemlich abgelegenen Bauernhofe herbeirief. Friedrich war, während sein unerfahrener Freund das Wagstück unternahm, an einem entfernteren Orte des Ufers mit seinen Zeichnungen beschäftigt gewesen, er kam erst gegen Abend, um den Gefährten zur Heimkehr nach Sagard abzurufen. Bis man dann für diesen und seinen starken Befreier Stufen zum sicheren Auftreten in die Kreide gehauen und er nun fast ohnmächtig dem Retter in die Arme sinken konnte, war es spät in der Nacht geworden. Und nicht Alle, welche das scheinbar leichte, und doch so gefahrvolle Hinaufklimmen an den Schluchten der Felsenpfeiler versucht haben, sind mit der Furcht und Angst einiger peinlichen Stunden, wie der Münzmeister, davon gekommen; Mehreren ist ein solcher Versuch der Gang zum Tode geworden.

Von Versteinerungen fanden wir nur wenige Reste von Seeigeln, die, in eine feste Feuersteinmasse verwandelt, mitten in der weichen Kreide, seit ihren Jahrtausenden sich erhalten haben.

Das Auge, geblendet von der Helle, welche die Sonne auf die Kreidefelsen ausstrahlte, sehnte sich nach einem Ausruhen im Schatten. Wo konnte man dieses aber in wohltuenderer Weise finden, als in dem Buchenhaine der Stubnitz und vor dem vielgepriesenen Herthasee (Borgsee)! Auch ohne das Feierkleid der Sage, in seinem einfachen Naturgewande, macht dieser kleine, stille See mit seiner Umgebung auf die äußeren und inneren Sinne einen Eindruck, der die Seele feierlich stimme. Draußen am Meere schlug der Sturmwind aus Nordost die Wogen so mächtig an das Ufer, dass der Schaum hoch an die Felsenwände hinanspritzte; am Saume des Waldes schüttelte er nicht nur die Früchte von den Buchen, sondern zerriss mit den alten zugleich auch manchen jungen Zweig und warf ihn zu Boden, da drinnen aber bei dem Herthasee rührte kein Lüftchen den Spiegel des dunkelbeschatteten Wassers an; wie über ein Grab in tiefem Felsenschachte, darein man den Leib eines alten Helden in seinem Waffenschmucke versenkte, damit keine fremde Hand an seinem Schwerte sich vergreife, zieht der Sturmwind hoch über den Burgfrieden der Hertha hin, ohne diesen zu stören; man hört sein Rauschen, sieht sein Bewegen in den Wipfeln der Bäume, welche auf dem oberen Rande des turmhohen Walles stehen, der den See umgürtet, man fühlt jedoch seinen Anhauch nicht. So liegt auch die uralte Geschichte der Taten und Tempelgebräuche, welche die Vorzeit der Völker dort im Burgfrieden des Bergwaldes verübt hat, wie im Dunkel eines tiefen Heldengrabes verborgen. Wir gedachten indes hier, wenn dies auch nicht seine wahre Stätte war, der Frühlingsfeier des Herthadienstes, wie Tacitus sie beschreibt; muss man doch öfters bei den Erinnerungen an ungleich bedeutungsvollere den Geist des Menschen näher, denn alle Sagen der Vorzeit angehenden, wahrhaften historischen Begebenheiten auf das sichere Erkennen des Ortes verzichten, an dem sie sich zutrugen, obgleich sie vor den Augen der noch jetzt fortbestehenden Völker eintraten.

An einer Stelle im Innern der sogenannten Herthaburg fand ich etwas, das für mich wenigstens ein Schatz war, eine Pflanze, die ich noch niemals in frischem Zustande gesehen: die Dingel-Faunblume (Satyrium Epigogium L. oder Limodorum Epigogium). Etwas Neues für meine Augen waren mir auch die sogenannten Steinkisten: Gräber aus kunstlos zusammengestellten Granitblöcken, deren nach innen gerichtete flache Seiten zwei lange und zwei kürzere Wände bilden, die zwischen sich einen ansehnlichen (8 Fuß langen und halb so breiten) Raum zum Hineinbetten eines mächtigen Heldenleibes mit seinem Waffengerät ließen. Sie waren oben mit Steinen der gleichen Art zugedeckt, doch sind diese Deckel in späterer Zeit meist hinweggenommen worden, und das seines Inhaltes beraubte Grab ist mit dem abgefallenen Laube der Buchen erfüllt.

