Mersburg

Wo der nördliche, in nordwestlicher Richtung sich zwischen die Waldfelsen von Bodman und Sipplingen streckende Arm des Bodensees, der Überlinger See, vom großen Becken des Obersees abzweigt, liegt am badisch-schwäbischen Ufer das alte Städtchen Meersburg, hart am Wasser. Der Wald und die Weinberge des langgestreckten Uferhügelzuges, über den die Höhen des Linzgaues herüberschauen, werden hier von steilen Felsen unterbrochen, auf denen die Oberstadt von Meersburg erbaut ist und die — nachdem sie, in einer niedrigen, der Seefläche nahen, Stufe vorspringend, der Unterstadt Raum gewährt haben — ebenso steil wie über uns in die schillernde, unter ein paar überspülten Felszacken bald undurchsichtig werdende, blaue Tiefe abfallen. Hier nagt die Flut unablässig, und von einem Ufergarten — dem des alten Wirtshauses zum „Wilden Mann" — hat sie in den letzten Jahren manches Stück, Mauern, Lauben und Bäume, herabgerissen. Ein ehemals bischöflicher Rokokopalast mit seinen Nebengebäuden ist das überragende Osteck der Oberstadt; mit steilem Süd- und West-Abfall, so dass sich die Häuser, die an den Palastkomplex anschließen, im Halbkreis nach Norden ziehen müssen. Dem Halbkreis vorgelagert und von ihm durch eine Schlucht getrennt, erhebt sich der einzelne, einst durch unermüdliche Menschenhand freigelegte Fels, der die mitten über der Unterstadt aufragende Meersburg trägt. Dieses mächtigen getürmten Bodenseeschlosses älteste Mauern stammen noch aus jener Zeit, da hier Konradin bei seinem Zuge nach Italien Deutschland auf immer Lebewohl sagte. — Ein aus der Schlucht aufgereckter haushoher Pfeiler stützt die Brücke, die von der Oberstadt ins Schloss führt. Durch die weinumrankten Zinnen des Burggärtchens gesehen, liegen die roten Dächer der Unterstadt wie eine Gruppe Strandhütten da. Der Blick geht über sie hinaus in die Weite des Sees und der Alpen. Einst war er durch einen hohen, rußigen Fabrikschornstein gestört, der das Bild zerschnitt. Die wohltätige Himmelsmacht, das Feuer, hat vor ein paar Jahren die Fabrik, zu der er gehörte, in Asche gelegt. Ästhetisch weise hat man sie dann nicht wieder an der alten Stelle, sondern draußen vor der Stadt, aufgebaut.

Das alte Meersburg ist nicht nur der malerischste Fleck am Bodensee, es ist eine der malerischsten Städte ganz Deutschlands. Mit seiner steilen Hauptstraße, seinen Treppen, Brücken, Türmen, Bogentoren gemahnt es an ein italienisches Bergstädtchen, mit seinen über einander emporgewachsenen Giebeln, seinen enggedrängten Häusern, die fast alle noch die Linie der alten Stadtmauer respektieren, ist es deutsches Mittelalter. Gewiss hat es keine Einzelbauten aufzuweisen, die an Kunstwert etwa die Nürnberger Kirchen, Burgbauten oder Bürgerhäuser erreichten. Aber es ist im Gesamteindruck mehr Vergangenheit als Nürnberg, weil es viel unberührter geblieben ist, weil es durchaus wie eine tote Stadt auf den Beschauer wirkt. Wenn man in der Dämmerung eines schönen Herbsttages durch die Gassen Meersburgs geht, so hat man die deutliche Empfindung, dass das Leben in diesen Gebäuden einst grösser und herrlicher war, dass es jetzt nur noch um den Fuß der Architektur spült, die es nicht
mehr zu erfüllen vermag, dass die Schlösser und die hohen alten Häuser nur scheinbar noch bewohnt sind, in Wahrheit aber wie Gespenster in unsere Tage ragen. Brunnen rauschen, in der Schlucht am Schloss, das nur erst im Pförtnerfenster über dem Abgrund ein Lichtchen aufleuchten lässt, dreht sich ein riesiges Mühlrad, schwer und langsam; ein Ochsengespann mit einem Weinbottich schleppt die steile Straße herauf und hält vor einem der großen Tore, die in die Nacht der in den Fels gehauenen Keller hinabführen. Der Postwagen fährt durch das alte Tor, und mit dem Schatten der Dämmerung, der sich über den strichweis gewellten See lagert, heben die Glocken an. Deutsche Romantik mit all ihren heißen, sehnsüchtigen Empfindungen, mit ihrem weiten Heimatsgefühl, ihrer nie zu stillenden Wanderlust überkommt uns. Wir gehen in dem versinkenden Tage weiter, durch Torbögen, durch die Höfe der einst bischöflichen Gebäude, die in ihrer fürstlich weiten Anlage — sie gehören dem deutschen Rokoko an — auch unsere Gefühle weiten, das romanische Element der Romantik, Form, Schönheit, Ruhe der Linie, Süden in unserem Eindruck vortönen lassen, bis zum letzten dieser Hofhaltpaläste, der ehemaligen Priesterschule, in der jetzt ein Lehrerseminar untergebracht ist. Der Hof dieses Gebäudes ist ganz einsam. Im Geviert schließen die hohen Mauern, an denen man noch Überbleibsel gemalter Architektur und eine Sonnenuhr erkennen kann, einen Gartenhof ein, in dem der Spiegel eines Brunnenbeckens vom schläfrig fallenden Wasserstrahl leicht erschüttert wird, in dem hohe, nie vom Wind bewegte Tannen, fast wie Zypressen schlank, Sinnbilder des Abendschweigens sind.


