Erste Fortsetzung

Die schöpferische Kraft der Erfindung, der Taten- und Opferreichtum des christlichen Mittelalters, die Herrlichkeit der altdeutschen Baukunst, „der großen harmonischen Massen, zu unzähligen kleinen Teilen belebt", treten uns da mit hoher Gewalt vor die Seele. Die erste Bestimmung aller Baukunst, einen Raum einzuschließen, scheint hier am Chor aufgehoben zu sein, denn es gibt keine Wände, sondern nur Fenster und Pfeiler nach oben strebend, wie der lichtvolle Gedanke des Christentums. Wir werden an F. Schlegels schwärmerischen Ausspruch erinnert: „Die Kunst kann das Unendliche gleichsam unmittelbar darstellen und vergegenwärtigen."

Das Lichtmeer, welches sich durch die überaus großen Fenster in das hohe Gewölbe des Innern ergießt, würde kaum zu ertragen sein, wenn es nicht durch Glasmalereien gedämpft würde. Fabeln aber immer noch neuere Romantiker von mystischem Dunkel in gotischen Tempeln, so ist diese poetische Lizenz als ein Irrtum entschieden zurückzuweisen; denn es gibt keine lichtreichere Baukunst, als die altdeutsche. Die zum größten Teil ausdrucksvollen Bildsäulen der Pfeiler sind nach der Anschauung der christlichen Baukunst so aufgestellt, dass von diesen Wächtern des Gotteshauses die männlichen Heiligen die Ost- und Südseite, die weiblichen die Nordseite einnehmen, gemäß der urchristlichen Sitte, nach welcher Männer abgesondert von den Frauen in der Kirche dem Gottesdienste beiwohnten. An der Spitze der Statuen steht, symbolisch gerechtfertigt, die Patronin des Stifts, die Mutter Gottes, Maria.


An den Pfeilern und ihren untern Verbindungen sind noch schwache Überreste von mit Gold belegten Malereien und Aufschriften, deutlich aber die Jahreszahl 1436 zu erkennen. Unter dem Chor hin zieht sich eine geräumige Krypta. Am Ende der Cavate beim südlichen Eingänge zur Kirche beurkundet eine Inschrift, dass "der Bau des Chors am Marz 1349 begonnen. Von dieser Seite des altarartigen Vorsprungs, von dem eine zweite schmalere Treppe nach Osten zum Platze hinabführt, ist eine reizende Aussicht über einen großen Teil der Stadt, in das anmutige Geratal, die blauen Berge des Thüringer Waldes im fernen Hintergrunde und nach den grünen Höhen des Steigers eröffnet. Von der schwindelnden Höhe der Türme herab wird die Umsicht außerordentlich erweitert, auch durch den Hinblick auf Erfurts Umgebungen mit den bedeutenden Zitadellen, der Cyriaksburg und dem Petersberge, eine ganz herrliche. An derselben Seite führen zu beiden Seiten einer Kapelle zwei Eingänge zu dem einen Garten umschließenden Kreuzgange. Dieser in seiner düsteren Stille ist ein höchst interessanter und anziehender Teil des Dombaus.

Wenn man sich im Anschauen der ruhigen Größe, von der stummen Sprache des wunderbaren Steinbaus berührt fühlt, und wenn plötzlich, an einem Ostermorgen, die gewaltige laute Sprache der ehernen Zungen zu reden beginnt; wenn die großen weithintönenden Glocken den Ambrosianischen Lobgesang „Herr Gott Dich loben wir" intonieren, so gibt es kein Menschenherz, in dem solche Klangschwingungen nicht nachzitterten.

Das weitberühmte Geläut der Domkirche besteht aus zehn Glocken. Im mittleren Turm befindet sich die sogenannte große Glocke; sie ist Maria gloriosa, getauft, wiegt 286 Zentner, hat 15 Ellen im Umfange bei 6 Zoll Dicke und 5 Ellen Höhe. Die lateinische Inschrift lautet übersetzt: „Zum Preise der Gönner töne ich ruhmvoll, verjage die Wetter und bösen Geister, verkünde mit heiligem Gesange den vom Volke zu beginnenden Gottesdienst. Ehrh. Won v. Kempen goss mich. 1497."

Im südlichen Turm hängen drei Glocken von 66, 28 und 19 Zentner, im nördlichen zwei von 82 und 38 Zentner Gewicht. Ferner sind noch vier sogenannte Silberglocken vorhanden.

