Am Untersee

Der Bodensee erweitert sich, nach der Verengung zwischen Konstanz und Gottlieben, noch einmal zu einem breiten Becken, dem Untersee, der in seiner mehr strom- und binnenseeartigen Gestaltung deutlich von dem meerähnlichen weiten Obersee unterschieden ist. Der Ring seiner Ufer, die Insel Reichenau, ja noch die über dem flachen Gelände bei Radolfzell aufsteigenden Kuppen des Hegau wirken überall zu einem geschlossenen Bilde zusammen, das sich nirgends ins Weite verliert, überall von charakteristischen Landschaftslinien begrenzt ist und sich vor jeder der umgebenden Aussichtshöhen wie eine klare Karte ausbreitet.

Wenn man von Konstanz mit dem Dampfboot in den Untersee fährt, tritt man gleich, sobald das kleine schmale Radschiff mit umgelegter Esse die flachen Bogen der Rheinbrücke passiert hat, in eine ausgesprochene Flusslandschaft ein. Die beiden Rheintürme und die im Entstehen begriffene neue Quai-Straße links, vor der große und kleine Boote angekettet liegen und von der eben die breite Fähre zum Petershauser Ufer hinübergerudert wird, sind bald verschwunden. Von den anschließenden Vorstadthäusern wendet sich das Auge hinüber zu Villengärten, die bald großen Fabrikanlagen mit ragenden Schloten Platz machen. Dann verflacht sich zu beiden Seiten das Gestade und wandelt sich in ein schilfiges Ried, das linkerhand nur einmal von dem malerischen Paradies unterbrochen wird: ein paar Fischer- und Bauernhäuser spiegeln sich mit der kleinen vorgemauerten Straße in dem ruhig gleitenden Fluss. Es wird mit Vorsicht gefahren. Der Grund ist seicht; die Bahn des Schiffes ist deutlich abgesteckt. Hier ragt eine Gruppe von Pfählen, umspült, über das Wasser: es sind Reusen, in denen sich die mit der Strömung gehenden Fische fangen. Drüben schieben sich breite Binseninseln grünwogend vor.


Rechts vor uns schimmert die weite Ebene des Rieds, braungolden sich hinüberziehend zu der Pappelreihe, neben der die Straße zur Reichenau führt. Links nähert sich eins der charakteristischen Ebenen- und Flussschlösser, die wuchtig aufs flache Land gestellt sind: Gottlieben. Es ragt doppel-turmig aus den Wipfeln eines Parks auf, der wie ein Hain über den Feldern steht. Es war einst ein Sitz der Bischöfe von Konstanz. Wir fahren an der Gartenterrasse vorüber. Ein Grüßen hinüber zum Schloss, in dessen Garten eine fröhliche Gesellschaft sich ergeht. Es wird erwidert, und schon legt das Schiff vor ein paar alten behäbig stolzen Bürgerhäusern an der kleinen Landungsbrücke an.

Von hier ab erweitert sich der See schnell. Rechts schiebt sich die breite Insel Reichenau, die durch einen Steindamm mit dem festen Land verbunden ist, wie ein neues Ufer vor das zurückweichende feste Land. Links tritt der Hochuferzug mit seinen Schlössern, dem noch bei Gottlieben ein breiter ebener Flachlandstreifen vorgelagert war, allmählich näher ans Wasser.

Von dem reichen Schweizer Uferstädtchen Ermatingen fährt das Boot hinüber zur Reichenau. Sie ist unser erstes Ziel.

Überall erheben sich Weinberge über den flachen, steinigen Strand. Wir steigen hinan. Verstreut liegen an den Straßen einzelne Gehöfte. Mächtige Bottiche stehen da und dort. Man rüstet zum Herbste. Wir durchwandern das grüne Eiland, das einst vor Jahrhunderten Mönchshand rodete, als es noch Sintlas-Aue hieß und von Schlangengezücht wimmelte. Jetzt ist die hügelige Reichenau einer der sonnigsten, lichtesten Flecke: drei wohlhabende Dörfer mit ihren freundlichen Kirchen, durch schöne Straßen verbunden, Gärten, Rebberge mit Sommerhaus, weidenbestandenes Ried, flache Schilf- und Kiesgestade, an denen Fischerkähne liegen, Ufervillen, die Ruine einer alten Wasserburg — und nichts von Wald, kein Dunkel, keine tiefen Schatten, alles durchsonnt, bewohnt, ein kleines, vom See umspültes Reich, in dem ein Hauch der friedlichen Abgeschlossenheit aus den Zeiten der Mönchsgemeinschaft erhalten zu sein scheint.

