Der Berliner Omnibus - Skizze aus dem Verkehrsleben.

Die Gartenlaube, illustriertes Familienblatt.
Autor: Springer, Robert, Erscheinungsjahr: 1869
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In der endlosen Sindflut, welche zwischen den steinernen Mauern der jungen Weltstadt Berlin dahinströmt und ein Gewimmel und Gekrabbel von rasselnden Fahrzeugen und tobenden Menschen in Bewegung setzt, sieht man von Zeit zu Zeit ein großes kastenartiges Gefährt, einer Arche Noah nicht unähnlich, sich in mäßigem Tempo fortbewegen. Nicht selten auch erblickt man ein Menschenkind, ein Männlein oder Fräulein, welches mit ängstlicher Hast, winkend und rufend, dieser Arche nacheilt und der Gefahr, in der großstädtischen Sündflut zu ertrinken, entrinnen will. Und dann reicht Vater Noah, der auf dem Hinterdeck der Arche steht, dem Bedrängten die hilfreiche Hand und versammelt ihn zu den reinen und unreinen Geschöpfen, die er bereits in seinen Kasten aufgenommen hat.

Diese Arche, von welcher hier die Rede ist, nennen wir in der Universalsprache einen „Omnibus“ der Vater Noah, welcher dem Ertrinkenden die Hand entgegenstreckt - und o, was für niedliche, zarte und quabblige Händchen bekommt er den Tag über zu greifen! - dieser Vater Noah, welcher mit dem biblischen dann und wann gemein hat, daß er ein Weib und drei Söhne besitzt, sich aber dadurch von jenem unterscheidet, daß er keine Weinstöcke pflanzt und keinen Wein trinkt, sondern sich vorzugsweise von Brühkartoffeln, Weißbier und Kümmelschnaps nährt, heißt auf deutsch „Conducteur“.

Betrachten wir das Gefährt näher, so sehen wir einen langen vierräderigen Wagen, auf jeder Seite mit drei Fenstern und auf der Hinterseite mit einem niedrigen Tritt und einer Eingangstür versehen. Auf den beiden äußeren Seiten und an der Rückwand des Wagens stehen oben mit schwarzen Buchstaben auf weißen Schildern die Endpunkte der Tour, zuweilen auch die wichtigsten dazwischen liegenden Punkte, angegeben. Des Abends unterscheiden sich die Omnibusse der verschiedenen Linien noch durch verschiedenfarbige Laternen.

Im Innern befindet sich, wie in allen dergleichen Wagen, auf jeder Längsseite eine mit Leder oder Plüsch gepolsterte Bank, deren jede sechs Personen aufnehmen kann. An der vorderen Oberseite hängt die gedruckte Karte, welche die Abfahrtszeiten von den beiden Endpunkten der Tour angibt. Auf der linken Seite der Hinterwand, neben dem Conducteur, befindet sich eine Laterne, die mit der Nummer des Wagens bezeichnet ist, und die Zifferscheibe, auf welcher die Zahl der Passagiere mittels des stellbaren Zeigers angegeben werden muss. Mit großer Ölfarbenschrift steht angeschrieben, daß das Fahrgeld gleich nach dem Einsteigen zu entrichten ist und daß nicht Tabak geraucht werden darf. Es bedurfte zur Erfüllung der letzteren Bestimmung der größten Entschiedenheit seitens der Polizeibehörde, denn in den Protesten, welche sowohl von den Omnibus-Unternehmern wie von einem großen Theil des fahrenden Publikums gegen jenes Verbot einliefen, bewährte sich wieder die alte Thatsache, daß der Deutsche nicht nur, wie die übrigen Menschen, ein kochendes, sondern auch vorzugsweise ein rauchendes Tier ist und daß die reinste Himmelsluft ohne die Beimischung des narkotischen Dampfes der verschiedenen Fabrikate, von der Regalia bis zum Ohlauer Knaster und der Infamia Stincadores, ihm nur ungenießbar vorkommt.

Auf dem Deck des Omnibus sind ebenfalls zwei hölzerne Bänke für je fünf Personen angebracht, zu welchen von dem Trittbrette eine eiserne Treppe hinaufführt. In Paris sind diese „banquettes“ bei den Omnibussen, welche die Stadt kreuzen, nicht gestattet, weil man sie für gefährlich hält, nur die über Land fahrenden Wagen sind mit dieser Einrichtung versehen.

