Der Beitrag der christlichen Kirchen zur internationalen Verständigung

Veröffentlichungen des Verbandes für Internationale Verständigung. Heft 4
Autor: Rade, Martin Prof. Dr. (1857-1940) evangelischer Theologe und linksliberaler Politiker, Erscheinungsjahr: 1912
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Christliche Religion, Kirche, Glauben, Weltfrieden, Christenheit, Protestantismus, Christenmenschen, Friedensgesellschaft
Indem ich Sie einlade, mit mir nach dem Beitrage der Kirchen zur internationalen Verständigung zu fragen, bitte ich Sie, nicht ungeduldig zu werden, wenn die Antwort lange Zeit eine negative bleibt. Erst auf diesem negativen Hintergrunde heben sich die positiven Regungen der Gegenwart in ihrem Werte hervor.

Und nicht wahr, ich darf ganz ohne Scheu auch über die Konfessionen reden? Ich werde die meine nicht parteiisch herausstreichen.

Somit sind Sie vorbereitet, dass ich von den Kirchen in unserer Sache zunächst nicht viel Gutes werde sagen können. Man sollte meinen, dass die christliche Religion die Forderung des Weltfriedens laut und unermüdlich erhoben hätte, seit sie besteht. Daraus, dass die Völker ihrer Forderung nicht gefolgt sind, brauchte ihr dann nicht ohne weiteres ein Vorwurf zu erwachsen. Die Kluft, könnte man sagen, zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen Gebot und Erfüllung, zeigt sich auch hier! Aber nicht einmal die Idee des Weltfriedens, nicht einmal der Imperativ der internationalen Verständigung ist den christlichen Völkern von vornherein mit auf den Weg gegeben worden. Die Verbindung zwischen dem „Friede auf Erden“ der Weihnachtsbotschaft und dem Pazifismus von heute, so leicht sie vielen scheint, muss über riesengroße historische Hindernisse hinweg erst gesucht und geschaffen werden.

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Die christliche Religion ist von Haus aus überhaupt nicht für die Beziehungen der Völker untereinander interessiert, weder national, noch international. Sie war grundsätzlich gleichgültig, ebenso gegen das römische Reich als Machthaber wie gegen die jüdische Patriotenpartei mit ihrer revolutionären Gesinnung. Sie hasste nicht das römische, sondern Satans Reich, und sie verlangte nicht nach Wiederaufrichtung der jüdischen Theokrati, sondern nach dem Anbruch der wahren vollkommenen Theokrati unter dem Messias Jesus. Voll leidenschaftlicher Sehnsucht nach einem anderen Zustand aller Dinge, dachten die Gläubigen an nichts weniger als an politische Reformen, die sie vornehmen müssten; sie erhofften die selige Katastrophe vom Himmel her. Inzwischen waren sie auf den Weg der Innerlichkeit gewiesen: fromm sein war alles.

Zu diesem Frommsein gehörte nun freilich die Anerkennung des unbedingten Liebesgebots gegen den Nächsten. Und der Nächste wurde begriffen über jede nationale Schranke hinweg.*) Die Idee des neuen Israel als eines Volkes Gottes aus allen Völkern und Zungen, die Idee der im Glauben an Jesus und seinen himmlischen Vater geeinten Menschheit musste sich von da aus ergeben. Ein ganz anderer Zustand als der gegenwärtige war jedenfalls die alles beherrschende Vorstellung. Und für die Verwirklichung dieses Zieles musste die Erde mit ihrer Völkergeschichte mehr oder minder der Schauplatz werden, sobald die urchristliche Erwartung einer baldigen Weltenkatastrophe im Bewusstsein zurücktrat. Inwieweit ein Ziel bewussten Wollens und Tuns daraus wurde: das ist eine lange Geschichte, — die Geschichte der Christenheit bis heute!

Indem das Christentum auf dieser Erde Wurzel fasste, hat es alsbald teilgenommen an der Internationalität des römischen Reiches; und es hat später die internationale Einheitskultur des Mittelalters geschaffen, die bis zur Kirchenspaltung des sechzehnten Jahrhunderts wenigstens das Abendland umspannt hat. Es ist unmöglich, dem jetzt nachzugehen, inwieweit die Papstkirche des Mittelalters an internationaler Verständigung in unserem Sinne gearbeitet hat; Kriege gab es genug zwischen den von ihr überdachten Nationen, und zu Zeiten zogen auch Bischöfe und Päpste, weltliche Herren ihrer Länder, das Schwert.**) Während dessen fanden im Orient Kirche und Nation sich mit einer Energie zusammen, die das Christentum dort als Mittel internationaler Verständigung völlig matt setzt.

Wir sind mit dieser letzten Bemerkung schon bis an die Gegenwart herangekommen, an der uns heute allein liegt. Denn im Orient hat sich die Gleichung von Kirche und Nation bis auf unsere Tage erhalten. Vornehmlich auf türkischem Boden. Die nationalen Kirchenbildungen gehen zwar bis ins christliche Altertum zurück. Aber das, was heute die Kirchen im Orient den Nationen sind, verdanken sie Muhammed II., dem Eroberer von Konstantinopel. Er hat alsbald nach dem Einzüge jenes Abkommen mit dem byzantinischen Patriarchen getroffen, das durch die Jahrhunderte hindurch gegolten und den Patriarchen zum Fürsten des Griechenvolkes unter dem Halbmonde gemacht hat. Wie dort die griechische Nation die griechische Kirche ist, so ist es mit der russischen, bulgarischen, serbischen und rumänischen. Der rumänische Erzbischof in Herrmannstadt ist heute der Repräsentant der Rumänen in Ungarn. Und selbst bis auf evangelischen Boden ist diese nationale Kirchenbildung des Orients zu verfolgen: die sächsische Landeskirche Siebenbürgens ist das sächsische Volk, ihr Bischof ihr Fürst, ihr Kirchenregiment die berufene Vertretung sächsischer Nation im Staate Ungarn.