Die Klosteranlage des heiligen Pirmin, Münster und Seitengebäude, liegt in der Mitte der Insel. Der Mesmer zeigt in der Sakristei Wunderdinge: Holz und Nägel vom Kreuze Christi, Dornen von der Dornenkrone, einen Krug von der Hochzeit zu Kana. Auch ein Tropfen heiligen Blutes wird in kostbarer Monstranz aufbewahrt und einmal im Jahre,
am großen Blutfest, mit Prozessionen, Gebet und Gesang gefeiert. Das ist der Ehrentag der Reichenau. — In der Kirche von Mittelzell hängt ein handwerksmäßig gemalter Bilderzyklus, der die seltsame Geschichte des Blutstropfens erzählt, wie er durch die Hände von Fürsten und Kaisern schließlich in den Besitz des Klosters gekommen. Überhaupt ist das Reichenauer Kloster mit vielen Schenkungen und Vergabungen bedacht worden, hat sich deren aber auch durch Pflege der Wissenschaft und Künste würdig erwiesen. Eine wertvolle Bücherei ward hier verwaltet, und durch manches neue Werk bereichert; so durch die hauptsächlichsten älteren Geschichtsquellen über den Bodensee, die Werke des Abtes Waldfried Strabo. Scheffel hat dies alte Kloster in köstlicher Schilderung, in die er auch Züge aus St. Gallischen Chroniken verwob, lebendig wiedererstehen lassen. Der Mesmer erzählt noch von Scheffels häufigen Besuchen, wenn er Fremde in die Sakristei, seine dichterische Requisitenkammer, führte. Wir rasten am nördlichen Ufer der Insel. Das altchristliche Kirchlein von Oberzell erhebt sich dort mit seinem Pfarrhaus einsam auf einem Hügelrücken zwischen Reben über dem See. Stille ringsum. Nur weit drüben auf der Straße geht ein Bauer vorbei. Die wuchtigen Mauern, die ganze untersetzte Gestalt des kleinen Gotteshauses, die finstere Krypta unter dem Chor — das ist dunkle Jugend des Christentums. Über dem Wasser liegt Allensbach. Diese Bucht des Untersees, Gnadensee geheißen, ist nicht allzubreit, man kann hinüberrudern in wenig mehr als einer Viertelstunde. Aber seine ganze Bedeutung hat der Gnadensee erst im Winter, wenn es zwei, drei Wochen streng gefroren hat und nicht allzuviel Schnee gefallen ist. Dann prüfen die Fischmeister das Eis; und wenn es trägt, wird aus Tannenbäumchen, die man in die glasig-dunkle Decke einhackt, ein Weg abgesteckt von Allensbach nach Mittelzell. Zehn Meter rechts und links kann man dann dem Eis unbedingt trauen, aber auch weiter, namentlich nach der Rundung der Bucht zu, ist es noch sicher. In ganz harten Wintern kommt es sogar vor, dass auch die anschließende, meist eisfreie oder nur mit dünner Decke überspannte, Bucht von Radolfzell ganz gefriert. Wenn der Eisweg Allensbach Mittelzell eröffnet ist, dann beginnt hier draußen ein lustiges Leben. Schlittschuhläufer aus Konstanz und von weiter her, zahlreiche Kinder aus den nahen Dörfern, Fußgänger und Handschlitten beleben die breite dunkle Eisfläche und verlieren sich, selbst wenn sie in ganzen Gruppen beisammen sind, dennoch in der grauen gleichmäßigen Weite. Auch der wirtschaftliche Verkehr zwischen Festland und Insel geht dann übers Eis: große holzbeladene Schlitten und Boote werden herüber und hinübergeschoben, als hätten die Leute für ihre Frachten den Bau dieser glitzernden Brücke abgewartet. Alles freut sich des neuen Weges. Die meisten Läufer halten sich in der Nähe der abgesteckten Bahn oder fahren weit an den buchtigen beschneiten Ufern der Insel oder des Festlandes hin. Aber auch weit draußen in der Richtung auf die in der wintergrauen Dämmerluft verschwimmenden Hegaukuppen und den Schienerberg zu, sieht man Gestalten; und oft, besonders an nebligen Abenden, wenn auf dem Eise nach allen Seiten gleichmäßig lastendes Grau liegt und man schon wenige Meter vom Lande jede Orientierung verliert, haben sich Leute, die nach Radolfzell hinüber wollten, verirrt, sind auf den freien See hinausgekommen, wo die Strömung des Rheins kein tragendes Eis gefrieren lässt, und sind dort ertrunken.