Wir erleben die reichen, starken Gefühle, die der architektonisch bewegte Stein, wenn er in der Weichheit der Dämmerungsstunde am tiefsten, verwirrendsten klingt, in uns erweckt. Wir stehen vor den Spuren der Geschichte. Das ist das Beste, was von ihr übrig geblieben ist, von ihr noch spricht: die große Architektur. Von geschichtlichen Ereignissen, die Meersburg berührt hätten, ist nicht zu reden. Aber in dem alten und dem neuen Schloss ist ein Stück Kulturgeschichte versteint: zwei Phasen in der Entwicklung der geistlichen Herrschaft in Deutschland. Carl Martell soll den ältesten jetzt umbauten Mittelturm des alten Schlosses errichtet haben; so deutet man, jedenfalls irrtümlich, das C. M., das man eingemeißelt fand und das wohl ein Bruchstück des Heiligen-drei-Königszeichens „C. M. B." gewesen ist. Der Erbauer des Schlosses, wie es heute ist, ist der Bischof Hugo von Breitenlandenberg, der seinen Sitz von Konstanz hierher verlegte. Dennoch ist es ein sehr weltlicher Bau von kriegerischem Aussehen, steilabfallend rings, nur über die Brücke zugänglich, umragt von vier unerschütterlich festen Türmen, deren einer freilich eine Kapelle birgt. Was diese Architektur ausdrückt, ist Stolz, Herrschaft, Macht, großes Kriegertum. — Weltlich ist auch die Stimmung des neuen Schlosses, das dem alten über der Schlucht gegenüber liegt. Aber es ist nicht mehr kriegerisch, nicht wuchtig, nicht herrischen Stolzes. Es drückt heitere Lebensfreude aus. Der italienische Baumeister, Bagnato, der es aufführte, hat keine Burg zur Verteidigung, sondern ein lachendes Lustschloss im Sinne gehabt, als er die steilen Felsen oben zu einer großen breiten Terrasse ebnete und einen lichten Palast mit wundervoll gegliedertem, reichbemaltem Treppenhause in die deutsche Landschaft stellte. Noch heute, wo in diesem Schloss eine Taubstummenanstalt untergebracht ist, geht der Eindruck fürstlicher Pracht, fürstlichen Reichtums von ihm aus. Die Geistlichkeit, die hier wohnte, ist nicht mehr selbst Macht des Schwertes, sie schmiegt sich mehr und mehr der politischen Macht an, die auch ihrerseits allmählich aus der kriegerisch befehlenden eine rein administrative wird, mit einem künstlichen, wohldurchdachten Apparat herrscht und der festen Burgen weniger bedarf. Diese Entwicklung zeigt sich gesteigert in der geistlichen Macht, die sie nicht nur als weltliche Herrschaft durchmachte, sondern auch auf dem Wege war, ganz aus der Regierung herausgedrängt zu werden. Der Fürstprimas Dalberg war übrigens der Letzte, der in dem Rokokoschloss als Bischof wohnte.