*) Trotzdem blieben Soldaten, die Christen wurden, im Kriegsdienst. Vgl. den Artikel „Krieg“ in Schiele-Zscharnacks Lexikon, und dort die einschlägige Literatur. Wenn man von Anfang an das Alte Testament, dass ich so sage, in die Bibel mit hinübernahm, so konnte bei dessen kriegerischem Inhalt ein reiner Pazifismus in der Christenheit nicht leicht aufkommen.

**) Nicht nur bildlich, wie bekannt. Der berühmteste der Feldherrn-Bischöfe ist wohl Erzbischof Christian von Mainz, Kaiser Rotbarts Waffengenosse, †1183.


Irgendwelche internationale Verbindungen zu pflegen sind diese Kirchen von Natur außerstande. Sie sind durch ihre geschichtliche Art auf die innigste Verschmelzung mit der Volksseele angewiesen; alle nationale Empfindung bis zum leidenschaftlichen Hass pulsiert in der religiösen Gemeinschaft und empfängt durch die Religion höchstens noch die letzte Weihe und Steigerung bis zum Fanatismus. Wenn heute gelegentlich Bulgaren, Serben, Griechen sich als „Christenheit“ gebärden, so ist diese Einigkeit nicht auf kirchlichem Boden gewachsen, sondern entspricht dem augenblicklichen politischen Interesse.*)

Ganz anders ist prinzipiell und faktisch die römisch-katholische Kirche gestellt. Sie ist ihrem innersten Wesen und Anspruch nach international. Seit der Papst aufgehört hat, Oberhaupt eines selbständigen Staatswesens zu sein, kann höchstens der eigne Wille, es wieder zu werden, ihn hindern, auf die internationalen Beziehungen mit höchster und weitest reichender Autorität im Sinne der Verständigung einzuwirken. Seit 1870 also ist für den Papst die Bahn in dieser Richtung frei. Vor den erstaunten Augen der ganzen Welt hat Bismarck im Streit um die Karolinen Anno 1885 ihm diese Bahn ausdrücklich gewiesen. Leo XIII. hat sich auch wiederholt zu eben dem Ziele bekannt. So 1896 in der Antwort, die er auf eine Adresse des siebenten Friedenskongresses zu Budapest erteilen ließ.**) Pius X., weltpolitisch viel weniger interessiert als sein Vorgänger, hat den Katholiken, die 1906 am Weltfriedenskongress zu Mailand teilnahmen, seinen Segen erteilt. Aber auf eine Adresse desselben Kongresses hat er, soviel ich sehe, nicht geantwortet. Dies, obwohl in jenen Verhandlungen der russische Soziologe Novicow erklärte, dass die katholische Kirche „für den Frieden mehr tun könne als alle Pazifisten der Welt“. (Was man ruhig unterschreiben kann.) Vorausgegangen war die Nichtzulassung des römischen Stuhls zur Haager Konferenz 1899. Man mag sie vom staatsrechtlichen Standpunkt aus billigen, vom protestantischen aus sogar begrüßen — indem wir Protestanten andernfalls die Vertretung unserer Konfession im Haag vermissen und fordern würden — , so ist doch im Interesse einer internationalen Verständigung nur zu beklagen, wenn das anerkannte geistliche Oberhaupt so vieler Nationen vom Eifer für diese Bestrebungen irgendwie abgeschreckt wird. Inzwischen ist der katholische Klerus nach langem Zögern in die Friedensbewegung eingetreten. Seit 1907 durch Pater Gratry vorbereitet, hat sich 1910 die Friedensliga der französischen Katholiken gebildet. Ihr Vorsitzender Vanderpol veröffentlichte im Mai 1911 sein Werk: Le Droit de Guerre d'après les Thèologiens et les Canonistes du Moyen âge.*) Es soll ins lateinische übersetzt und, wenn die Carnegiestiftung dazu hilft, unentgeltlich in allen Priesterseminaren der Welt verteilt werden. Pater Gratry hat die Gesellschaft von vornherein auf ausschließlich christlichen (will sagen kirchlichen) und praktischen Boden gestellt; sie ist weder antimilitaristisch, noch antipatriotisch; sie will die Kriege „soviel als möglich“ verhindern durch Schaffung und Stärkung rechtlicher Beziehungen zwischen den Nationen, wie sie den Lehren des Evangeliums besser entsprechen und eine friedliche Lösung internationaler Streitigkeiten ermöglichen.**) Seit 1908 haben die schweizerischen, 1911 die britischen, 1912 die holländischen Katholiken im gleichen Sinn ihre Friedensliga. Von den deutschen Katholiken hört man nichts. Im Mai dieses Jahres erfolgte in Paris die Gründung eines Instituts für Völkerrecht auf christlicher Grundlage (Institut de droit international chrètien) mit dem Sitz in Löwen, unter dem Beifall höchster katholischer Würdenträger. Ebenda hält in diesen Tagen (27., 28. Oktober) die Union Internationale Catholique pour l'ètude du droit des gens d'après les principes chretiens ihre erste Sitzung.

*) Was die gemeinsame Konfession im Balkanbunde und für die Beziehungen zu Russland augenblicklich bedeutet, kann niemand sagen. Die weltlichpolitischen Leidenschaften bedienen sich des Deckmantels der Religion, aber die Religion, die das gestattet, ist doch eben auch vorhanden!

**) Über die Motivierung der Adresse vgl. Bertha v. Suttner, Memoiren, S. 355. Die Adresse und Rampollas Antwort bei Umfrid, Friede auf Erden 2 S. 553ff. 1 S. 132ff.