Es ist ein wunderliches Gefühl, auf dem glasklaren dunklen Eise vom Ufer auf die Seetiefe hinauszulaufen. Noch sieht man deutlich den gelben Grund, Steine und Scherben, die auf ihm liegen, einen kurzen Bootspfahl, der heraufragt und mit seinem Kopf eingefroren ist. Langsam senkt sich der Grund. Schwindel fasst ganz leise den Läufer, wenn er sich so über der Flut schweben sieht, in die sein Blick metertief hinabdringt, und in der gar ein Fisch gerade unter seinen Füssen vorüberschnellt; erst, wenn er ganz über dem Grundlosen läuft, schweigt das schwindelnde Gefühl.

Wie das dröhnt, wenn fern ein Läufer herankommt! Die ganze Decke scheint zu zittern und der Ton des Stahles auf ihr nach allen Seiten ins Weite zu eilen. Die Läufer begegnen sich. Wieder verdröhnt der Stahlton auf der leichten Rauheit des Eises. Alle dreißig, vierzig Meter ziehen lange, schmale Risse durch das Eis; die beiden aneinanderstoßenden Flächen schwanken ein wenig, während der stählerne Schuh hinübereilt. Dort, nah dem Ufer der Insel, wird Nutzeis geschlagen; schon ist ein breites viereckiges Loch frei; ein Mann rudert eben mit langem Stecken eine große Scholle heran.

Um diese Zeit ist am Obersee, wo die stete Bewegung des Wassers das Zufrieren fast immer verhindert, der Strand ein wunderliches Eisgebilde, mit den groteskesten Formationen: da stehen Steine und Pfähle mit großen Eishüten, breite über den See ragende Schollen, unter die klatschend und spülend die Wellen laufen und im Abfliessen zahllose Eiszapfen bilden; da sind ganze erstarrte Brandungen wie Miniatur-Eisgebirge und -Gletscher. — —

Aber wir sind ja am Untersee. Und es ist ein schöner, sonniger, von leichtem Ostwind bewegter Herbsttag, da man sich zur Weinlese rüstet. Wir sind, nachdem wir auch die kleine Kirche von Niederzell mit ihren alten, wieder freigelegten Fresken besucht und uns an dem, recht als ein Ausguck in den Hegau angelegten, „Bürgle“ gefreut, auf die Hochwacht gestiegen, eine von einem Rebhäuschen gekrönte Weinbergshöhe.

Es gibt alte illuminierte Stahlstiche, in denen alle Ferne in klaren Linien gezeichnet ist und sich in erst dunklem, dann immer lichterem Blau abstuft; einem Blau, das alle anderen Farben, das Gelb, Grün, Braun, Rot des Vordergrundes, trinkt und der eigentliche Grundton des Bildes wird. Mit diesem Vorwalten der blauen Ferne werden solche Bilder der Ausdruck ewiger Wandersehnsucht. So liegt es vor uns; und das Gelb des herbstlichen Weinlaubes rings hebt die Bläue des Sees und der Hegauhöhen noch mehr hervor: den Klingsteinkegel Hohentwiel, in dessen gewaltigen alten Festungstrümmern, gedeckten Gängen, Kellern und Bastionen Scheffel oft streifte und kletterte, von dessen Ausguck er sehnsüchtig über das weite Land schaute, ein schmerzliches Liebeserlebnis in ferne Vergangenheit zurückdichtend ; den kleinen, spitzen Zahn des Hohenkrähen, die sanfter gerundeten: Stofflen, Höwen, Mägdeberg. In dunklerem Grünblau stehen vor diesem Hintergrund der Schienerberg, der sich breit in den Vordergrund geschoben hat, rechts an den Arm des Sees stoßend, welcher sich weiter unten zum Rhein verengt, und das hohe waldige Schweizerufer, von dem die napoleonischen Schlösser und das ältere Salenstein herüber grüßen. Wir erreichen noch gerade das letzte rheinabwärts fahrende Dampfboot. Vorüber an malerischen Flecken, wie dem vom See aus wundervollen, getürmten grauen Steckborn, an Schlössern auf den Höhen und unten am See, geht es in das enge, schon wie ein mächtiger, breiter Fluss aussehende Abflussbecken hinein. Hier sieht man überall die starke Rheinströmung.