Wir kamen lange nach Mittag in das Gasthaus von Sagard zurück, fanden aber dort ein reichliches Mittagsmahl für uns bereitet. Lieber als jeder Nachtisch waren mir heute die Erzählungen und Sagen, welche zur Unterhaltung für uns und andere Fremde von der gesprächigen Wirtin und einigen einheimischen Gästen in hochdeutscher Sprache mitgeteilt wurden. Wenn uns auch Manches von Dem, was wir da hörten: wie die Sage von der mächtigen, im Meere versunkenen Wendenstadt Vineta, wie die Übung des Strandrechtes aus Schriften, die wir gelesen, schon beannt war, nahm es sich dennoch hier im mündlichen Volksberichte ungleich lebendiger aus. Was die Sage anderwärts von Vineta berichtet, das trägt sie hier auf Arkona über. Einer der Lotsen, der drinnen in der Wirtsstube saß, und den die Wirtin als Zeugen aufrief, hatte, wie er sagte, das Läuten der Glocken in dem versunkenen Arcona [Arkona] an hohen Festtagen vom Meeresgrunde herauf mit eigenen Ohren gehört, bei stillem Wasser und hellem Himmel manche noch stehende Gebäude der Stadt gesehen; die Wirtin erzählte uns von den öfter hier vorkommenden Unglücksfällen der gestrandeten Schiffe, zeigte meiner Frau allerhand Waren, die sie in scheinbar halbverdorbenem Zustande wohlfeil von den Eigentümern solcher Schiffe gekauft und zum Teil wieder in guten Stand gesetzt hatte, fügte jedoch hinzu, dass sie lieber den noch lebenden Inhabern der gestrandeten Fahrzeuge etwas geben, als Gewinn von ihnen haben möge.

Ich weiß nicht, war es hier in Sagard oder war es an einem anderen Orte, wo ich die aus Schriften bekannte Beschreibung der Insel Hiddensee und der Anhänglichkeit seiner Bewohner an den heimatlichen Boden auch aus dem Munde des Volkes vernahm. Wir sollten am anderen Tage die merkwürdige Insel von Arkona aus sehen, darum ist es mir nicht unwahrscheinlich, dass schon hier in Sagard, so wie vielleicht auch bei dem Pfarrer Frank in Bobbin von ihr die Rede war. Wie paradiesisch schön, voll blumiger Auen, prächtiger Gärten und Wälder, reich an Quellen und allen Früchten des Landes mag sich der Fremdling, der aus weiter Ferne kommt, die Insel Hiddensee denken, wenn er hört, dass sie von ihren Bewohnern nur das „söte Länneken“ (das süße Ländchen) genannt und so sehnlich geliebt wird, dass manche der Bewohner, namentlich Frauen, sie niemals verlassen, und dass auch die auswärts im Meere auf Erwerb ausgehenden Männer diesen nur suchen, um seines Besitzes in der Ruhe ihres kleinen Eilandes sich zu erfreuen. Käme dann aber der Fremde, der dieses vernommen, mit seinen Erwartungen dahin in das süße Ländchen, was würde er finden? Wir wollen ihn sogleich an den namhaftesten Ort der Insel, nach Kloster, führen. Da findet er noch eine Mauer mit torähnlichem Durchgange von dem einst hier gestandenen Zisterzienserkloster, das im 30jährigen Kriege zerstört worden; ein Kirchlein, dabei etwa 6 Häuser, von 64 Menschen, alt und jung bewohnt. Wir gehen weiter mit ihm nach der nachbarlichen Ortschaft Grieben, da gibt es freilich 15 Häuser und gegen 90 Einwohner, und südostwärts steht die ansehnlichste Ortschaft der Insel: Vitte, mit 45 Häusern und 300 Einwohnern. So wie jedoch der Wanderer aus den Häusern und einigen dürftigen, kleinen Feldern dieser Ortschaften heraustritt, sieht er überall gegen Nord- und Nordwesten hin nur den nackten Boden des Höhendammes und die unfruchtbare, mit Sanddünen bedeckte Küste. Nicht einmal der große Dornbusch, der noch vor nicht langer Zeit zum Wahrzeichen der Schiffer diente, ist mehr vorhanden; einige verkrüppelte niedere Bäume zeigen noch die Stätte an, wo vor dem 30jährigen Kriege ein Wald stand, den damals die Kaiserlichen fast ganz, seinen Rest aber die Dänen im nordischen Kriege zerstörten. Und armseliger noch ist der südlichste Teil der Insel: der sogenannte Gellen, auf welchem zwar in alter Zeit eine dem heiligen Nicolaus geweihte Kirche stand, dessen sandiger Boden aber so unwirtlich ist, dass auf ihm keine bleibende Wohnstätte der Menschen, sondern etwa nur Bretterhütten für die Heringsfischer gefunden werden, welche hier ihre Netze ausspannen. Vor Jahrhunderten stand da an der Südspitze ein Leuchtturm. Allerdings zeigen sich dann wieder hinanwärts gegen die Mitte der Insel an der Westküste zwei Ortschaften nahe bei einander: die Fischerdörfer Neuendorf mit 15 Häusern und 88 Leuten und Plagshagen mit 22 Häusern und 128 Bewohnern, auch gibt es noch auf der Fährinsel an der Ostseite in den 3 Häusern der Fährmänner gegen 20 Personen und im Posthause, wo der Grenzwächter wohnt, etwa eben so viele, so dass die ganze Insel zusammen wohl eben so viele Bewohner hat, als manches unserer mittelgroßen Kirchdörfer (über 700). Und was fehlt den genügsamen Bewohnern des süßen Ländchens zu ihrem Glücke und Wohlbehagen? Freilich der Schatz des Bernsteines, den die tausendjährigen Sturmfluten hier aufgehäuft und mit dem Sande zugedeckt hatten, ist längst gehoben, und der nachkommende Rest ist ein unter strenge Hut gestelltes Eigentum der Regierung. Dem guten Volke der Insel bleibt aber ein anderes unbeschränktes und ungekränktes Eigentum. Haben sie auch nicht Herden von Vieh, so nähren sie doch einzelne Ziegen und nicht bloß einzelne Herden, sondern unzählbare Heere von Häringen [Heringen) gehen im Wasser, in der Nähe ihrer Küste auf die Weide und sind, sobald sie zur günstigen Zeit auf den Fang ausgehen, ihr Eigentum. Zu dem Gerichte dieses Schlachtviehes kommen die vielen Arten der anderen im nachbarlichen Meere einheimischen Fische, der Krebse u. a.; von den Äckern ein Beigericht von Kartoffeln, auch wohl so viel Mehl als zum Backwerke bei festlichen Gelegenheiten gehört; statt der anderen süßen Früchte finden die Kinder die Brombeeren, die sie, ohne hoch zu steigen, für sich erbeuten können. In demselben Festgewande, darin die Großmutter an ihrem Hochzeittage prangte, geht die Enkelin, ja die Urenkelin zum Traualtare; den Bedarf der anderen Kleider für Alt und Jung schaffen die webenden Hände der Frauen herbei, die den rohen Bedarf ihres Werkes von Rügen her sich verschaffen; die Netze und anderen Fischergeräte fertigen die Männer. — Ja, du glückliches, einsam wohnendes Volk, was fehlt dir in deinem süßen Ländchen, wenn du Gottes reines, lauteres Wort in Kirche und Schule, in deinem Hause und Herzen hast, wollte ich doch selber gerne, wenn es in Gesellschaft meiner Kinder, Enkel und Urenkel und mit einigen gleichgesinnten Freunden geschehen könnte, in dir wohnen und auf deinem Kirchhofe begraben werden, ohne mich je nach dem Getümmel der Stadt, nach dem geselligen Treiben der jetzigen Zeit wieder hinaus zu sehnen.

