Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. 12. „Dividendenbier“.

„Die allgemeine Ausplünderung der Gesellschaft vollzog sich allmählich und fast unmerklich.“
Autor: Glagau, Otto (1834-1892) war ein deutscher Journalist und Schriftsteller., Erscheinungsjahr: 1875
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Rostock, der große Schwindel, ergötzliches Büchlein, Schwindelperiode, Kladderadatsch, Berliner Witzblätter, Witze und Schnurren, verbrecherischen Frevel, blutiger Ernst des Schwindels
Zu Rostock ist ein Büchlein erschienen, betitelt „Der große Schwindel und der große Krach“. Ein originelles ergötzliches Büchlein! Es ist nämlich eine humoristisch-satirische Geschichte der Schwindelperiode, bloß zusammengestellt aus Zitaten der Berliner Witzblätter: „Kladderadatsch“, „Wespen“ und „Ulk“; also ein Geschichtswerk, das auf unantastbaren Kellen beruht. Im Gegensatze zu der übrigen Presse haben „Kladderadatsch“ und Genossen den Schwindel als solchen gekennzeichnet und mit ihren Witzen begleitet. Aber eben diese Witze und Schnurren halfen vielleicht täuschen über den blutigen Ernst des Schwindels, ließen den verbrecherischen Frevel, der an dem ganzen Volke verübt wurde, nicht recht zum Bewusstsein kommen. Während wir die auf Kosten der Gründer und Börsianer gerissenen Witze und Spaße belachten, merkten wir nicht, daß dieselben Gründer und Börsianer auch uns die Taschen leerten, auch uns bis aufs Hemde auszogen.

Die allgemeine Ausplünderung der Gesellschaft vollzog sich allmählich und fast unmerklich im Laufe von Jahren, aber als unmittelbare Folgen des Schwindels zeigten sich sofort allerlei Kalamitäten und Wehen. Hand in Hand mit der Wohnungsnot ging die Verteuerung und Verschlechterung der Lebensmittel. Alle Lebensmittel und alle Waaren wurden nicht nur teurer, sondern auch schlechter, zugleich geringer an Quantität und an Qualität, oder sie erlitten gar eine grobe und nicht selten gesundheitsgefährliche Verfälschung. Das Publikum wurde nicht bloß überteuert, dreimal betrogen: man beeinträchtigte und verleidete ihm auch den Genuss, man verkümmerte ihm des Leibes Nahrung und Notdurft. Besonders geschah dies mit einem Artikel, der neben dem Brode im täglichen Haushalt eine Hauptrolle spielt.

In ganz Deutschland steigert sich seit länger als 30 Jahren der Bierkonsum, ist namentlich das sogenannte „Baierisch“ zu einem Nahrungsmittel für alle Klassen geworden Bis 1870 war es durchweg ein reines gehaltvolles Getränk; mit dem Gründungsschwindel verlor es sofort und reißend an Geschmack und an Güte, und wenn es sich auch noch dem „Krach“ wieder etwas verbessert hat, so giebt es doch immer noch viel zu klagen.

In Berlin wurde ehedem ein gutes, ja vortreffliches „Baierisch“ verschänkt. Eine Reihe hiesiger Brauereien, wie die von Schwendy, Lipps, Ahrens, Wagner, Patzenhofer, lieferten ein Fabrikat, das in Stadt und Provinz einen wohlverdienten Ruf genoss. Auch das „Aktienbier“ vom Tivoli hatte zahlreiche Liebhaber. Tivoli, 1857 begründet (nicht „ gegründet“), war lange die einzige Aktienbrauerei; erst 1869 trat Friedrichshain, vormals Lipps, hinzu – eine bloße Umwandelung; schon eine Vorgründung, besorgt von Bankier Rauff, Justizrat Hinschius, Kommerzienrat Gilka und Genossen.

Die hiesigen Brauereien vermochten den Bedarf nicht entfernt zu decken; in jedem Sommer zeigte sich Biernot; das ganze Jahr hindurch wurden von nah und fern, aus der Umgegend und aus ganz Deutschland gewöhnliche Lagerbiere und „echte“ Biere eingeführt. – Hier lag ein wirkliches (nicht bloß, wie bei den Wohnungen, ein scheinbares und künstlich gesteigertes) Bedürfnis vor und konnte daher den Gründern nicht entgehen. Zugleich mit der „Wohnungsfrage“, nahmen die Gründer auch die „Bierfrage“ in die Hand und lösten sie nach ihrer Weise.