An den Hauptfesten erheben alle Glocken der zahlreichen Türme der Stadt ihre Stimmen zu einem Geläute, wie wir es in Deutschland kaum schöner hören. Über alle die lauten Klänge hinweg herrscht natürlich die Maria gloriosa, mit ihrem energischen, sonoren tiefen F, das, obgleich es die Luft auf Meilen durchzittert, von wundersamer Sanftheit erklingt.

Wie durch sein Glockengeläute so ist Erfurt auch durch Orgelspiel weithin berühmt. In einem langen Zeitraume bis heute hat die Stadt, wie Thüringen überhaupt, namhafte Organisten gezogen, deren Meisterschaft überall bekannt ist. Auch der Altmeister Johann Sebastian Bach und sein Schüler Johann Ludwig Krebs („der beste Krebs in meinem Bache") sind in Thüringen geboren. Ein großes Orgelwerk ertönt im Dom. Wir treten durch den westlichen Haupteingang, von dem wiederum zwei Treppen zum Domberge hinabführen, in das Schiff, um von dem Innern des Doms sogleich den mächtigsten Eindruck zu empfangen. Es eröffnet sich vor uns eine fast unabsehbare Ferne von den buntesten Lichtern erhellt. Die ungemein hohen Gewölbe werden im Schiffe von acht Pfeilern getragen, so dass ein Mittel- und zwei ansehnliche Seitenschiffe gebildet werden. Das Quergebäude dehnt sich noch vor dem Chor aus, welchen ein schönes Eisengitterwerk abschließt. Einige Stufen führen zum hohen Chor, dessen Endpunkt der Hochaltar bildet.

Der Chor mit seinem kühngesprengten Gewölbe ohne alles Stützwerk, mit den kostbaren alten Glasmalereien, welche die Architektur durch lichtes Farbenspiel beleben, gewährt den erhabensten Anblick. Die Höhe der Gewölbe ist noch weit beträchtlicher als die des Langhauses. An beiden Seiten laufen Reihen von Chorstühlen, vortreffliche Holzschnitzarbeiten, hin; nur der Altar macht, abgesehen von guten Gemälden, dem Geschmack seines Erbauers wenig Ehre. Die sämtlichen Fenster sind durchaus mit eingebrannten, zusammengesetzten Malereien erfüllt, welche in ihren figürlichen Darstellungen zwar mangelhaft, aber mit naiver und inniger Empfindung gezeichnet, prachtvoll koloriert und ein Schatz von höchstem Wert sind. In der Mitte des Chors steht der sogenannte Wolfram, die metallene Gestalt eines fast lebensgroßen Mannes, in den ausgestreckten Händen Leuchter haltend. Es ist dies ein wertvolles Werk des 12. Jahrhunderts und wahrscheinlich die von einem Büßenden zur Sühne dargebrachte Gabe. Ein anderes Kunstwerk der neuesten Zeit, von dem rühmlich bekannten Erfurter Buchbinder Schropp aus Holz und Pappe gefertigt und der Kirche verehrt, ist der 18 Fuß hohe Kronleuchter, ein im reichsten gotischen Stil sich aufbauender Turm mit einer Menge Statuetten. Die Kanzel nach Schinkels Entwurf und der Taufstein, ein vorzügliches Werk des 16. Jahrhunderts, ziehen im Schiff unsere Aufmerksamkeit auf sich. Daselbst ist ein riesiges Wandgemälde von 1499, den heiligen Christoph darstellend, wie er das Christkind durch die Fluten trägt, eine Art Wahrzeichen von Erfurt. Darunter steht das interessante bemalte Denkmal des Grafen Ernst von Gleichen (l227), denselben zwischen seinen beiden Frauen darstellend. Unter mannigfachen bemerkenswerten Bildern ist das vorzüglichste, eine Madonna von Lucas Cranach, in der Sakristei geborgen. Unter den Denkmälern zeichnet sich ein von Peter Vischer gegossenes aus. Von den vorhandenen zehn Altären sind mehrere schöne Werke der Skulptur und Malerei. Den Boden des Schiffes bedecken überall Leichensteine mit metallenen Epitaphien.

Zur Geschichte des Dombaus haben sich außer den steinernen Urkunden am Bau selbst nur dürftige Nachrichten in Annalen und Chroniken erhalten.