***) Paris, A. Tralin, 12 rue du Vieux-Colombier. 207 S. Von demselben Verfasser im gleichen Verlage ist seitdem noch erschienen: La Guerre devant le Christianisme. 284 S.

****) ... exclusivement chretien et pratique ... ni antimilitariste ni antipatriote ... empecher les guerres autant que possibile, en s'efforçant d'amener la Solution pacifique des litiges internationaux par l'institution de relations juridiques entre les nations, relations à la fois plus ètroites et plus conformes aux préceptes de l'Evangile. Vgl. Figaro vom 23. Juni 1912.


Die Wirkung dieser innerkatholischen Bestrebungen müsste sich nun zunächst an der Besserung der internationalen Verhältnisse zwischen den ausgesprochen katholischen Staaten und Nationen bewähren. Dafür käme in erster Linie die Staatenwelt Südamerikas in Betracht. Und von dort hören wir in der Tat eine Geschichte, die, wenn sie vollständig ist, ein glänzendes Beispiel liefert von der Einwirkung katholischer Bischöfe im Sinne internationaler Verständigung. Zwischen Argentinien und Chile glühte Ende des vorigen Jahrhunderts ein leidenschaftlicher Grenzstreit: man rüstete über Vermögen, und der Krieg stand bevor. Da warfen sich (unter Einflüssen, auf die wir noch zu sprechen kommen) zwei Bischöfe zwischen die feindlichen Völker: ein argentinischer, Dr. Marcolino Benavente, und ein chilenischer, Dr. Ramon Angel Jara. Ostern 1900 begann ihr Eintreten für eine friedliche Feststellung der Grenze; dann eilten sie beide durch ihre Länder und forderten in kirchlichen und öffentlichen Versammlungen Volk und Beamte auf, alles für den im Evangelium der Christenheit gebotenen Frieden daranzusetzen. Das Resultat der so entstandenen kirchlichen Friedensbewegung in beiden Ländern war die Übergabe der ganzen Streitfrage an den König von England; nach einigen Monaten war sie zur Zufriedenheit beider Staaten von ihm entschieden. Die weitere Folge dieser Entscheidung war der Abschluss eines Schiedsgerichtsvertrages zwischen den beiden südamerikanischen Republiken, durch den zunächst alle Streitigkeiten, die innerhalb der nächsten fünf Jahre entstünden, einem Schiedsgericht übergeben werden sollten. Weitere Verträge folgten, so vor allem auch ein Abrüstungsvertrag, der Heer und Flotte beider Staaten auf das geringe Maß herabsetzte, das zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Lande notwendig ist. Die neuen Kriegsschiffe wurden verkauft, die großen Summen die dadurch frei wurden, für soziale Zwecke verwendet. Wege durch das ganze Land, vor allem auch Verbindungsstraßen zwischen den beiden Ländern wurden hergestellt, Eisenbahnen gebaut, Hospitäler und andere notwendige Anstalten angelegt. Die Völker aber standen unter dem Eindruck, dass das Christentum, der Geist Jesu Christi selbst, unter ihnen diese Veränderung hervorgebracht habe. So wurde auch der Vorschlag des Bischofs Benavente, ein Standbild Christi auf der gemeinsamen nun friedlich festgestellten Grenze zu errichten, mit Begeisterung aufgenommen. Jetzt steht hoch oben auf den Schneebergen der Anden, vierzehntausend Fuß über dem Meeresspiegel das Riesenbild des Königs der Christenheit, der die beiden Völker, die sich friedlich versöhnt haben, segnend grüßt. Bei Abschluss des endgültigen Schiedsgerichtsvertrags fanden sich alle Vertreter der beiden Länder, Minister, Bischöfe, Generäle, Admiräle usw. bei dem Denkmal auf den Anden zusammen und gelobten von neuem auf Grund ihres Christentums Frieden. Die Inschrift, die das Denkmal trägt, weithin sichtbar, lautet: „Eher sollen diese Berge in Staub zerfallen, als dass die Völker von Argentinien und Chile den Frieden brechen, zu dem sie sich selbst verpflichtet haben zu den Füssen Christi des Erlösers.“*)

Bei der Macht, welche die katholische Hierarchie über die katholischen Völker jenes Kontinents besitzt, müsste es ihr meines Erachtens ein Leichtes sein, unter den Staaten ihrer Konfession auch sonst im Geiste jener edlen Bischöfe Erfolge zu erzielen. In Europa liegen die Verhältnisse freilich verwickelter. Aber Veranstaltungen wie der Eucharistische Kongress müssten von Rechts wegen in dieser Richtung wirken. Inmitten des Völkergemischs von Österreich-Ungarn müsste die katholische Kirche ihr Meisterstück tun. Aber man sieht nicht, dass sie ernstlich am Werke ist, die Versöhnung der Nationalitäten zu betreiben, auch soweit sie Eines katholischen Glaubens sind; im Gegenteil wollen die Klagen nicht verstummen, dass sie in diesem Ringen leidenschaftlicher Eifersucht einseitig Partei nehme. So weiß sie auch dem kein Ende zu machen, dass in unserem Osten katholisch = polnisch gilt.

Hier wäre nun ein Wort von dem Zwiespalt und Kriege der Konfessionen und Religionen selbst zu sagen. Ich verzichte darauf.**) Es versteht sich, dass der Mangel einer interkonfessionellen Verständigung, wo er vorhanden ist, unser Interesse an internationaler Verständigung fortwährend kreuzt. Aber die Zeit der Religionskriege ist vorüber. Nehmen wir die abendländischen Kirchen als zwei große internationale Einheiten hin und fragen auf dieser Basis nach dem Beistande, den sie uns leisten.