Schon in den späteren Stunden des Nachmittags war der Sturm, dessen erste, ungestüme Angriffe wie schon vor Mittag an der Küste bei Stubbenkammer und im Buchenwalde der Stubnitz empfanden, noch heftiger geworden; er hielt in gleicher Stärke an bis gegen Morgen, wo er sich allmählich zur Ruhe legte. Dennoch war der Himmel klar und heiter; die Sonne trat hell über den Wald herauf. Der große wohlerhaltene Opferstein bei Quoltiz war allerdings des Besehens werth, und er lag nicht fern von unserem Wege nach Arkona ab. Wir ließen uns dahin führen und verweilten hier, wie bei dem lieben Pfarrer Frank in Bobbin, einige Stunden. Dort auf den Anhöhen um Quoltiz ist ein ganzes Todtenfeld der Steingräber aus der alten Heidenzeit; es ist seit alter und ältester Zeit ein tiefes, unabweisbares Bedürfnis der Menschenseele gewesen, den ernsten Gedanken des Todes mit dem der Ewigkeit und einer reinigenden Weihe am Opferaltare zu verbinden. Der teure Pfarrer Frank, der lebensvolle Nachbar des alten Feldes der Todten hatte die reinigende Weihe, deren Schatten und Vorbild schon der ältesten Heidenzeit nicht unbekannt geblieben, an einem anderen Altare empfangen als jene Opfersteine waren, deren größten wir bei Quoltitz gesehen. Es war mir wohl und heimatlich bei dem lieben Manne zu Mute, bei welchem Geist und Herz die gleiche Richtung nach dem ewigen Osten hatten, in welchem die Heimat liegt. Seiner gastlichen Einladung, bei ihm einen Tag zu bleiben, konnten wir nicht folgen; wir sahen ihn noch am anderen Vormittage in Altenkirchen, bei seinem Schwager Baier. Der Weg über die Landenge der Schabe, den wir zum Teil in Franks Gesellschaft machten, war heute für mich von besonderem Reize. Das Meer ging noch immer hoch, wir hatten es nahe zu unserer Seite und vor unseren Augen, und den Laut seines mächtigen Taktschlages in unseren Ohren. Auch meine Begleiterin hatte jetzt an der Nachbarschaft des Meeres eine ihr unerwartet neue Unterhaltung gefunden; sie sammelte an der steinigen Küste, was auf Rügen für Jeden erlaubt ist, kleine Bernsteinstücke, welche der Sturm der vergangenen Nacht auf den Strand geworfen oder durch Hinwegspülen des Sandes aufgedeckt hatte. Bei einem Fischerdorfe, nicht fern von Arkona (Vitte?), sahen wir ganze Reihen der köstlichsten Seefische, vor allen von Flundern (Pleuronectes flesus) zum Trocknen an der Luft hängen. Wir hielten hier, auf einer steinernen Bank sitzend, in der herrlichen Aussicht nach dem Meere unser ziemlich verspätetes Mittagsmahl. Der Fischer, dessen nachbarliche Hütte unser Kost- und Speisehaus war, führte uns zu dem ganz nahe gelegenen, neu errichteten Bethause, in dessen Nähe der Dichter Kosegarten, der bis 1807 als Pfarrer in Altenkirchen gelebt hatte, seine berühmten von Mohnike in den Druck gegebenen Uferpredigten hielt, deren poetischer Schwung bei den Lesern aus den gebildeten Ständen einen wohlverdienten, großen Beifall gefunden. Das Bethaus oder die Kapelle, deren Bau Kosegarten durch milde Beiträge von vielen Seiten her begründet hatte, war damals erst vor Kurzem eingeweiht worden, und geräumig genug, um der Versammlung der Fischer, welche während des Heringsfanges vom Juli bis September sich hier an den 8 bestimmten Sonntagsnachmittagen einfindet, bei ungünstigem Wetter ein Obdach zu gewähren. Früher wurde dieser Gottesdienst im Freien gehalten.