Bonifacius, der Apostel der Deutschen, errichtete um die Mitte des achten Jahrhunderts in dem damals noch kleinen Erfurt eine Kirche, welche er zum Sitz eines Bischofs in der Person seines Amtsgenossen Adolar zwar bestimmte, die aber nach dem Märtyrertode beider Heiligen (in Friesland 755) erst in ein Kloster, dann in ein Kollegienstift verwandelt wurde, nachdem Thüringen dem Erzstift Mainz in geistlichen Dingen unmittelbar untergeben worden war. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts stürzte der Bau teilweise zusammen, der Rest wurde niedergeworfen, und ein neuer weit größerer Bau begann wahrscheinlich 1153; denn das folgende Jahr wurden die Körper Adolars und Eobans beim Ausgraben der Fundamente feierlich erhoben und ausgestellt. Boden für diese Reliquien erlangten Opferspenden mag der Kirchenbau langsam weitergeführt worden sein. Die Gebeine beider Heiligen wurden in silbernen Särgen in einer Kapelle des Domes beigesetzt; im Bauernkriege bewahrte sie zu größerer Sicherheit der Rath der Stadt auf dem Rathause, ließ jedoch später zur Zeit einer Hungersnot aus dem edlen Metall der Särge Münzen schlagen, die den Numismatikern unter dem Namen „Sargpfennige" bekannt sind.

Im Jahre 1225 wurde bereits die erste Orgel aufgestellt, und 1236 feierte man die Heiligsprechung der Landgräfin Elisabeth von Thüringen während zehn Tagen in festlichster Weise unter dem Zuströmen unzähligen Volkes. Eine der größten Glocken Europas, 360 Zentner schwer, wurde 1251 auf den Turm gezogen. Das Schiff der Kirche stürzte wiederum 1452 zusammen, und zwanzig Jahre später ereignete sich bereits ein neues schweres Unglück. Ein aus politischer Rachsucht an mehreren Stellen der Stadt angelegter Brand erreichte auch den Domberg, entzündete das Balkenwerk der Türme und das Langhaus; die Glocken schmolzen, und das glühende Metall soll die breiten Stufen herabgeflossen sein.

Beim sogenannten Pfaffenstürmen und im Bauernkriege litt hauptsächlich der äußere Schmuck der Kirche; 1717 endlich zerstörte der Blitz die Turmspitzen. Einen größeren Ruin aber brachte das Jahr 1813. General d'Alton, der französische Kommandant der Festung Erfurt, zog die beiden Stiftskirchen wegen der hohen Lage und der Nähe der Zitadelle Petersberg zur Befestigung der letzteren und ließ sie durch Palisaden mit ihr verbinden. Schon hierbei wurde rücksichtslose Zerstörung geübt; im Laufe der Blockade aber sind beide Gotteshäuser zu Ställen, Magazinen und Kasernen entwürdigt, und das Innere derselben mit vandalischer Rohheit gänzlich verwüstet worden.

Das Domkapitel begann 1829 die Restauration des Innern, und 1842 wurde die neue Orgel des Meisters Hesse, aus Dachwig bei Erfurt, aufgestellt.

Wir dürfen diese Mitteilungen nicht schließen ohne ein Wort der Anerkennung für die Männer, welche seit einer Reihe von Jahren die Restauration des Äußeren des herrlichen Domes leiten. Je langsamer diese gründliche Herstellung nach dem Maße der vom Kapitel mit unermüdlicher Opferwilligkeit aufgebrachten Geldmittel vorschreitet, um so solider, geschmackvoller und harmonischer treten die neuen Teile in die Reihe der alten ein. Wir müssen uns über das bisherige glänzende Ergebnis freuen und nicht am wenigsten darüber, dass es besonders heimatliche Talente sind, die hier schaffen und wirken, und ein neues unwidersprechliches Zeugnis für die Tüchtigkeit unseres thüringischen Volksstammes ablegen. Leitende, wir dürfen wohl mit Recht sagen, inspirierende Behörde von ausdauerndster und kenntnisreichster Tätigkeit ist der Regierungs- und Baurat Drewitz; unter ihm arbeiten Pabst und Meygebauer im Büro; dem Bildhauer Kölling und seinen Gehilfen verdanken wir die schönen Bildhauerwerke.

Mögen sie fortfahren die alten Wunden des schönen Tempels zu heilen, der mit vollem Rechte einst an der Spitze der Prachtbauten stehen wird, die anderwärts nur durch fürstliche Opfer und Beihilfe von Millionen ihrer Vollendung entgegengeführt werden konnten! Möge Thüringen den Dom als einen der ältesten Zeugen seiner bedeutenden Geschichte und die alte Hauptstadt hoch in Ehren halten, deren Ruhm noch vielen Jahrhunderten Erfurts Dom durch Glockenklang und Orgelton verkünde!