*) Aus den Blättern des Kirchlichen Komitees zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland. September 1911.

**) Vgl. Krüger. Die neueren Bemühungen um Wiedervereinigung der christlichen Kirchen, Leipzig (Tübingen), J. C. B. Mohr, 1897. Von anglikanischer und altkatholischer Seite werden immer wieder Versuche gemacht, mit den morgenländischen Kirchen Fühlung zu gewinnen. Wir können nicht warten und brauchen nicht zu warten auf internationale Leistungen der Kirchen, bis diese höchst delikaten Bemühungen irgendwelchen Erfolg zeitigen.


Gehen wir dann zum Protestantismus über, so wird es unter Ihnen nicht an solchen fehlen, die unsere Kirche von vornherein für viel zu ohnmächtig halten, um auf internationalem Gebiet irgend Beträchtliches zu leisten. Aber erstens gibt es doch nicht nur die evangelischen Kirchen Deutschlands. Und zweitens sind auch die evangelischen Kirchen Deutschlands eine Macht. Seit durch Napoleon I. im Jahre 1806 dem Cuius regio eius religio der Todesstoß versetzt worden ist, indem von da an eine ganze Reihe deutscher Staaten sich gewöhnen mussten, konfessionell unterschiedene Gebiete großen Umfangs zu umfassen, sind die evangelischen Kirchen dem Staate gegenüber langsam und allmählich stärker und selbständiger geworden. Und wenn sie noch eben als Landeskirchen einen Teil ihrer Kraft und Bedeutung aus ihrem Zusammenhang mit dem Staate ziehen, so ist doch heute die Möglichkeit zu freier, auch auswärtiger Betätigung ganz anders gegeben als früher. Ich bitte, ihre Macht dazu auch nicht deshalb zu unterschätzen, weil weite Kreise der Intelligenz skeptisch und die sozialdemokratische Arbeiterschaft feindlich den Kirchen gegenübersteht. Selbst Leistungen, die viele von uns beklagen und bekämpfen, wie die Schaffung des Spruchgerichts, die Absetzung Jathos und Traubs durch die preussische Landeskirche, beweisen doch einen hohen Grad von Leistungsfähigkeit der Organisation. Man muss angesichts, dieser Leistungen nur wünschen, dass die angewendete Kraft lieber der Menschheitsaufgabe der Kirchen zugute komme, als dass sie sich im Bruderkrieg unnütz verzehrt. Die offiziellen Kirchen Deutschlands haben jedenfalls noch keine Zeit gefunden sich darauf zu besinnen, ob sie als berufene Hüterinnen des Evangeliums nicht auch zu dem gegenseitigen Verhältnis der Nationen positiv beizutragen hätten. Auf die Anregung der deutschen Friedensvereine, es möge einmal im Jahr die Kanzel der Idee des Völkerfriedens zur Verfügung gestellt werden, ist den Antragstellern von keinem der deutschen Kirchenregimenter ein Bescheid geworden, geschweige denn, dass man die in andern Denominationen bestehende Einrichtung des Friedenssonntags auch nur in einer einzigen Landeskirche eingeführt hätte. In Sachsen-Weimar erklärte am 3. Dezember 1910 vor der Synode auf eine von dem Synodalen Superintendent Bürkner gegebene pazifistische Anregung der Staatsminister Dr. Rothe: dass die weimarische Kirchenregierung sich von jenen Bestrebungen, wie sie z. B. (!) von Frau Suttner verfolgt werden, selbstverständlich (!) ferngehalten habe und fernerhin fernhalten werde. Das Interessante an dieser Äußerung ist das „selbstverständlich“; einem höchsten Vertreter der evangelischen Landeskirche dämmert nicht von weitem der Gedanke, dass hier Probleme liegen, dass das in dieser Organisation zusammengefasste Kirchenvolk vielleicht doch an seinem bescheidenen Teil für die internationalen Beziehungen auch mit verantwortlich sei. Im Gegensatz dazu muss anerkannt werden, dass 1908 die Männer, die an der Spitze der preußischen Landeskirche stehen, zum mindesten offiziös die Anbahnung eines Verhältnisses zwischen den deutschen und den britischen Kirchen selbst in die Hand genommen und schließlich das heute bestehende freie „Kirchliche Komitee zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland“ mit konstituiert haben. Man braucht nicht zu fragen, ob nicht staatlicher Wunsch und Wille von Anfang an mit im Spiele war, ob das Komitee nicht in zu großer Nähe der Staatsregierung seinen Sitz hat: der kirchliche Wille ist jedenfalls die treibende und erhaltende Kraft. Wenn die leitenden evangelisch-landeskirchlichen Personen von vornherein katholische und freikirchliche Christen zur Teilnahme an diesen Bestrebungen gewonnen haben, so ist an dem kirchlichen Charakter des Komitees dadurch nichts geändert.