Schlägt man sich die Gefahr aus dem Sinne, bei einem Bruch der Achse nach dem Gesetz der Zentrifugalkraft auf das Straßenpflaster geschleudert zu werden, so bietet der Platz auf dem Deck mancherlei Vorzüge: man fährt um die Hälfte billiger als im Innern, kann Tabak rauchen, genießt bei schönem Wetter eines stärkenden Luftbades und härtet bei ungünstiger Witterung seine körperliche Gesundheit und Widerstandskraft. Hat man einen der vorderen Plätze in Besitz, so ist man im schlimmsten Falle durch den breiten Rücken des Kutschers gedeckt.

Dieser Kutscher steht mit dem Conducteur in Verbindung durch eine Art Nabelschnur, welche über das Deck und unter den Füßen der Passagiere fortgeht und in das man sich nicht verwickeln darf, wenn man nicht hinabstürzen oder die Gedankenverbindung zwischen der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt des Fahrzeuges stören will. Jene Schnur nämlich, die an den linken Arm des Rossbändigers befestigt ist und bis auf die Hinterseite des Wagens hinabreicht, wird vom Conducteur angezogen, sobald der Wagen anhalten oder langsamer fahren soll. Es gehört das Zartgefühl eines Omnibuskutschers dazu, um durch Mantel, Rock und Unterjacke an dem stärkeren oder milderen Ruck wahrzunehmen, was von Beiden verlangt wird: das Erstere, wenn eine Dame, ein Kind oder ein Greis ein- oder aussteigt; das Zweite, wenn ein Mann, der sich auf der Grenze zwischen der vollen Manneskraft und dem einbrechenden Greisenalter befindet, während des Fahrens aufgenommen werden oder den Omnibus verlassen will.

Sobald der Kutscher mittels der Schnur den Ruck zum Stillhalten bekommen hat, überliefert er diese Depesche mit Hülfe der Leine den Pferden, indem er denselben einen Ruck in die Ganaschen gibt. Dieses wiederholte plötzliche Stillhalten aus vollem Lauf und das erneuerte Anziehen ist für die Pferde ebenso mühsam wie aufreibend, und es lässt sich wirklich in dieser Beziehung das gequälte Omnibuspferd nur etwa mit einem Schriftsteller vergleichen, der „im Schooße seiner Familie“ oder in einer unruhigen Mietkaserne arbeitet und dessen Gedankengang ebenfalls in kurzen Zwischenräumen einen unterbrechenden Ruck erhält, wenn einer seiner Söhne ihm eine Frage über die Schularbeiten stellt, die Gattin einen Rath in häuslichen Angelegenheiten begehrt oder die Nachkommenschaft des über ihm wohnenden Mieters plötzlich ein Wettrennen in Holzpantinen eröffnet.

Jungen Männern und solchen, die noch im Besitz der vollen körperlichen Kraft und Rüstigkeit stehen, wird zugemutet, daß sie den Wagen während des Fahrens verlassen, ohne sich den Hals dabei zu brechen. Noch vor zehn Jahren würde man dieses gefahrvolle Unternehmen in Deutschland von keinem Menschen verlangt haben: es gehört dazu eine Entschlossenheit und Gewandtheit, die unsere Generation erst durch den Krieg und durch eine halsbrechende Gymnastik gewonnen hat; eine körperliche Rüstigkeit, welche wir dem Hoff’schen Malzextrakt und dem Danbitz’schen Kräuter-Liqueur verdanken; es gehört dazu endlich eine gewisse Geringschätzung des Menschenlebens, wie sie der Yankee besitzt und wie sie durch das erhöhte Industrieleben und die Überschätzung des Gelderwerbs hervorgebracht wird.

Obgleich das Omnibuswesen Berlins noch an manchen Kinderkrankheiten leidet, obgleich ihm die vorzügliche Einrichtung der Pariser Omnibusse fehlt, nämlich die sogenannte Korrespondenz, welche dem Passagier gestattet, ohne Erhöhung des Fahrgeldes in eine andere Linie überzugehen, den erforderlichen Wagen in einem Stationszimmer zu erwarten und laut einer erhaltenen Nummer seines Platzes gesichert zu sein - obgleich diese Korrespondenz-Einrichtung bis jetzt erst von dem Verwaltungsrate beabsichtigt wird, so muss dennoch schon die gegenwärtige Organisation unsere Bewunderung erregen.

Begeben wir uns des Morgens in der Frühe nach einem der sogenannten Depôts, deren sechs in der Hauptstadt eingerichtet sind!