Es war schon spät am Nachmittage, als wir oben auf dem Walle der alten Tempelburg des Swantewit ankamen. Welche Aussicht war hier auf und weit über das Meer hin; welche Erinnerungen bot die Stätte selber dar! Wer den Bericht des Saxo Grammatikus über die Eroberung der Tempelburg im Jahre 1168 durch den Dänenkönig Waldemar I. mit Aufmerksamkeit gelesen, der wird die treue, lebendige Darstellung bewundern müssen, mit welcher uns jener Augenzeuge der damaligen Kriegstat diese vor Augen führt. Es lässt sich aus jener Darstellung noch die Gegend erraten, wo die Dänen bei dem nächtlichen Überfalle der Festung an der Felsenwand heraufklommen und den stürmischen siegreichen Angriff des für unüberwindlich gehaltenen Baues wagten. Mir aber kamen noch andere Gedanken, als die an das Erstürmen der alten Burg, an die Zerstörung ihres Tempels und die Vernichtung des Götzenbildes in seinem Innern. Der Tempel verwahrte noch einen anderen, kostbareren Schatz in sich als jener goldene und silberne war, den Waldemar, der Sieger, mit sich nahm. Das war der Schatz der alten Tempelweisheit, welcher, von einem Geschlechte der Völker an das andere vererbt, seit mehreren Jahrtausenden immer nur gleich einer Schatzmünze, deren Gepräge und Inschrift der spätere Nachkomme nicht mehr versteht, aufbewahrt, niemals zum Gebrauche des Lebens verwendet worden, obgleich ihr Wert, selbst unter dem Überzuge des Rostes, derselbe geblieben war. Swjatovit war nicht nur eine der drei Hauptgottheiten des wendischen Heidentums, er war ein annäherndes Sinnbild der dienenden Kräfte jener göttlichen Dreiheit selber*), von welcher Indiens wie Ägyptens älteste Tempelweisheit aus dem Munde der ältesten Väter unseres Geschlechtes die Kunde empfingen.

*) Swjatowit, das „heilige Licht,“ Peruve und Reije, und dennoch als der eine Gott verehrt. M. v. das treffliche Werk von Berthold: Geschichte von Rügen und Pommern, B. I S. 193 u. f.

Der Norden, in der Nähe des Pols, hat in seinem Jahre eine lange Dämmerung, die der aufgehenden Sonne vorausgeht, der untergehenden nachbleibt; auch die geistige Dämmerung der Tempelweisheit hat den fern vom urväterlichen Herde wohnenden Völkern mehrere Jahrtausende lang ein trostreiches, ermunterndes Licht gegeben, welches den erwartenden Blick nach dem ewigen Osten hinlenkte. Weiter nach dem Süden, wo die Sonne höher am Himmel steht, sind die Zeiten der Dämmerung nicht so lang, die Nacht tritt da am schnellsten ein, wo die Sonne während des Tages am höchsten stand, und am hellsten und kräftigsten schien. Der Wanderer, der in solchem Lande lebt, da die Sonne am hellsten schien, hat sich, wenn sie ihrem Sinken entgegengeht, am sorgfältigsten dagegen zu verwahren, dass die Nacht mit ihrem Dunkel nicht plötzlich, wie ein Gewappneter, ihn überfalle. Er behalte seine Leuchte bei sich, sorge für Öl in seine Lampe und verwahre sie, dass sie ihm nicht erlösche.

Es war spät am Abende, als wir ins Wirtshaus zu Altenkirchen kamen; über dem Feuer auf dem Herde dampfte ein Kessel, darin ein großer Aal gesotten ward; Kartoffeln daneben. Der für unseren Geschmack und unser Vaterland köstliche, seltene Fisch zog unsere Esslust mächtig an. Wir bestellten uns sogleich ein Gericht dieser erwünschten Art, zugleich aber auch ein Zimmer und Betten zur Nachtruhe, denn wir waren recht von Herzen müde, so dass wir fast lieber noch viele Stunden bis zur Mitte des anderen Tages gefastet, als nur noch eine Stunde vom Schlafe uns enthalten hätten. Da fügte es sich, in unserer damaligen Stimmung hätte ich fast sagen mögen: unglücklicherweise, dass irgend Jemand aus dem Hause des teuren Pfarrer Baier ins Wirtshaus kam. Ich gab den Brief von Mohnike an diese Gelegenheit ab, mit herzlichem Gruße und dem Versprechen, dass ich am nächsten Morgen den Herrn Pfarrer besuchen werde. Schon standen die Teller zum Nachtessen vor uns; die müden Augen wollten ein Mal über das andere sich zutun, da tat sich die Türe zu unserem Zimmer auf und der liebe Pfarrer Hermann Baier trat zu uns herein. Er ließ es nicht bei einer herzlichen Begrüßung bewenden, sondern kam uns gleich mit einem solchen Ungestüm seiner gastfreundschaftlichen Liebe entgegen, dass er mich kaum zu Worten kommen ließ. Ich mochte einwenden, was ich wollte, alle die Gründe, die ich vorbrachte: unsere Schläfrigkeit, unsere bereits zum Übernachten im Wirtshause getroffene Einrichtung und Anderes sonst halfen nichts, er führte uns mit der Gewalt seiner Liebe als Gefangene in sein Haus, wo uns in der Gesellschaft, die wir da fänden, die Schläfrigkeit vergehen werde und ein freundliches Ruheplätzchen uns erwarte.