Sowie protestantische Kirchenmänner sich auf ihre internationale Existenz besannen, musste übrigens eine itio in partes eintreten. Die Einen wussten nur ihre engeren und engsten Konfessions- und Richtungsgenossen jenseits der nationalen Grenzen aufzusuchen und zu finden. Die Anderen traten mit ihren religiös kirchlichen Idealen alsbald auf den Boden der allgemeinen Humanität. In ersterem Sinn international ist z. B. die seit 1868 bestehende Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz. Sie schließt vornehmlich Norweger, Schweden und Dänen, aber auch sonst Lutheraner der ganzen Welt, mit den deutschen Lutheranern zusammen, lutherischen Konfessionalismus wider die Union zu schützen. Es ist bezeichnend, dass eine Einwirkung auf das Problem Nordschleswig auf der Basis dieser Konferenz erst im vorigen Jahre versucht worden ist und ohne rechten Erfolg.*) Und ebenso bezeichnend ist, dass dies wohl die einzige kirchlich-protestantische Vereinigung internationaler Art ist, die von Deutschland ausging, während alle andern, auch wenn sie in Deutschland Fuß gefasst haben, ihren Ausgang von England oder Amerika nahmen. So die einst enger als heute verbundenen Bibelgesellschaften, so seit 1846 die methodistisch-pietistisch gerichtete evangelische Allianz, so seit 1855 der „Weltbund der Jünglings vereine und christlichen Vereine junger Männer“ heute mit gegen 9.000 Vereinen, 90.0000 Mitgliedern und 3.300 Berufsarbeitern, seit 1894 der „Weltbund der christlichen Jungfrauenvereine“ mit 400.000 Mitgliedern und 43 Weltsekretärinnen, Weltkonferenzen von christlichen Studenten,**) von allen möglichen christlichen Gemeinschaften und so

*) Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung 1912 Nr. 43 und 46. Man bedenke: die Dänen Lutheraner, die Deutschen Lutheraner, die Nordschleswiger Lutheraner, und diese Konferenz besteht 43 Jahre, ehe es auch nur zu einem Anlauf der Verständigung kommt!

**) Auf ein Begrüßungstelegramm der Deutschen Christlichen Studenten vereinigung antwortete die zu Anfang dieses Jahres tagende Britische Studentenkonferenz: „Wir, die Mitglieder der Studentenkonferenz für äußere Mission und soziale Fragen, die vom 2. bis 7. Januar 1912 hier in Liverpool tagt und sich aus 1.680 Rektoren, Professoren, Lehrern und Studenten von 165 britischen Universitäten und Colleges zusammensetzt, möchten unsern herzlichen Dank aussprechen für den freundlichen Gruß, der unserer Konferenz von der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung zugegangen ist. Wir sind tief innerlich beunruhigt über die Meinungsverschiedenheiten, die sich über die Fragen der nationalen Politik zwischen der deutschen und der britischen Regierung erhoben haben, und beten, dass ein Weg gefunden werden möchte, der jeden Grund zu Missverständnissen und Entfremdung zwischen den beiden Nationen beseitigt. Von der Erhaltung des europäischen Friedens und insbesondere von einem engen und freundlichen Austausch der Völker Deutschlands und Großbritanniens hängt die Verwirklichung jener Pläne christlicher Arbeit ab, deren Erfüllung wir hier erbitten und deren Fortführung wir mit Gottes Hilfe zum Hauptzweck unseres Lebens machen. Die Predigt des Evangeliums vor den nichtchristlichen Völkern, die Hebung der traurigen Übelstände in der Lage der Armen und Verlassenen im eigenen Lande und die Vertiefung des Gefühls menschlicher Zusammengehörigkeit auf den Gebieten von Handel und Industrie — Pflichten, die unserer Meinung nach heutzutage eine unumschränkte Forderung an alle Christen sind — würden durch den Ausbruch eines europäischen Kriegs um ein Menschenalter aufgehalten werden. Wir einen uns in dem Gebet, dass die Christenheit vor den unermesslichen Trübsalen eines solchen verheerenden und brudermörderischen Streites bewahrt bleiben möge.“ Februarheft der „Furche“ S. 166. Politiker mögen an einem solchen Votum achselzuckend vorübergehen; unsern christlichen Lesern ist zuzumuten, dass sie es ernst nehmen und mit solcher Gesinnung eines solchen Kreises rechnen.


genannten Sekten, zum Teil religiös-konfessionell von sehr begrenztem Horizont, aber die nationalen Schranken mit redlichem Enthusiasmus überwindend. Diese Verbindungen lassen sich zum Teil bis ins achtzehnte Jahrhundert, bis auf Zinzendorf zurückführen. Das Großartigste und Inhaltreichste in dieser Art bieten wohl heute die Weltmissionskonferenzen, wie eine 1907 in Shanghai, die letzte 1911 in Edinburg tagte. Unsere kirchenfremde Presse, Bildung und Wissenschaft ahnt nicht, welche Weite der Weltkenntnis und Weltbetrachtung, welch fruchtbarer Wille zu internationaler Kultur — bei oft wunderlicher religiöser Enge — in diesen Missionskreisen vorhanden ist. Haben wir bisher die evangelischen Christen ihren Internationalismus auf dem Wege bewähren sehen, dass sie ihre Glaubensverwandten jenseits der Grenzen aufsuchten, so müssen wir nun andere noch auf dem Wege von der Kirche zur allgemeinen Humanität aufsuchen. Ich nenne hier den „Weltkongress für freies Christentum und religiösen Fortschritt“, der 1910 in Berlin tagte, nächstes Jahr in Paris wieder zusammenkommen wird. Von den Unitariern in Nordamerika ausgehend (Council of Unitarian and other liberal religious Thinkers and Workers 1900) hat er die freieren Geister aller christlichen Kirchen an sich gezogen und selbst bei Hindus, Japanern, Chinesen, Parsisten und Muhammedanern den religiösen Fortschritt aufgesucht. Vor allem aber gehört nun hierher die im ausgezeichneten Sinne internationale Erscheinung der Friedensgesellschaften und Friedenskongresse selbst. Die erste Friedensgesellschaft in Amerika (New York 1815) und die erste in Europa (London 1816) sind beide von Quäkern gegründet. Der religiöse Einschlag der Bewegung ist auf angelsächsischem Boden noch immer groß und wichtig. Insbesondere auf dem Boden Neuenglands ist der christliche Pazifismus heimisch. Seit Jahrhunderten hat ja der Puritanismus die friedliche Christengesinnung gepflegt und nun ist der Erfolg der, dass das ganze Christentum Nordamerikas unter der Wucht dieser Friedenstradition steht. Gewiss haben einzelne Prediger nachdrücklich auf das Ziel des Völkerfriedens hingewiesen, pazifistische Vereine sind gegründet worden; aber nicht so sehr, dass man sich hier und dort die Arbeit für den Frieden zur Spezialität macht, ist zu beachten, sondern viel mehr, dass unwillkürlich, was sich kirchlich-religiös auslebt und auswirkt, die internationalen Menschen- und Völkerbeziehungen mit umfasst. Es ist der Missionsgeist, den ich schon berührte, der selbstverständliches Gemeingut aller (angelsächsischen) Denominationen ist, der hier der Armenier und Syrer, dort der Chinesen, dort der Australneger, ja auch gelegentlich noch hier und da der ungläubigen Deutschen sich annimmt. Die internationale Verständigung ist hier von einer tiefgehenden frommen Begeisterung getragen, die auch Katholiken (Kardinal Gibbons) und Juden mitreißt und die öffentliche Politik direkt beeinflusst. Tafts Arbitration-Treaties sind der völkerrechtliche Ausdruck davon. Die Anwendung des Evangeliums auf die äußere Politik ist diesem angelsächsischen Christentum das Natürlichste von der Welt.*)