Ebenso reich wie die weltgeschichtlichen Bilder, die in diesen Steinen leben, sind die geistesgeschichtlichen Erinnerungen, die an Meersburg geknüpft sind. Das alte Schloss gehörte in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts dem bedeutenden Germanisten Freiherrn Joseph von Lassberg, der hier seine handschriftlichen Schätze sammelte und den Besuch berühmter Gäste empfing: die Brüder Grimm, Uhland, Schwab, Kerner und viele andere Männer der Zeit. Oft weilte bei ihm auch ein damals noch unberühmter Gast, ein altes, kränkliches Fräulein, seine Schwägerin, die in selbstloser Sorge und Teilnahme für ihre Verwandten aufging und deren Besuch immer erwünscht war. Sie schrieb freilich in ihren Mußestunden Verse; aber das nahm man in der Familie nicht allzu ernst. Und erst der Widerhall, der von draußen, aus der Weite des deutschen Landes, hereinschallte, mag auch in der Familie Aufmerksamkeit auf die geistige Bedeutung von Tante Nettchen erregt haben. Heute betrachten wir dieses alte Schloss mit den freudig-ehrfürchtigen Gefühlen, die uns der Gedanke eingibt, dass Deutschlands größte Dichterin Jahre hier gelebt hat und hier gestorben ist. In zwei Töchtern Lassbergs lebt noch die Erinnerung an Annette von Droste-Hülshoff und nennt die Zimmer, in denen die Dichterin nacheinander wohnte: das Gemach über der Kapelle; das im nordwestlichen Turm, das so einsam liegt, dass die Mägde sich fürchteten, am Abend hinüberzugehen; das Zimmer links vom Eingang im unteren Teil des über das Tor greifenden Schlossflügels, in dem sie am 24. Mai 1878 starb. — Der Weg zum hoch gelegenen Friedhof, durchs Obertor hinaus, lässt rechts über Gärtchen hinweg einen Weinberg, und auf seiner Höhe ein kleines weitausschauendes Rebhaus sehen. Annette von Droste hatte Berg und Haus von dem Erlös der bei Cotta erschienenen Gedichtsammlung gekauft. Weiter führt der Weg zum Lassbergschen Erbbegräbnis, wenn er die Kirchhofspforte durchschritten hat, an einem altarartig hohen, auf Stufen stehenden phantastischen Dreikant vorüber, unter dem der alte Naturgeist Mesmer ausruht. Dann ist an einem Mauereck eine kleine kapellenartige Überdachung, die Gruft der Lassbergs. Der Leib der Annette von Droste ruht links davor an der Wand. Ihr Grabstein ist in gotischer Form gemeißelt und trägt das Drostesche Wappen. Efeu hängt überwuchernd darauf nieder. Die schöne gotische Linie des Steins wiederholt sich wie spielend in dem Maßwerke eines halbblinden schlanken Fensters, das von dem jenseits der Landstraße gelegenen Kirchlein über die hohe Mauer sieht. Sonst schauen nur die ringsum stehenden Obstbäume, die Wolken, die Ferne des Sees und der Alpen in den einsamen Frieden.

Die wundervollen Bodensee-Gedichte der Droste — „Mondaufgang", „Die Schenke am See", „Das alte Schloss", „Lebt wohl!" u. a. — sind hier in Meersburg oder auf nahen Strand- und Waldwanderungen der Dichterin entstanden. Manches Bild des alten Städtchens und der umgebenden Natur ist in ihnen festgehalten. Am unvergesslichsten ist mir diese tiefe Herbststimmung eines Gedichtes, durch das die Novembernebel des Sees dahinziehen:

„Ober Gelände, matt gedehnt,
hat Nebelhauch sich wimmelnd gelegt,
müde, müde die Luft am Strande stöhnt
wie ein Ross, das den schlafenden Reiter trägt.
Im Fischerhause kein Lämpchen brennt,
im öden Turme kein Heimchen schrillt.
Nur langsam rollend der Pulsschlag schwillt

in dem zitternden Element."

Von dem kleinen Friedhof, auf dem Annette von Droste und Mesmer ausruhen, zurückkehrend, werfen wir noch einen Blick auf das schlicht vornehme Bürgerhaus, in dem Mesmer 1815 hochbetagt starb. Dieser für die Geistesgeschichte des XVIII. Jahrhunderts bedeutsame Mann, aus dessen Schriften auch uns noch manche Erkenntnis kommen kann, stammt vom Bodensee. In dem Dorf Itznang, das am Fuß des Schienerberges über eine Bucht des Untersees der alten Stadt Radolfzell gegenüberliegt, wurde er 1733 geboren. —

Wir steigen nun, ehe wir mit dem letzten Abendschiff heimwärts fahren, auf den Edelstein, einen Rebhügel über der Stadt, der eine der schönsten Bodensee-Aussichten gewährt. Hinter uns Wald- und Weinberge, auf deren letzter, zum See abfallender Welle wir stehen: sie zieht sich rechts nach Westen, waldig, buchtig, mit der geschlängelten Uferstraße und ihrer Baumlinie, mit Rebhäuschen, die hervorlugen, geschmückt, bis ans ferne Ende des Sees. Vor und tief unter uns der im späten Nachleuchten des Sonnenuntergangs dunkel glühende See, auf dem unser Dampfer eben weit drüben zur Insel Mainau fährt, gegenüber die Ufer der Konstanzer Halbinsel, wie in die Dämmerungswellen der Flut eintauchend, südlich und östlich über die jetzt ganz eng zusammengedrängte Stadt, groß, weit und silbern die Alpen; am mächtigsten das breite Massiv des Säntis und Altmanns.

Während es dunkelt, gehen wir zum Hafen, wo nun im Wasserspiegel das bunteste Lichterspiel beginnt, von den vier, zum Teil gleichzeitig anlangenden Dampfern, die nach Konstanz, dem Überlinger und dem Obersee abfahren.

Wir steigen ein. Noch ragt Meersburg mächtig auf. Aber schon nach wenigen Schlägen der Räder streckt sich der Uferhügelzug, wird die Landschaft breit, und von Meersburg sieht man nur noch die Hafenlaternen, kleine, winzige Lichtpunkte über der mit der Nacht schwarz zusammenwogenden Flut.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Bodensee - Wanderungen
Bodensee Terrasse von Meersburg

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