In einer Stimmung, welche in ihrer menschlichen Art der eines Postpferdes gleichen mochte, das den ganzen Tag sich müde gelaufen hat, und das man nun noch einmal aus dem Stalle herauszieht zum Anspannen, trat ich in die Gesellschaft ein, welche im gastlichen Hause des lieben Pfarrers versammelt war. Hier verging mir freilich, so weit dies leiblich möglich war, alsbald das Gefühl der hemmenden Müdigkeit, denn ich fand da unter den vielen Gästen den mir ehrwürdigen, teuren Elert Bode, den Forscher und kindlich liebenden Freund des sichtbaren, wie des unsichtbaren Himmels. Wie gern hätte ich dem Manne meine dankbare Liebe und Ehrfurcht in gebührender Weise ausgesprochen, aber ich konnte es nicht, denn obgleich der Geist wieder munter geworden wie ein Ross, das die Sporen fühlt, konnte er doch das Fuhrwerk, den trägen Leib mit seiner Zunge, nur so mühsam und schwer von der Stelle ziehen, dass ich die gefüllte Teetasse, die mir gereicht worden, aus der Hand fallen ließ, und ich weiß nicht mehr was eigentlich? in vereinzelten Worten schwatzte, deren ich mich wohl in besseren Stunden geschämt haben würde. Dennoch ist mir die Erinnerung an das persönliche Begegnen mit dem Elert Bode noch auf Erden, ein lieber Erwerb auf meinem Lebenswege geblieben.

Ich hörte da Vieles sprechen, das mir lehrreich und wert war; wir blieben, wie mir schien, lange bei einander sitzen; da verlangte der gute, alte Bode nach seiner Ruhe, auch die anderen Gäste alle gingen auf ihre Zimmer, uns beide aber bat man, noch „ein wenig“ mit dem Pfarrer aufzubleiben. Nun das war wohl gut, und ich wie meine Hausfrau wären gern die ganze Nacht bei dem guten, frommen Manne sitzen geblieben, wenn nur die Schläfrigkeit nicht gewesen wäre. Das „ein wenig“ wollte mir fast zu viel werden, da kam die eines solchen Bruders würdige Schwester des Baier, die Amalie, mit der Entschuldigung, dass es so lang gedauert, und zugleich mit der erfreulichen Kunde herein, dass nun auch für uns das Nachtlager bereit sei.

Ich erfuhr und bemerkte erst jetzt, welche Mühe der gute Pfarrer Baier mit uns, seinen gewaltsam aus dem Wirtshause entführten Gästen in sein Haus gebracht hatte. Die anderen Gäste, die wir bei unserer Ankunft vorfanden, und deren Zahl nicht gering war, hatten zum Teil schon in der vorhergehenden Nacht Besitz genommen von allen disponiblen Zimmern, für uns war im Hofe, in einem Bretterhäuschen, das mir in der Erinnerung von türmchenähnlicher Gestalt erscheint, ein Zimmerchen gefunden, zu dem man auf einem kleinen Treppchen hinaufstieg. Da hatte die geschickte, sorgliche Hand der Schwester Amalie Alles so sauber und wohnlich eingerichtet, dass unsere Augen, so lange sie der Schlaf noch offen ließ, mit Wohlgefallen darauf, die Glieder aber in den reinlichen Betten mit Wohlbehagen ruhten.