Einen Mittelpunkt bewusster Arbeit auf dieser Basis zugunsten internationaler Verständigung ist die Lake Mohonk Conference,**) die alljährlich im Norden des Staates New York im Hause des Quäkers Mr. Albert K. Smiley stattfindet, im Mai dieses Jahres zum achtzehnten Male. Aus allen möglichen Nationen und Konfessionen sammelt sie ihre Teilnehmer. Am stärksten wirkt sie begreiflicherweise auf Nordamerika, und mancher Zug der Politik der Vereinigten Staaten, der von dem misstrauischen Europa wegen seiner Hochherzigkeit als besonders verdächtig angeschaut wird, treibt bis in diesen Kreis seine echten Wurzeln. Auch die Friedenstat jener beiden südamerikanischen Bischöfe — ich deutete darauf schon hin — steht im Zusammenhang mit den Anregungen der Lake Mohonk-Konferenz.

*) Von Januar 1913 an wird eine Zeitschrift großen Stiles diese und verwandte Bestrebungen zusammenfassen unter dem bezeichnenden Titel The constructive Christianity. Herausgeber Mc. Bee. Für Deutschland Mitherausgeber Pfarrer Siegmund-Schultze in Berlin, der verdiente erste Sekretär unseres „Kirchlichen Komitees“.

*) Völker-Friede 1912, Augustheft.


Suchen wir von dem allen für die evangelischen Kirchen die Bilanz zu ziehen, so steht fest, dass eine starke Welle religiössittlichen Drängens auf internationale Verständigung aus den nordamerikanischen Kirchen zu uns herüber flutet. Sie trifft zuerst auf Großbritannien, packt und stärkt dort die durch gemeinsame Herkunft und gemeinsame Kirchengeschichte verwandten Elemente. Wir Deutschen sind dem gegenüber spröde, zurückhaltend, rückständig.

Ein Wort der Rechtfertigung dazu. Wir deutschen Protestanten sind lutherisch. Das Luthertum ist die Religion der Innerlichkeit, des Glaubens, der von der Gestaltung der Weltgeschicke unabhängigen Freiheit eines Christenmenschen. So wirkt es durch den Pietismus und den deutschen Idealismus hindurch. Dieser lutherische Glaube vermag im Vertrauen auf die göttliche Vorsehung Unsägliches zu dulden und zu vertragen. Er ist insbesondere auch der Übrigkeit, dem Staat — wenn es nicht gerade die religiöse Gewissensüberzeugung selber gilt — in Demut zugetan. Revolutionskirchen gab es in England, nicht in Deutschland. Die erste große Revolution war auch die französische nicht, sondern die englische. Die tatkräftige Ethik des reformierten Protestantismus steckt dahinter. Wie international dachte, riet und regierte Calvin! Wir deutschen Protestanten fangen erst an, von diesem Erbe zu leben, das schließlich auch unser ist. — Erwacht aber das Gefühl des Glaubens für seinen Weltberuf, ergreift er die Aufgabe, an seinem Teil den Zustand der Dinge umzugestalten, so orientiert er sich selbstverständlich an der Stellung seines Volks und Vaterlandes in der Welt. Und da scheint ja nun in der Tat die zentrale Lage des Deutschen Reichs mit drei offenen Grenzen zu Lande und einer vierten von der Natur doch auch nicht sonderlich begünstigten zur See uns dazu zu verurteilen, ein in Waffen starrendes Volk zu sein. Regt sich dawider die pazifistische Idee, so wird das als unpatriotisch empfunden.