Ein großer Hof wird von zwei langen Gebäuden begrenzt; das eine enthält die Schuppen von zwanzig bis fünfzig Wagen, das andere die Ställe für dreihundert bis dreihundertundfünfzig Pferde, ein kleines Bureaugebäude für den Depôt-Verwalter befindet sich am Eingange des Hofes.

Stallknecht und Kutscher sind beschäftigt, die Wagen und Ställe zu reinigen, die Pferde zu füttern, zu putzen und aufzuschirren. Conducteure und Kutscher treten dann vor dem Verwalter und Inspektor zum Appell an, erhalten ihre Stellen zugewiesen, werden über etwa eingelaufene Beschwerden vernommen und mit den neuen Verordnungen des Centralbureaus bekannt gemacht. Zur vorgeschriebenen Zeit werden die Wagen bespannt, die Kutscher und Conducteure nehmen ihre Plätze ein, und fort rollen die mächtigen Fuhrwerke nach ihren verschiedenen Hauptplätzen. Um 7½ Uhr sind die letzten Wagen abgefahren. Das Ameisentreiben im Depôt hat nun einen Stillstand und wiederholt sich erst am Abend, wenn die Gefährte von der Arbeit zurückkehren.

Dennoch geht es dort noch fortwährend geschäftig genug zu: die Stallknechte besorgen die Reservepferde, reiten die Thiere, welche zum Umspann bestimmt sind, nach den Stationen und führen die ausgespannten und ermüdeten, die sie mit leinenen oder wollenen Decken überhängt haben, nach den Ställen zurück. Jene sechs Depôts, unter der Aufsicht von drei Verwaltern und sechs Inspektoren, versehen den städtischen Verkehr mit hundertvierzig Wagen und elfhundert Pferden, welche auf fünfundzwanzig Linien verteilt sind und von hundertsiebenzig Kutschern, eben so vielen Conducteuren, dreißig Controleuren und hundertvierzig Stallknechten bedient werden. Die Controleure erhalten jeder monatlich fünfundzwanzig Taler Gehalt, jeder Conducteur und Kutscher empfängt achtzehn Taler, jeder Stallknecht vierzehn Taler. Die tägliche Einnahme eines Omnibus ist auf zehn Taler anzuschlagen. Die Controleure pflegen unvermutet auf einem Punkte der Fahrt heran zu kommen, auf das Trittbret zu springen, sich das Notizbuch der Conducteure zeigen zu lassen, mit einem Instrument, welches einem Zahnbrecherschlüssel nicht unähnlich ist, die Zifferscheibe zu stellen und dann ebenso rasch wieder zu verschwinden, wie sie erschienen sind. Außerdem soll noch eine Anzahl geheimer Controleure im Dienste der Omnibusgesellschaften stehen, um diese vor jeder Unredlichkeit von Seiten ihrer Beamten nach Möglichkeit zu bewahren, ob dergleichen „Geheime“ wirklich existieren, können wir indes nicht verbürgen.

Die Polizeibehörde hat die Halteplätze allmählich immer weiter von der Mitte der Stadt hinausgerückt und die Touren haben jetzt eine Länge von einer Viertel bis zu einer Meile erhalten, welche, die Unterbrechungen unterwegs eingerechnet, in je siebenundvierzig Minuten bis eine Stunde pünktlich zurückgelegt werden müssen. Die längsten Touren sind jetzt die von der Liesenstraße zum Heinrichsplatz und von der Ostbahn zum Neuen Thor. Das übel berüchtigte Voigtland, der ehemals versandete Wedding, die Frankfurter Linden, der Kreuzberg und die Potsdamer Brücke sind jetzt dem Mittelpunkte der Stadt um eine halbe Stunde näher gerückt und die Omnibuseinrichtung ist für diejenigen Geschäfts- und Gewerbetreibenden, welche weite Wege zurückzulegen haben oder von ihrer Arbeitsstätte entfernt wohnen, eine nicht genug zu schätzende Wohltat. Der Fahrpreis beträgt für den Deckplatz einen Silbergroschen, für den inneren Platz zwei, eigentlich anderthalben Silbergroschen, da Billets für zwei Touren oder zwei Personen zu drei Silbergroschen von den Conducteuren verabfolgt werden. Alles aber, was den Betrag von einem Silbergroschen übersteigt, erlangt in Berlin keine rechte Popularität. Der eigentliche Mann aus dem Volke und der Arbeiter benutzt daher nur die Deckplätze, während die inneren vorzugsweise von der verkehrtreibenden Mittelklasse und, da diese hinsichts der Kleidung und Gesittung den höheren Ständen näher als die Arbeiterklasse steht, auch von Damen und von Personen aus der Beamtenwelt und dem Handelsstande benutzt werden.