Dem lieben Baier und seiner Schwester war eine Mühewaltung der Art, wie wir ihnen gemacht hatten, nichts Ungewohntes. Ihr Haus war, namentlich in der Sommerzeit, wenn die besuchenden Fremden nach Rügen kamen, fast jeden Tag und jede Nacht von Gästen gefüllt, wenn auch nicht immer in solchem Übermaße, wie am Tage unserer Ankunft. Es war noch eines jener gastlichen Pfarrhäuser, deren Sitte W. H. Riehl so treu und wahr beschreibt*), und von deren Art man namentlich in dem guten Württemberger Lande Gott Lob! noch viele finden kann. Wir Gäste haben es, als ich mit meiner Frau bei ihm war, dem guten Baier freilich arg gemacht, doch nicht ärger, als sie es gar oft dem alten Pfarrer Machtdolf zu Möttlingen in Württemberg gemacht haben. Davon wäre viel zu erzählen, ich will aber nur Eines aus dem Vielen mitteilen. Ein vornehmer Herr, dessen Gut und Sommeraufenthalt wohl in der Nachbarschaft von Möttlingen lag, hatte so viel von der Gastfreundlichkeit des alten Machtdolf gehört, dass es ihm unglaublich vorkam. Der Mann nimmt, so sagte man, Jeden, der als Gast an sein Haus kommt, er sei arm oder reich, vornehm oder gering, mit gleicher Liebe und Bereitwilligkeit auf, teilt die letzten Bissen, die letzten Pfennige, die er besitzt, mit den hungrigen und dürftigen Gästen, spart sich's an seinem Munde ab, schläft, wenn er alle seine Betten zum Lager für die Gäste hergegeben, eine, und wenn's sein muss, mehrere Nächte auf einer hölzernen Bank, oder Gott weiß, in welch' anderem Winkel, und wenn der Gast fortgeht, da nimmt er in einer so herzlichen Weise von ihm Abschied, als ob nur er für seinen Besuch Dank zu sagen hätte, und als ob er selber der Schuldner seines Schuldners sei. Hat auch schon manchem armen Greise, der bei ihm übernachtete, am anderen Morgen den Reisebündel ein groß Stück Weges getragen, obgleich er selber auch bereits ein Greis ist.— Wie schon gesagt: dies Alles kam dem vornehmen Herrn unglaublich vor, denn in Stuttgart gab es zwar viele Gastereien, solche gastfreundliche Sitte aber war da weniger bekannt. Er wollte die Sache mit eigenen Augen sehen, machte sich deshalb auf nach Möttlingen in das Pfarrhaus, an einem Tage, wo er wusste, dass dieses Haus ganz! voller Gäste war. Es kannte ihn hier Keiner, am wenigsten in dem alten Überrocke, den er angetan hatte. Der Pfarrer kam ihm entgegen, vernahm den Wunsch des Fremden, bei ihm zu herbergen, mit freundlicher Zustimmung, führte ihn hinein ins Zimmer, wo die Gäste soeben beim Abendessen saßen. So voll auch die Bänke und Stühle schon waren, fand sich doch noch ein Plätzchen für den neuen Gast, denn der Pfarrer, der mit der Bedienung zu tun hatte, trat ihm seinen Sitz und für die Nacht auch sein Bett ab. Der vornehme Herr steht am nächsten Morgen ganz frühe auf, die anderen Gäste ruhen noch alle, nur der Pfarrer, der während der Nacht in einem Backtroge geschlafen hatte, ist damit beschäftigt, für seine Fremden die Stiefeln und Schuhe zu putzen. Dem vornehmen Herrn wird bei diesem Anblicke wunderlich zu Mute. Schon am gestrigen Abende war ihm bei dem Tischgespräche, das der ehrwürdige Alte mit einigen seiner Gäste führte, und bei seinem Abendgebete das Herz aufgetan und weich geworden. Er hatte bei seiner Bewirtung im Pfarrhause zu Möttlingen von jener Speise genossen, die nicht vergänglich ist, sondern „die da bleibet in das ewige Leben.“

*) In seinem trefflichen Buche: die Familie S. 161 u. f.

Wer zu Möttlingen in die Kirche hineingeht, der kann außen vor der Tür das Grab des alten Machtdolf mit der einfachen Inschrift seines Namens und der beiden Gedenktage des Anfangs und des Endes seines Lebens lesen. Der hörbare Laut der Worte, die er da drinnen in der Kirche zu den Ohren und Herzen seiner Gemeinde sprach, ist zwar längst verhallt, aber der Inhalt derselben steht in einem Buche geschrieben, dessen Rede in Ewigkeit nicht verstummt noch vergeht, und auch die Taten seines Lebens stehen noch jetzt in den Herzen Vieler geschrieben, die den gastfreien Pfarrer gekannt, oder aus glaubwürdigem Munde von ihm gehört haben. Auch ich habe, freilich nur in wenig Zügen, ein Lebensbild des alten Pfarrers Machtdolf gezeichnet, aus dem man wohl die Physiognomie desselben erkennen kann. Es steht im 2. Bande meines Alten und Neuen S. 259 in dem Kapitel, das die Überschrift führt: Der Calwer Bote.

Als wir am anderen Morgen in unserer kleinen Warte erwachten und zur Familie des Pfarrhauses hinunter kamen, da fanden wir diese allein. Alle die Gäste, die wir am Abende im Zimmer gesehen, und von denen ich im Zustande der großen Ermüdung nur den ehrwürdigen Elert Bode und seinen Sohn in die Erinnerung aufgenommen, waren schon früh am Tage abgereist. Desto besser für uns: der Pfarrer Baier hatte jetzt Zeit und Muse genug, mir still zu sitzen zu dem kleinen Lebensbilde eines „Stillen im Lande,“ das ich vor dem Scheiden von der Insel Rügen noch aufgenommen habe, und das ich auch hier gern in das Reisetagebuch meines Lebens hineinzeichnen möchte.