Dennoch und gerade deswegen muss aber ein Verband wie der unsere von den deutschen Kirchen fordern, dass sie ihren Beitrag zur internationalen Verständigung leisten. Mag die Religion sich positiv mit der Tatsache des Krieges abfinden, mag sie auch ihn, wenn er da ist, „wie eine heilige Musik begleiten“*): Eines kann man von den Kirchen, von den Vertretern der Religion verlangen, dass sie allezeit auf der Seite der Friedfertigen, der Friedestifter (Matth. 5,. 9) zu finden seien, wo immer sie in die Lage kommen, das Schwert ihres Geistes in die Wagschale zu werfen, es sei klein oder groß. Wenn aus dem Deutschen Reiche die Friedensgesellschaft nur 117 Geistliche zu ihren Mitgliedern zählt**), so mag man das wenig nennen oder viel; es ist schließlich jedermanns Sache, ob er sich einer Organisation anschließen will oder nicht. Wenn aber Theologen es für ihre Christenpflicht halten, den Krieg zu verherrlichen, so kann man fragen, ob sie den Weg vom Alten zum Neuen Testament schon gefunden haben. Die Zeitschrift „Die Waffen nieder“ hat unter der Rubrik „Gegen die Friedensbewegung“ Stimmen von Verteidigern des Krieges gesammelt, darunter befinden sich viele Geistliche***). Es ist bezeichnend, dass wir von einem akademischen Theologen zwar eine Broschüre haben über und für den Krieg****), keine über und für den Frieden ; und ein anderer Professor der Theologie lehrte 1895 in seiner Berliner Rektoratsrede, dass die Autonomie des Nationalstaats durch kein irgendwie außer ihm stehendes Recht beschränkt werden dürfe, — er sprach also jedem die souveränen Staaten verbindenden und bindenden Völkerrecht grundsätzlich die Daseinsberechtigung ab*****)! Selbst der unermüdliche Vorkämpfer des Pazifismus in Deutschland, Stadtpfarrer Umfrid in Stuttgart, lange der einzige Pfarrer in der Bewegung, hat erst seit 1894 auf eine sozusagen zufällige Veranlassung hin sich in den Dienst der Friedensforderung gestellt******). So ganz allmählich nur dämmert in Deutschland bei den berufenen Wortführern des Christentums die Erkenntnis, dass doch auch Religion und Kirche, ja das Christentum in erster Linie, mit dazu da seien, die Beziehungen zwischen Staaten und Völkern zu gestalten. Man hielt und hält Sedanpredigten, nun wohl; aber man findet sich nicht zu dem Gedanken zurecht, Friedenspredigten zu halten.

*) Schleiermacher, Ueber die Religion, zweite Rede.

**) Unter rund 9.000 Mitgliedern. Katholische Geistliche nur drei.

***) Jahrgang 1894 S. 222 ff. 1895 S. 56 ff. 1896 S. 4liff. 1897 S. 224 ff. 379 f. 1898 S. 422. Vgl. Kirchlicher Anzeiger für Württemberg 1908 Nr. 2 und 5.

****) Kattenbusch, Das sittliche Recht des Krieges. Giessen, Töpelmann, 1906. Vorher erschienen in der Christlichen Welt 1906 Nr. 22 — 24.

*****) Pfleiderer, Die Idee des ewigen Friedens, S. 11 f. Berlin J. Becker 1895.

******) Vgl. Umfrid, Meine Erlebnisse in der Friedensbewegung, in der Ethischen Rundschau, herausgegeben von Schwantje 1912, S. 144 ff. Umfrids Hauptbuch: Friede auf Erden! erschien 1897, zweite Auflage 1898, bei W. Langgut, Esslingen,


Ich muss heute darauf verzichten, den dogmatischen Gründen dieser Haltung gründlicher nachzugehen *). Ich will bei den geschichtlichen und psychologischen einen Moment verweilen.

Rohrbach zeigt uns in seinem schönen Buche „Der deutsche Gedanke in der Welt“*), wie spät der Deutsche überhaupt erst den Blick für das, was jenseits der Grenze, zumal der Seegrenze ihn angeht, gewonnen hat. Hierin hätten die deutschen Kirchen den deutschen Staaten voraus sein können, und an kleinen Anläufen hat es ja auch nicht gefehlt: wir erwähnten schon die Heidenmission und die Evangelische Allianz. Aber wie schwer und spät hat z. B. der Gustav-Adolf-Verein sich entschlossen, die evangelische Diaspora auch jenseits des großen Ozeans aufzusuchen! Und es hatten ja (von den früheren Konfessionskämpfen zu schweigen) zunächst erst einmal die deutschen Landeskirchen, deren wir noch immer 37 zählen mit voller Selbständigkeit, sich zu verständigen und gemeinsames Handeln nach außen zu ermöglichen. Das ist geschehen durch die Konstitution des Deutschen Kirchenausschusses am 13. Juni 1903***). Seitdem gibt es erst ein Organ, das auch internationale Beziehungen zu den Kirchen anderer Nationen im Namen der evangelischen Kirche Deutschlands aufnehmen und pflegen kann. Offiziell ist das noch nicht geschehen. Man ist dem Staate gegenüber in einem Maße vorsichtig, das er gar nicht verlangt.

Ich wiederhole: ein Verband wie der unsere wird von den Kirchen geradezu fordern müssen, dass sie ihren Beitrag zur internationalen Verständigung leisten. Einmal durch tapfere und unermüdliche Predigten des Friedensideals. Inwieweit der vollkommene Friede zwischen den Nationen auch nur annähernd erreichbar ist, das geht sie nichts an ; sie haben das durch das Christentum dargebotene Ideal aufzurichten und zu pflegen. Wie die Dinge sich heute entwickelt haben, können wir heute das Evangelium gar nicht mehr anders verstehen als religiössozial, d. h. aber international. Die Nation ist damit nicht verneint; die Nationen sind nur eben das Subjekt einer internationalen Ethik geworden.

*) Ich müsste dann vor allem auf die Rolle eingehen, welche das Alte Testament in der Erziehung der Christenheit von Anfang an gespielt hat. Nachdrücklich und wiederholt weist darauf hin Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Tübingen, Mohr 1912. Troeltsch redet in seinem umfangreichen Werke zwar so gut wie gar nicht vom Frieden und vom Pazifismus, aber eine gründliche Behandlung unseres Themas müsste sich vor allem mit ihm auseinandersetzen.

**) Düsseldorf, Langewiesche 1912.

***) Vgl. Mirbt, Der Zusammenschluss der evangelischen Landeskirchen Deutschlands. Marburg, Elwert 1903. Schiele, Die kirchliche Einigung des evangelischen Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert. Tübingen, Mohr 1908.