Rechterhand behalten wir den langen Schienerberg, der langsam eine burggekrönte Ecke vorschiebt, während der Dampfer den gewundenen Fluss hinabgleitet: Hohenklingen. Dort oben soll heute Nachtrast gehalten werden.

In der Dämmerung liegt ein altes Städtchen am Rhein. Erkergeschmückte Häuser, deren Fenster schon Lichter im Fluss spiegeln, begrüßen uns; eine hohe Brücke schwingt sich über den Fluss; von einem grün umrankten, erleuchteten Balkon über dem Wasser klingt Lachen und Gläserklirren. Vom Lande schauen wir unserem Boot noch nach, wie es mit dem Rhein hinter den vorspringenden Ufern verschwindet. Dann gehen wir langsam über den uralten Markt, mit seinen hochgiebeligen, bemalten Häusern, seinem grauen, rauschenden Brunnen, drauf ein bunter Landsknecht Wache steht, seinen auf Bänken vor ihren Türen Feierabend haltenden, plaudernden Menschen. Das alles taucht in die Dämmerung.

Nun steigen wir, vom Abend geleitet, durch Weinberge und Abhangwald langsam hinauf. Schon schließt das Städtchen mit seinen Toren, das seinen alten Mauerring kaum irgendwo durchbrach, in der Tiefe zusammen. Schon glänzt weit und weiter das dunkle Silber des geschlängelten Rheins aus der versinkenden Landschaft empor. Steiler wird der Weg. Etwa haushoch über uns steigen Mauern zwischen den Bäumen auf. Wir klopfen an das alte eisenbeschlagene Burgtor.

„He! späte Gäste sind da!"

Bald wird aufgetan. Eine Magd mit einer Laterne geleitet uns hinein. Mauern aus unbehauenen Feldsteinen. Eine kleine Pächterwohnung mit Restaurations- und ein paar Gasträumen ist auf Balken und mit steilen Treppen in das Mauerwerk eingebaut: Boden, Wände, Decke ebenso wie die Treppen Holz. Das alles würde, wenn ein Brand ausbräche, wie Reisig im Herde zwischen den Steinwänden aufflackern.

Von einer Galerie sieht man hinunter zum Rhein. Dahin bestellen wir uns das Abendbrot. Hohenklingener funkelt rot in unsern Gläsern. Ob man nicht unser Windlicht von unten wie ein neues Sternlein hat aufleuchten sehen? Es ist jetzt ganz dunkel geworden. Auch das Glänzen des Stromes ist erloschen. Weichenlaternen vom Bahndamm jenseits des Rheins und die Lichter des Städtchens sind das einzige, was aus dem Tal noch heraufgrüßt. Am Himmel, über Gipfeln und Wipfeln, beginnen die Sterne ihren nächtlichen langsamen Reigen. Der Stundenschlag der Uhr klingt verhallend in die Nachthöhe herauf.

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Mit dem ersten Hahnenschrei sind wir aus den Betten. Köstliche, kühle Morgenstille. Ein Vogelruf irgendwo aus der Wipfeltiefe des Waldes, der hinter der Burg liegt und mit seinen feiernden Kronen atmend schweigt. Vergessen sind die Unbilden der Nacht: Haselmäuse, die über Betten und Wände sprangen, erstaunt über die späten herbstlichen Logiergäste, die ihnen ihre schon bezogene Winterwohnung streitig machten. Ein kurzer Frühweg durch den tauigen Wald bis an einen Abhang, von dem aus man in einen dichten Buchenhain hinabsieht, der leise beginnt sich in die Herbstfarben zu kleiden. Noch liegt es wie ein ganz durchsichtiger blasser Schatten auf dem Walde. Nur der Himmel fängt schon strahlender zu leuchten an. Als wir auf dem Rückweg aus dem Walde traten, lag auf der Turmspitze der Burg das erste, noch ganz kühle Sonnenlicht. Wie jetzt die ganze Landschaft erwacht, wie der Tag ins Tal steigt und den Rhein aufglänzen lässt! Rauch kräuselt sich über den Dächern des Städtchens, Hammerschläge kommen irgendwoher, Züge pfeifen, die Mettenglocke ertönt, und bald wird auch der Strom sich beleben. Jetzt leuchtet das ganze Tal in Sonne. Wir sitzen auf der Holzgalerie beim Frühstück und lassen es uns wohl sein.