Wenn man den Hermann Baier, wie dies von Allen, die ihn kannten, oft geschehen mochte, recht vorzugsweise einen musikalischen Mann nannte (nach S. 126), so hatte man damit freilich zunächst nur seine seltene Begabung für die Tonkunst im Sinne. Ich aber fasse diesen augenfälligen Charakterzug seines Wesens in einer weiteren, tieferen Bedeutung auf, wenn ich sage: Baier war eine so durchaus, an Seele und Leib musikalische, harmonisch wohlgestimmte Menschennatur, dergleichen ich auf Erden nur wenige gefunden. Ich bleibe bei der äußerlichsten Erscheinung des Charakterzuges zuerst stehen. Blieben doch wohl auch Vorübergehende am Garten des Pfarrhauses von Altenkirchen stehen und hörten mit innigem Wohlgefallen zu, wenn sie, besonders am Morgen und Abende, den rührend schönen Gesang einer Männerstimme, begleitet von dem Saitenspiele der Harfe oder Guitarre, vernahmen, der aus der Gartenlaube sich hören ließ. Der Sänger war der Pfarrer Baier selber, der hier in der Stille in einem Liede zum Preise und zur Anbetung seines Gottes sich erhob, und der nicht nur durch Saitenspiel und Gesang einzelne Vorübergehende oder die nächsten Genossen seines Hauses und Herzens zur Andacht stimmte, sondern welcher dann, wenn er am Klaviere als Meister der Tonkunst und des Gesanges sich erwies, in allen seinen Zuhörern mit dem musikalischen Gefühle zugleich die tiefsten Gefühle des Gemütes, ja selbst die Gedanken des Geistes in wohltuend mächtiger Weise anregte und belebte. Eine Seele, welche der seinigen am nächsten stand und am innigsten befreundet war, und die ihm von seiner Kindheit an bis zu seinem Ende schwesterlich begleitet hat, sagt von ihm sehr treffend: Die Musik war ihm zur Natur geworden; er setzte, so möchte ich sagen, Alles in Musik, sein Leben mit den Menschen und mit Gott. Am meisten sang er, von einem unwiderstehlichen Drange seiner Natur bewegt, wenn sein Herz so recht von Liebe zu Gott und den Menschen erwärmt und ergriffen war. In seiner Kirche, wo die Gemeinde noch das alte Pommer'sche Gesangbuch mit seinen guten Liedern und die alten Gebräuche des Altargesanges sich erhalten hatte, konnte man seine Stimme mit ihrem milden und doch so männlich starken Tone nicht ohne Rührung hören; zu dem Kinde, das ihm Gott in seiner Ehe schenkte, hat er in den ersten Jahren fast mehr gesungen als gesprochen. Auch dann, wenn sein liebendes Gemüt am schmerzlichsten sich beengt und gedrückt fühlte, pflegte er den Schmerz zur Ruhe zu singen und selbst das Gefühl der inneren oder äußeren Verödung und Zerstreuung vertrieb er sich und Anderen durch Gesang. „So, wenn er in großer Gesellschaft bei Tische saß und etwa die Unterhaltung fad oder einsilbig wurde, fiel er so mächtig mit einem schönen Liede darein, dass das unerfreuliche Gespräch der Anderen zum Schweigen wurde, oder dass das vorher eingetretene Schweigen wieder zum Worte kam. Auch in der Fremde, da er als Erzieher der Knaben der Frau von Gordon, mit dieser Familie auf Reisen war, pflegte er das Heimweh nach seiner stillen Insel, das ihn nicht nur in dem geräuschvollen Paris, sondern selbst in der Schweiz ergriff, zur Ruhe zu singen.“

Die musikalisch-harmonische Stimmung seines Wesens gab sich aber nicht nur in seinem Gesange und Saitenspiele, sondern in seiner ganzen äußeren Erscheinung kund. Sein Angesicht, als ich dasselbe sah, war bleich, aber in seinen Zügen lag der Ausdruck einer Ruhe und eines Wohlwollens, der sich auch ohne Worte verständlich machte. Die feste, gerade Haltung seines Körpers, in welcher er dem fremden Gaste rüstig und freudig entgegentrat, ließ dieser es nicht erraten, wie sehr dieser Körper so eben ein Gefühl der Kränklichkeit gebeugt war. Die feine Zucht und Ordnung, die in seinem Innern war, trug er dann auch, wo er nur konnte, auf seine äußere Umgebung über. Nicht nur jedes ungebildete Wort, sondern auch jede nachlässige Haltung des Körpers und der Kleidung verwies er Denen, die seiner Zucht und Pflege befohlen waren, jede kleine Unordnung in seinem Hause, das schiefe Hängen eines Bildes oder Spiegels, die unsymmetrische Stellung irgend eines Gegenstandes im Zimmer oder die eines Baumes, den er gesetzt hatte im Garten, fiel seinem Auge empfindlich, und wurde von ihm verbessert. Namentlich wurde durch ihn der zum Pfarrhause gehörige Grund, aus einem sumpfigen, höckerigen Boden in ein ebenes Wiesenland, der Garten, welcher vorhin eine Wildnis voll dichter Gebüsche gewesen, wurde von ihm in einen wirklichen Garten voll nutzbarer Bäume umgewandelt, in welchem man ohne Aufhören von der Zeit an, da der Schnee die Beete verließ, bis dahin, wo er sie von Neuem bedeckte, Blumen der verschiedensten Arten sah. Doch in ihrer bedeutungsvollsten Gestalt zeigte sich diese Liebe zur harmonischen Ordnung und Zusammenstimmung aller Einzelnen zu einem wohllautenden Ganzen, in seiner Wirksamkeit auf die Schulen, auf die inneren und äußeren Angelegenheiten der Gemeinde, auf die Erhaltung und Wiederherstellung des Friedens in den Häusern und Herzen. Welche Aufgabe dieser Art lastete auf ihm während der langen militärischen Einquartierung, in den Jahren der napoleonischen Kriege und Besitznahme des Landes. Damals kam ihm die Bekanntschaft, welche er in Paris mit den Franzosen und ihrer Sprache gemacht hatte, gar sehr zu Statten.