Auf den Stations- oder Halteplätzen finden sich meistens Omnibusse mehrerer Linien, und zwar ist gewöhnlich einer für jede der angewiesenen Touren dort anzutreffen, der nach einer Rast von sieben bis acht Minuten, kurz vor oder gleich nach der Ankunft des rückkehrenden abfährt. Der Moritzplatz und der Oranienplatz, auf welchen früher die meisten Omnibusse hielten, liegen jetzt innerhalb der Linien, und gegenwärtig sind der Alexander-Platz, der Dönhofs-Platz und die Potsdamer Brücke die wichtigsten Stationsplätze geworden.

Die Berliner Omnibusse verlieren sich nicht, wie die Pariser, in die Nebenstraßen, sondern wählen auf ihren Linien die besuchtesten Hauptstraßen und verbinden in dieser Weise die Stralauer Gegend mit der Anhalter Bahn; die Stadtteile jenseits der Königsstadt mit dem Süden Berlins; das ehemalige Voigtland, das Gebiet der Familienhäuser mit dem Potsdamer Thore und dem Stadtteile auf dem Köpenicker Felde und diesen mit der Oranienburger Thorgegend, dem Reiche der riesigen Eisenindustrie, und mit dem Stadtteile der Geheimräte; das Cottbuser Thor mit dem Stadtteile vor dem Potsdamer Thor, den Wohnplätzen der reichen Bourgeoisie; den entlegensten nördlichen Theil, den Wedding-Platz, mit dem äußersten südlichen, dem Kreuzberge; das Neue Thor mit der Ostbahn; die Region der Biergärten vor dem Schönhauser Thore mit dem südlichen Teile der Stadt und mit der Gegend jenseits des Alexander-Platzes. Andere Linien verbinden das Innere der Stadt mit benachbarten Orten, welche meistens außerhalb des Weichbildes liegen, mit Lichtenberg, Weißensee, Tempelhof, Moabit, Charlottenburg, Pankow, Schöneberg, Rixdorf, der Hasenhaide, dem Gesundbrunnen und dem Saatwinkel.

Das Omnibuswesen entstand zuerst gegen Ende der zwanziger Jahre in Paris und zeigte sich schon wenige Jahre später in lebhaftem Gange. Die einzelnen Berliner Omnibusse, welche zur Zeit des Regierungsantritts des vorigen Königs aufkamen, verschwanden bald wieder, Berlin hatte damals noch nicht den weltstädtischen Pulsschlag, um das Bedürfnis nach einer derartigen Einrichtung zu fühlen. Ein geregeltes Omnibuswesen wurde erst im Jahre 1847 von Heckscher und Freiburg aus Hamburg eingerichtet und kam dann an verschiedene Privatunternehmer, welche in dem Zeitraum von 1862 bis 1864 dreihundert Omnibusse in Gang setzten. Im letztern Jahre übernahm die Kommandit-Gesellschaft Busch und Rosenberg dieses Verkehrsgeschäft. Das Bedürfnis hatte sich in so dringender Weise geltend gemacht, daß vor fünf Jahren sechsundvierzig Linien eingerichtet waren. Trotzdem fanden die Unternehmer nicht ihre Rechnung, und die Stockung im Geschäftsverkehr, die Kriege und andere Hemmnisse veranlassten, daß das Geschäft im März vorigen Jahres in Liquidation kam und auf eine Aktiengesellschaft mit einer Million Betriebskapital überging, welche gegenwärtig ihr Centralbureau in der Leipzigerstraße Nr. 41 hat. Obgleich fast die Hälfte der früher eingerichteten Linien eingegangen war, so nahm das Institut unter der Direktion des Barons von Gablenz und des ehemaligen Buchdruckereibesitzers J. Draeger einen netten Aufschwung, neuerdings ist ein dritter Teilnehmer an der Verwaltung, Herr Itzinger, hinzugetreten.

Eine Fahrt in einem Berliner Omnibus ist ebenso unterhaltend wie lehrreich. Ruhig auf seinem Platze sitzend, ist man im Stande, die mannigfaltigsten Studien von Charakteren und Situationen anzustellen. Vielleicht begleitet uns der Leser später auf einer solchen Studienfahrt, die sein Wissen sicher mit der Bekanntschaft von mancherlei interessanten Menschen- und Charaktertypen bereichern wird.