Unsere Herberge zeigt bei Tage ein freundlicheres Gesicht, als da wir abends in das tiefe Dunkel ihrer nächtigen Mauern eintraten. Außer Turm und Wänden und dem vorbaugeschützten Eingang ist noch ein leerer Rittersaal erhalten, mit Steinsitzen an den Fenstern; in irgend einer Ecke der breite, schwarz eingebrannte Trichter eines Rauchfangs, ein Verlies, ein Ausguck — aber jetzt in der Sonne kann uns das in kein Mittelalter mehr zurückzaubern. Da ist uns das alte Gemäuer eine luftige Wanderrast mit viel schönem Ausblick, doch nicht ohne Mängel.

Aber da unten in Stein, da gibt es ein paar Häuser, Ecken und Winkel, in denen ist selbst um Mittag Mittelalter, dem jeder verfallen muss. Wenn man auf dem Markt steht, den wir gestern Abend in der Dämmerung berührt haben, und die hohen, wunderlich und lustig bemalten, mit ihren Erkern in die Straße vorlugenden Giebelhäuser betrachtet, dann fängt es schon an. Man würde nicht erstaunen, wenn die bunten Gestalten, ehrsame Bürger, Landsknechte, Prediger, die in Fresken am Rathause geschildert sind, plötzlich hier an den alten Brunnen träten oder drüben in die „Sonne“ zum Schöpplein gingen. Diese mittelalterliche Stimmung wird tief und wunderlich zwingend, sobald man in den malerischen Gebäudekomplex des alten Klosters St. Georgen tritt, das wohlerhalten und von künstlerischer Hand wiederhergestellt wenig sichtbare Wandlungen erfuhr, seit Abt David von Winkelsheim es um 1500 zu einem Kleinod dekorativer Innenkunst machte. Das Wesen deutscher Renaissance, als Kultur, als Lebensinhalt, hat nirgends so lebendig, so unmittelbar zu mir gesprochen wie in diesen von einem großartigen Kunstfreund geschmückten Räumen. Hier tritt dem Beschauer überzeugend sofort dies entgegen: dass alles Klassische, sobald es nach Deutschland kam, gänzlich gewandelt, germanisiert wurde; dass von ihm eigentlich nichts übrig blieb als größere Gedanken, Motive, Konflikte, die in die deutsche Seele fielen und dort, ganz aus dem urheimatlichen Stoff, Gestalt und Körper gewannen. Eine Erziehung, eine Höherführung des Eigensten; nirgends ein Fremdes, eine Nachahmung. Was ist deutscher als dieses Landsknechts-Heer, das — auf einer der großen Fresken des Festsaales — Karthago stürmt? Es ist dieselbe Welt und Zeit wie dort die köstliche humorvolle Zurzacher Messe, nur ist ein größeres, klassischeres Motiv gepackt. Was ist deutscher als diese Edeldame mit dem Falken — Semiramis? dieser Herkules? Aber überall ist der Ausdruck gesteigert, hat man mit dem Eigenen etwas Fernes, Hohes auszudrücken gesucht und sich dadurch über sich selbst erhoben. Das scheint mir der tiefste Sinn aller Renaissance. Ich glaube, selbst in den übernommenen architektonisch-dekorativen Formen der wundervollen Täfelungen, der kanellierten Decken, der geschnitzten Holzbänder, der gewölbten Erker und der behaglichen Öfen ist das Deutsche stärker als das Fremde.