Indem die Kirchen dies Ideal begreifen, verarbeiten und verkündigen, müssen sie aber zweitens auch handeln. Das heißt, sie müssen ihren Völkern helfen, die freundlichen und vertraulichen Verbindungen zu knüpfen, die nur irgend vorhanden oder erreichbar sind. Ein guter Anfang ist da das schon erwähnte, „Kirchliche Komitee zur Pflege der Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland“. In der kritischen Zeit, die diese Beziehungen durchgemacht haben und noch durchmachen, sind die Bemühungen des Komitees gelegentlich von der nationalistischen Presse mit Spott und Hohn übergössen worden *). Als ob die Ehre und Macht des Vaterlandes darunter leiden könnte, wenn auch in den Zeiten größter Spannung menschlich-christliche Beziehungen mit dem Nachbarlande gepflegt werden! Als ob der Kriegstüchtigkeit und Kriegsbereitschaft des eigenen Staates dadurch etwas abgebrochen würde, wenn die Friedenswilligen hüben und drüben sich ihres gegenseitigen Ernstes versichern! Natürlich sind die Staaten das wichtigste Mittel der Verständigung. Aber je größer die Pflicht einer Regierung zu Zeiten sein mag, einer andern Regierung zu misstrauen und die Kraft ihrer Land- und Seemacht für die letzte Entscheidung zu sammeln, desto größer ist gleichzeitig die Pflicht der Kirchen, für die Abwehr fälschlichen Misstrauens das ihre zu tun und zu diesem Zweck mit den vertrauenswerten geistesverwandten Elementen im andern Volke bis zum Äußersten Fühlung zu halten. Schließlich beruht doch darauf, dass solche Elemente, solche ethische Mächte im Staate vorhanden sind, die einzige Hoffnung auf einen internationalen Zustand, der etwas anderes ist als ein latenter Krieg.

[i]*) Z. B. vom Schwäbischen Merkur. Man vergleiche aus dieser kritischen Zeit zwei von deutschen Theologen in London gehaltene Reden, die von Harnack 6. 2. 1911, Christliche Welt 1911 Nr. 32, und die von Deissmann 25. 3. 1912, Der Tag 1912 Nr. 86. — Dass solche Bemühungen nicht umsonst sind, beweist die eben jetzt, vom 30. Oktober zum 1. November, in London tagende deutsch-englische Verständigungskonferenz.

Ich will diese Meinung zuletzt an einem Beispiel klar machen, das manche besonders gewagt finden werden. In Deutschland ist man bis in die freisinnige Partei hinein überzeugt von dem geplanten Überfall, der unsere Flotte im September vorigen Jahres von Großbritannien her bedroht hat. Auch der vorsichtige Beobachter jener Begebenheiten wird zugeben, dass die Spannung und die Gefahr damals groß war. Gleichviel aber wie groß, so ist doch das, was niemand weiß, das Interessanteste. Was hat denn schließlich die letzt verantwortliche Stelle, angenommen alles war zum Losschlagen bereit, im britischen Gouvernement verhindert, den entscheidenden Befehl zu geben? Die Angst, ganz bereit sei man vielleicht doch noch nicht? Wäre es nicht vielleicht doch möglich, dass sich an dieser letzt verantwortlichen Stelle ein Gewissen befunden hat, das aus inneren Gründen davor zurückgebebt ist, die Lunte zu diesem furchtbaren Weltbrand zum Zünden zu bringen? Ein Gewissen, das sich sagte, ein Krieg zwischen diesen beiden Kulturvölkern sei das furchtbarste, was die Menschheit von heute treffen könne, und es seien doch noch nicht alle mit dem Weltanspruch Englands vereinbarten Mittel erschöpft, ihn zu vermeiden? Ein Gewissen, auf das jene puritanische Friedenswelle, von der ich vorhin sprach, vielleicht doch auch ihren Einfluss geübt hat? Ist das nun so unwahrscheinlich? so unmöglich?

Wenn Rohrbach sein ganzes Buch zu dem Zwecke geschrieben hat, sein deutsches Volk aufzurütteln, damit es in der künftigen einheitlich organisierten Welt den Anteil beanspruche, der seinem Geist, seiner Arbeitskraft, seiner sittlichen Stärke gebührt: worauf gründet er seine Zuversicht, dass der deutsche Gedanke ein Stück Weltherrschaft noch erlangen wird? Sicher nicht darauf, dass Großbritannien vor unserer Kriegsmacht erschrickt und sich knirschend ohne Krieg in unsern Anspruch fügt! Dann aber doch wohl nicht einzig und allein darauf, dass der unvermeidliche Krieg für England mit der Erfahrung endet: wir Deutschen sind nun einmal nicht klein zu kriegen — denn das hieße doch alles auf eine schließlich recht unsichere Karte zu setzen! Liegt denn da nicht — auch für einen Mann wie Rohrbach, der doch sonst die idealen und religiösen Mächte zu schätzen weiß — noch ein anderer Weg der Hoffnung offen: nämlich dass drüben in England die Elemente im Volke und in der Regierung oben aufkommen, die im kritischen Moment sich mit uns vertragen und verständigen?

Dass es dahin komme, können gewiss die Kirchen, können die christlichen Theologen und Ideologen hüben und drüben nicht einfach machen. Aber gleichviel, wie weit ihre Macht reicht, ob sie den Segen des Erfolgs haben werden oder nicht — ich sage es zum drittenmal: es muss durch einen Verband wie den unsrigen von ihnen gefordert werden, dass sie ihre Pflicht und Schuldigkeit tun und zur internationalen Verständigung den Beitrag leisten, den sonst niemand leisten kann, oder doch niemand so wie sie.