In diesem Allen gab sich die musikalisch-harmonische Natur seines ganzen Wesens kund; es war, als hätte er, wie Orpheus, die Außenwelt, die ihn umgab, in Ordnung und in Frieden gesungen. Was ist es aber, das der Seele des Tieres, wie der Seele und dem Geiste des Menschen, diese allbewegende, schöpferische Macht des Gesanges gibt? Sind es nicht allein das Sehnen und der Schmerz der Liebe, welche den Vogel zum Gesange anregen; kann die Weihe der wahren, ächten Dichtkunst wo anders her, als aus einer Liebe kommen, welche dem Geiste einen um so höheren Aufschwung gibt, je höher sie selber geht. Wer den Pfarrer Baier als liebreichen Freund aller Kinder, unermüdeten Tröster der Kranken und Betrübten, als Freund in der Not, welcher durch seine Tat der Bitte und Hilfe schon zuvorkam, wer ihn in der Geschäftigkeit des alten Machtdolf als Gastfreund, wer ihn vor Allem im Kreise der Seinigen und der näheren Freunde gesehen hat, der weiß es, dass der Lebenshauch in ihm, der zum Gesange die Stimme, zum Spiele der Saiten den Ton gab, nichts Anderes war, als die Liebe, — eine Liebe, die in der beständigen Tat sich bekräftigt, in der erbarmenden Teilnahme an fremdem Leid sich verzehrt.

Hierüber wäre Viel zu sagen, für welches der Umfang dieses kleinen Lebensbildes keinen Raum lässt. Eben so viel aber über Das, was den Harmonien des Lebens in Dieser treuen Seele ihren Takt gab, die Saiten seines inneren Harmonikons in ihrer rechten Stimmung erhielt. Dieses tat die Demut, den Takt aber gab die Arbeit, sowohl jene leibliche, die er im Schweiße des Angesichtes sich täglich auflegte — die mühsamste und schwerste war ihm hierbei die liebste — als auch die geistige an den Seelen seiner Gemeinde. Er hat in seinem Kreise als ein zweiter Oberlin die Wüste gebaut und in einen Garten Gottes verwandelt. Du teurer Mensch! das Wirken und die Geschichte deines Stilllebens auf Rügen ist wie ein Lied, dessen Ton und herzerhebenden Inhalt der Wanderer bei Nacht hört, ohne den Sänger zu sehen, an dem Getümmel deiner Zeit, an ihrem Haschen nach Ruhm und nach Effekt bist du still vorübergegangen; du hast deinen Lohn auf Erden nicht dahingenommen; deine Beilage ist dir bewahrt! —

Während ich noch mit Baier, und, wenn ich nicht irre, mit seinem Schwager Franke aus Bobbin, im traulichen Gespräche war, kam Freund Mohnike auch dazu, um uns in bequemem und leichtem Fuhrwerke nach Stralsund abzuholen und zugleich, um seinen vieljährigen Freund Baier zu sehen. Sein anfänglicher Plan war es gewesen, uns nach Bergen, und noch an einige andere Hauptorte der Insel zu führen. Seine Amtsgeschäfte forderten aber schnelle Heimkehr, und auch die Zeit meines genommenen Urlaubes ging zu Ende. Ich hatte ja das Beste gesehen, was für mich die Insel enthielt, den Herrmann Baier, den ich, wäre ich wenig Jahre nachher gekommen, im Grabe gefunden hätte. Noch an demselben Tage machten wir uns auf den Weg, setzten auf der Wittower Fähre über, warfen noch einen Abschiedsblick auf das süße Ländchen Hiddensee, hörten, als das Dunkel einbrach, den violinenartig lautenden Gesang der wilden Schwäne, sahen die Feuer der Heringsfischer im Meere, trafen zwischen Mitternacht und Morgen in Stralsund ein. Und schon am anderen Tage schied ich aus dieser lieben Stadt, in der ich noch manche mir teure Bekanntschaft machte, an deren Erinnerungen ich hier vorübereilen muss.

Nach einem nur noch kurzen Aufenthalte in Doberan kehrten wir nach Ludwigslust zurück, wo für mich bald nachher eine Zeit begann, an der meine Seele keine Lust fand, Tage, die meinen Augen nicht wohlgefielen. Darum ist es mir bei meinem etwas zu lange geratenen Berichte von meiner Reise nach der Insel Rügen ergangen, wie einem Wanderer, der in den heißesten Stunden eines Erntetages über die schattenlose, sandige Ebene gehen soll, und der auf der Ruhebank unter dem schattigen Baume gerne sitzen bliebe, bis der Tag kühler geworden. Doch ich will auch in der Beschreibung dieser Wanderstrecke meines Lebens, den Leser nicht im Schritte eines Fußgängers, sondern wo möglich mit der Eile eines Dampfwagens über den heißen dürren Sandboden geleiten, und nur mit dem Finger auf die Türme der Ortschaften hindeuten, die sich zu beiden Seiten des Weges dem Auge zeigten, auch wohl ein und das Andere von diesen Türmen und Ortschaften sagen, damit uns die Zeit der Fahrt nicht ungenützt vergehe.