Der Bittgang von Russon

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1913
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Belgien, Brauch, Überlieferung, Pilger
In dem kleinen Dorfe Russon bei Tongern in Belgien herrscht seit Jahrhunderten ein eigentümlicher Brauch, bekannt unter dem Namen „der Bittgang von Russon“. Ihm liegt nach der Überlieferung folgendes Geschehnis zugrunde. Im 8. Jahrhundert lebte in Friesland ein junger Mann aus adligem Geschlecht, der sich durch große Tugendhaftigkeit auszeichnete. Er hieß Evermaer. Alle Lockungen von sich weisend, nahm er an dem lockeren Treiben und dem üppigen Leben seiner Alters- und Standesgenossen nicht teil, sondern machte eine große Wallfahrt zu den heiligen Stätten des Abendlandes.

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Auf dem Wege nach dem Grabe des heiligen Servatius in Tongern wurde er zusammen mit sechs anderen Pilgern am Rande eines Waldes von einem heftigen Gewitterüberrascht. Man war gezwungen, aus einem nahen Edelsitz um Unterkunft zu bitten. Der Besitzer, ein wilder, tyrannischer Mann namens Hakko, der das ganze Land in weitem Umkreis durch seine Raubzüge und Brandschatzungen in Schrecken setzte, war gerade abwesend, aber seine Gemahlin nahm die Fremdlinge freundlich auf und bewirtete sie reichlich, doch riet sie ihnen, aus Furcht vor ihrem Manne, sobald wie möglich weiterzuziehen. Als dann Hakko bei seiner Rückkehr erfuhr, dass seine Frau Pilger beherbergt habe, setzte er diesen sofort mit seinen Reisigen nach, holte sie auch ein und forderte von ihnen einen hohen Wegezoll. Als die Pilger den Tribut nicht zahlen konnten, erschlug er sie sämtlich und ließ sie unbeerdigt liegen. Nach einigen Tagen fand Pipin von Heristal, der mächtige Hausmeier des Frankenreiches, der in jenen Gegenden der Jagd oblag, die Leichen der Gemordeten und ließ sie bestatten. Zwei Jahrhunderte später, so meldet die Legende, sei ein Engel, von Gott gesandt, zu einem Priester der Kirche von Russon gekommen, habe ihm von dem Leben des heiligen Evermaer erzählt, dessen Grabstätte kundgegeben und ihm befohlen, die Gebeine des Heiligen zu holen und treu zu hüten. In der Nähe der alten Kapelle nun, in der sich bis zum heutigen Tage die Überreste des Heiligen befinden, wird jedes Jahr am 1. Mai die Ermordung Evermaers und seiner Begleiter in der auf unserem
interessanten Bilde auf Seite 595 geschilderten Weise dargestellt. Die Darsteller, Bauern von Russon, pflegen sich dazu eigenartig auszustaffieren. Sämtliche Pilger tragen kleine graue Kragen mit Muscheln geschmückt und Pilgerstäbe, Sankt Evermaer zugleich ausgezeichnet durch einen runden Hut, braunen Mantel, Rosenkranz und Trinkgefäß. Hakko und seine Reisigen reiten Ackergäule, haben Hüte mit Hahnenschweif und Federn geschmückt, blaue Schärpen und sind teilweise mit den verschiedenartigsten Säbeln oder nur mit einer Reitpeitsche bewaffnet. Hakko zeichnet sich noch durch hohe Reitstiefel und roten Rock aus.

Der Bittgang von Russon

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