Noch vor Ausbruch des Aktiengesetzes, und natürlich in Voraussicht desselben, wurden im Frühjahr 1870 zwei Brauereien in „Kommanditgesellschaften auf Aktien“ – damals die bequemere, weil leichter erreichbare Form – verwandelt: Unions-Brauerei, früher Gratweil und Böhmisches Brauhaus, dem Gerichts-Assessor a. D. Knoblauch gehörig. – Hermann Geber, auch hier wieder der Erste auf dem Platz, „gründete“ in Verbindung mit den Bankiers Julius Guttentag und Georg Sackur sowie dem Rechtsanwalt Hecker – seinen Freund Hermann Gratweil, der sich alsbald selber zu einem flotten Gründer entwickelte, beziehentlich bei verschiedenen, eigentlich Geber’schen Gründungen hilfreiche Hand leistete. – Armand Knoblauch ließ ach gründen von F. W. Krause u. Comp., Kommerzienrat Victor Ludwig Wrede, Gustav Gravenstein, Fabrikbesitzer Gustav Schöpplenberg und Justizrat Ahlemann.

Am 11. Juni 1870 explodierte das Aktiengesetz, und nun kamen die übrigen Brauereien an die Reihe; eine nach der andern wurde „gegründet“. Wir klassifizieren sie wie folgt:

A. Nicht zu böse Gründungen:

Friedrichshöhe, vormals Patzenhofer. Verfasser: Bankier Anton Emil Wolff (Hirschfeld u. Wolff), Bankier Paul Heimann (Marcus Nelken u. Sohn), Generalkonsul Ascher Salinger (Gebrüder Arons) etc. Kurs circa. 90;

Schultheiß. Verfasser: Commerzienrath Wilhelm Herz, Consul und ehemaliges Reichstagsmitglied Gustav Müller, Consul George Marchand, Commerzienrath Benjamin Liebermann, Oskar Hainauer, Julius Schiff, Adolf Rösicke, Richard Rösicke. Kurs noch circa 100.

B. Ziemlich böse Gründungen:

Bock, früher G. Hopf. Gründer: Kommerzienrat Meyer Cohn, Julius Alexander, Dr. Otto Hübner, Fabrikant Hermann Reimann etc. Kurs circa 50;

Moabit, früher Moritz Ahrens. Gründer: Josef Pincuß (Feig u. Pincuß), Bernhard Friedheim, Karl Deibel, Julius Grelling (Gebrüder Grelling). Aufsichtsräthe respective „Revisoren“: Regierungsrath a. D. Albert Bühling, Dr. Georg Kurs, Dr. Hermann Rasche, Aron Aumann. Kurs circa 50.

C. Entschieden böse Gründungen:

Schöneberg, vormals Heinrich Schlegel. Gründer: Hermann Schuster, Gustav Löwenberg, Aron Aumann, Karl Coppel, Ludwig Max Goldberger, Adolf Martini, Fabrikbesitzer Emil Moritz Rathenau. Kurs circa 30.

Adler, vormals G. Schwendy. Gründer: Hugo Wolff, Hermann Frenkel, Direktor Spielhagen, Stadtrat Pohle etc. Kurs circa 20;

Königstadt, vormals Busse u. d’Heureuse. Gründer respektive Aufsichtsräte: Alwin Soergel (Deutsche Genossenschaftsbank von Soergel, Parrisius u. Comp.), Johann Kämpf in Halle (Hallescher Bankverein), Anton Securius, Julius Busse, Louis Feig, Heinrich Booß, Arnold Wittkowski, Reichstagsmitglied Stadtrat Hausmann in Brandenburg etc. Kurs circa 20.

D. Sehr böse Gründungen:

Sozietäts-Brauerei; gegründet von Heinrich Reh, Karl August Arndt und Johann Gottlieb Maecker, welche auch die berühmte Tempelhofer Baugesellschaft in die Welt setzten. Kurs circa 8;

Hasenhaide, früher C. Kelch. Gründer: Julius Samelson, Julius Pickardt, Felix Mamrot, Julius Hahlo, Joseph Neisser, Gustav Noah, Direktor Gustav Hartmann, Generaldirektor Julius Müller etc. Direktor und später Liquidator: Albert Neisser. Kurs ½.