Wir haben, von den liebenswürdigen Wirten geleitet, die reichen Festräume, Kapelle und Konventsaal, Abtzimmer und Zellen angesehen und durchwandeln jetzt den alten, wohlerhaltenen gotischen Kreuzgang. Wir schreiten im Gewölbeschatten. Still und sonnig liegt im Wandelkreis der Halle der begrünte Klosterhof. Wir haben bei dem Gang durch diese Räume so viel Vergangenheit geatmet, dass sie zum Traum wird.
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Im Mauerviereck, still die Zeit verträumend,
grün eine blühende Wildnis sprießt,
die rings ein Kreuzgang, dunkel sie umsäumend,
mit matten Dämmerschatten schlummernd schließt.

Hoch überm Tor, um dessen Sandsteinranken
der alte Efeu schlug die knorrigen Pranken
liegt auf dem Kirchturm Abendsonnenschein.

Im grünbegrasten Wege geht allein,

bis an die Lenden im Gestrüpp verborgen,
ein grauer Mönch mit seinen stummen Sorgen.
Nur eine Biene seine Tritte scheuchen
aus den verheckten wilden Rosensträuchern.

In blauem Scheine dämmernd alles fließt,
blau sind im Buch die Seiten, die er liest:

„ . . . Die Kraft trägt in sich selber ihr Entstehn.
Kraft ist der Sonne leuchtend Niedersehn,
Kraft ist die Wärme, Kraft ist alles Licht,
Kraft drängt zu Kraft!

So sieh die Bäume streben,
die Säulen hochgestemmt sich heben,
bis an der dunklen Kraft die lichte bricht . . ."

Und wie des Fimmels hingerolltes Tuch
ward dunkler blau das aufgeschlagene Buch.
Der düstere Spruch stand leer in seiner Seite.
Da sinkt des Mönches Arm.
Er sinnt. — Und wie ein Krähenschwarm
fliegen die schwarzen Worte in die Weite . .

Er weiß, was er im Leben nicht gekannt.
Im engen Hof fühlt dunkeln er das Land
hinter den Mauern in der Runde.
Vom Kirchturm schlägt die schwere Feierstunde.
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Und wieder hinaus in den klaren hellen Nachmittag! Das Städtchen Stein mit seinem schlanken Kirchturm und das Bergschloss liegen schon hinter uns. Es geht am badischen Ufer rheinaufwärts.

Ein Dorf mit breiten, schlossartigen Baulichkeiten, die aus dem Grün hervorschauen, taucht auf; es ist das Kloster Öhningen, in dessen Nähe der weltberühmte Öhninger Steinbruch liegt, dem die kostbarsten Versteinerungen entstammen: Tiere und Pflanzen. Er ist verfallen. Unter den herumliegenden Platten, im Schutt finden wir ein paar gute Abdrücke von Blättern im Stein. Das ist alles. Aus einer Hütte kommt ein Mann und bietet uns noch urweltliche Tiere zum Kauf. Sie sind zu teuer und zu schwer, als dass wir sie noch mitnehmen könnten. Wir setzen den Weg fort, durch Wald, über Felder, immer an den Hängen des Schienerberges hoch über dem Fluss, klettern in Schluchten hinab, wieder hinauf; durch das Gold des Waldes leuchtet der blaue See hindurch; unten liegt das Judendorf Wangen; jetzt führt die Straße oberhalb des Schlosses Marbach vorbei, und wir erreichen in der frühen Dämmerung Gaienhofen. Das Abendboot, das uns von hier nach Konstanz bringen sollte, ist schon abgefahren. So müssen wir in Steckborn drüben überm See die Bahn erreichen. Wir stoßen hinaus in die weichdämmernde Flut

Zum Bild, von Schatten überspannt,
von Abendfarben überglutet,

sinkt dort in sich zurück der Strand.
Und auseinander tritt das Land,
dem still mein Boot entgegenflutet,
aus Schatten, drin es schon verschwand.
Die Ruder tauchen schweigend ein.
Still geht der Strom. Dem ewigen Fließen
drückt eine leichte Spur sich ein,
um mit dem Strom hinabzufließen
aufspiegelnd in den Dämmerschein,
aus dem die ersten Sterne grüßen.

Verworrener Laut vom Ufer hallt, um graue Pfähle spült die Flut, die Stadt ragt auf so dämmeralt aus der im Strom erloschenen Glut, in der ihr Spiegelschatten ruht, indes der Strom vorüberwallt. —
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Bodensee - Wanderungen
Bodensee Südufer der Reichenau

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Bodensee Die Reichenau

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