Von allen diesen „Gründungen“ war wohl die anständigste „Friedrichshöhe“. Nach Saling’s Börsenhandbuch geschah sie „mit einem sehr bescheidenen Aufschlag“. Dies war aber nicht die Schuld der Gründer, sondern die des Vorbesitzers G. Patzenhofer, der seine Hand darüber hielt. Der ehrliche, dicke Patzenhofer behielt auch die Leitung der Brauerei bis zu seinem im vorigen Jahre erfolgten Tode, und unter ihm behauptete „Friedrichshöhe“ von allen Bier-Aktien den höchsten Stand. Erst hinterher, unter der Direktion von F. Goldschmidt und Paul Potocky-Nelken, fiel mit der Dividende auch der Kurs, und die Aktien nehmen nicht mehr die erste, sondern nur noch die vierte oder fünfte Stelle ein.

Wie es sonst bei den Bier-Gründungen in der Regel zugegangen ist, hat ein Herr Bötzow verraten, der sich 1871 von der Vereinigung der Brauereibesitzer trennte, und damals Folgendes erzählte:

Man habe ihm für seine Brauerei, um dieselbe zu „gründen“, die enorme Summe von 300,000 Taler geboten. Der Kommissionär, der das Geschäft vermittelte, beanspruchte für sich die Kleinigkeit von 25,000 Taler; der eigentliche Leiter oder Hauptgründer verlangte 50,000 Taler; die Bankiers oder das Börsen-Konsortium forderten 200,000 Taler, so daß ein Aktienkapital von 600,000 Talern ausgeworfen werden sollte. – Herr Bötzow hatte den Mut, abzulehnen, aber viele seiner Kollegen warfen sich den Gründern mit Wollust in die Arme.

Alle jene Bier-Gründungen – auch die, deren Aktien noch hoch im Kurse stehen – waren sehr teuer; alle sind heute mit einem zu großen Kapitale belastet. Auch Tivoli und Friedrichshain, die schon von 1857 und respektive 1869 datieren, haben sich in der Schwindelperiode mit neuen Emissionen und neuen Anleihen übernommen.

Schlossbrauerei Schöneberg, Adler und Königstadt gehören schon zu den grausamen Gründungen, wie dies freilich nur dem Charakter der Verfasser entspricht, die sich durch eine Reihe zum Theil noch schlimmerer Werke fast unsterblich gemacht haben. Hermann Schuster’s „Schlossbrauerei“ ist einschließlich der Hypotheken mit 820,000 Talern, Hermann Frenkel’s und Hugo Wolff’s „Adler“ mit 1,000,000 Talern, Alwin Soergel’s „Königstadt“ mit 1,200,000 Talern belastet, und „Königstadt“ gedachte Ende 1872 noch „400,000 bis 600,000 Taler neue Aktien“ auszugeben, was aber nicht mehr gelang.

Auf der schiefen Ebene der Gründungen geht es ohne Halt abwärts, tiefer und tiefer. Ein Gründer übertrumpft immer noch den andern; in vielen Fällen haben sie das gegründete Objekt sich nicht nur zwei-, drei-, fünf-, zehnmal über den Werth bezahlen lassen, sondern allmählich auch das ganze Aktienkapital eskamotiert, ja die Gesellschaft noch mit großen Schulden belastet, nicht nur die Aktionäre um Alles gebracht, sondern auch noch die Gläubiger betrogen. Freilich sind die „Gläubiger“ oft nur fingiert, oder doch die heimlichen Verbündeten der Gründer, resp. der Herren „Direktoren“ und „Aufsichtsräte“.

Wahre Nachtstücke von Gründungen sind die Sozietätsbrauerei und die Bergbrauerei Hasenhaide.

Herr Heinrich Reh „gründete“ sich selber, seine eigene, noch gar nicht fertige Brauerei, die er „Sozietätsbrauerei“ nannte und nach und nach mit ca. 800,000 Talern belastete. Den Aktien und Hypotheken ließ er noch 6-procentige „Prioritäts-Obligationen“ folgen, die wahrscheinlich noch tiefer stehen als die der „Flora“ und schon lange gar nicht mehr notiert werden. Wie mit den „Prioritäten“ der „Flora“, so handelt auch mit den Prioritäten des Herrn Heinrich Reh – der geniale Finanzkünstler Jean Fränkel: denn schöne Seelen finden sich, und wo es eine besonders faule Gründung giebt, ist in der Regel auch Herr Jean Fränkel dabei.

Heinrich Reh warf pro 1873 eine Dividende von ganzen drei Prozent aus, bekam aber gleich darauf Gewissensbisse und zahlte die grandiose Dividende nicht aus, sondern trug sie in die Bilanz als „unerhoben“ (!) ein. Die vorjährige Generalversammlung setzte er auf den heiligen Christabend. Nicht, daß er den Actionären eine angenehme Weihnachtsbescherung zu machen gedachte: nein, er rechnete darauf, daß ihnen die Stunde ungelegen sein und daß sie dieselbe versäumen würden. Aber in den Zeitungen erschienen menschenfreundliche Merkzeichen und Fingerweise, und die Aktionäre meldeten sich so zahlreich, daß Herr Reh schließlich viele abwies und ihnen die Eintrittskarte verweigerte.

Auch war Herr Reh so vorsichtig, die „Vertreter der Presse“ auszuschließen, das will hier sagen, die Abgesandten der Börsenblätter, woraus wir ihm übrigens nicht den geringsten Vorwurf machen wollen, denn diese Leute sind sehr überflüssig, und sie verfolgen nicht die Interessen des Publikums, sondern nur die der Börse. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln war die Versammlung zahlreich, und sie nahm einen sehr aufrührerischen Verlauf. Von allen Seiten erhoben sich Klagen, Vorwürfe, Anschuldigungen und Drohungen, aber Herr Reh stand da wie im brandenden Meere der Fels. Er leugnete nicht einmal; er gab fast Alles zu; er ließ die empörten Aktionäre schreien und toben, bis sie müde wurden, und dann schloss er ruhig und würdig die Sitzung. Seiner Pflicht gemäß, veröffentlichte er auch wieder die Bilanz, ohne sie aber, wie es Gebrauch ist, von einem Revisor bescheinigen zu lassen. Herr Heinrich Reh weiß sich über solche Formen hinwegzusetzen, und in Wahrheit ist bei den Bilanzen der Aktiengesellschaften der „Revisor“ eine bloße Form.

Der Bergbrauerei Hasenhaide hatte der frühere Besitzer, C. Kelch, für das erste Jahr eine Dividende von 8 Prozent garantiert, und er bezahlte sie auch. Die Gesellschaft erwarb das Etablissement für den kolossalen Preis von Einer Million und schritt dann noch zu kostspieligen Ankäufen und Bauten. Die Bilanz pro 1874 schloss mit einem Verlust von 96,000 Talern; tatsächlich war aber bereits das ganze Aktienkapital und noch mehr verloren. Man mußte likidieren, und die Firma Benoni Kaskel erstand die Brauerei kürzlich für 550,000 Taler, welche Summe noch nicht einmal die Forderungen der Gläubiger deckt. Die Aktien sind völlig wertlos; trotzdem werden sie an der Börse noch immer mit ½ notiert und flott gehandelt.

Nicht nur, daß die Aktienbrauereien teuer „gegründet“ sind – auch ihr Umbau und Ausbau, ihre Vergrößerung und Erweiterung, die in manchen Fällen das Maß überschritt, fällt gerade in die teuerste Zeit. Sie kauften Terrains, Grundstücke und Maschinen zu den höchsten Preisen – sie haben überaus kostspielig gebaut. Seitdem sind Gebäude und Baugründe im Werte sehr gesunken, die Löhne und die Preise der Materialien rapid gefallen.

Ferner ist auch die Verwaltung der Aktienbrauereien, wie die jeder Aktiengesellschaft überhaupt, sehr teuer. Hoch sind die Gehälter und Lohne; unverhältnismäßig hoch sind die Tantièmen, welche „Vorstand“ und „Aufsichtsrat“ beziehen. Diese Tantièmen verhalten sich nicht selten zu der Dividende, welche auf die Gesamtheit der Aktionäre entfällt, wie 1 zu 5. Solche riesige Tantièmen waren vor dem Gründungsschwindel unerhört. Und selbst bei den Gesellschaften, die nur eine klägliche Dividende abwarfen, scheuen sich die Herren Direktoren und Aufsichtsräte nicht, eine erkleckliche Tantième einzustreichen. So erhielten sie bei Moabit (4 Prozent Dividende) 4000 Taler, bei der Bockbrauerei (4? Prozent Dividende) 5800 Taler und sogar bei Adler (1½ Prozent Dividende) 1775 Taler.

(Schluß folgt.)