Der Bauern-Bruegel

Mit 68 Abbildungen nach Gemälden, Kupferstichen und Zeichnungen
Autor: Hausenstein, Wilhelm (1882-1957) Schriftsteller, Kunsthistoriker, Kunstkritiker, Erscheinungsjahr: 1920

Exemplar in der Bibliothek ansehen/leihen
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Kunst, Kultur, Malerei, Bruegel, Sittenbilder,
Die zweite Auflage unterscheidet sich von der ersten, die vor zehn Jahren erschien, durch den neu eingefügten Passus über den „Sturz des Ikarus", durch das (allerdings schon 191 6 einer zweiten Ausgabe der ersten Auflage als Vorwort auf den Weg gegebene) Kapitel über ,,Bruegel den Belgier'', das hier als Schlusskapitel erscheint, durch eine Ergänzung der Bibliographie, durch die Beigabe des Ikarusbildes, des Sprichwörterbildes und einige Veränderungen in den Beschriftungen der Bilder. Im Übrigen blieb die erste Form des Buches und zumal der ursprüngliche Text unverändert.

      München, im April 1920. W. H.


                              Land und Leute.

Als der venezianische ambasciatore Marino Cavalli, der um die Mitte des 16. Jahrhunderts die Niederlande besuchte, in einer seiner geschliffenen Relazionen der ängstlich wartenden Signorie von den Dingen des Nordens Nachricht gab, da fasste er den stärksten Eindruck in ein lapidares Bekenntnis, das er seinem feierlichen Stolz mit Schmerzen abrang: „Ich trage Trauer, denn ich sah Venedig von Antwerpen überflügelt."

Unerhört war die Entwicklung der brabantischen Stadt. Im Wechsel zweier Generationen erhob sie sich, noch am Ausgang des 15. Jahrhunderts dem flandrischen Brügge kaum ebenbürtig, zum ersten Platz der Erde. Um 1550 verglich ein kosmopolitisches Sprichwort Antwerpen dem Demant im Ring der Welt. Die Anfänge solcher Größe waren ohne Pathos gewesen. Mit klüglichem Krämerinstinkt hatte sich die Gemeinde der Politik des deutschen Kaisers angeschmiegt, der sich Mühe gab, die habsburgische Herrschaft in den Landen Karls des Kühnen zu verankern. Als Kaiser Friedrich, die Gefangenschaft des Sohnes zu rächen, dem flandrischen Vorort den Hafen von Sluys verschloss, liefen die fremden Schiffe in die Mündung der Scheide. Und Maximilian selbst lohnte der Kaufmannschaft von Antwerpen ihre Ergebenheit mit Privilegien. Die Verfügung der Politik war dem natürlichen Gang der Dinge angepasst. Der Ort, der zwischen der Atlantis und dem inneren Europa vermitteln sollte, konnte nicht günstiger gelegen sein. Die Atlantis aber war das Meer der neuen Zeit. Ruckhaft hatte die Entdeckung des Seewegs nach Indien die Bedeutung des Mittelmeers gesenkt; Venedig, das Jahrhunderte den Levantehandel geleitet hatte, verlor seine ergiebige Funktion plötzlich an Lissabon. Portugiesische Indienfahrer legten im bedeutungsvollen Jahre 1503 erstmals Gewürzfrachten auf den reinlichen Kais der Scheide nieder; antwerpische Großhändler zerstreuten die Ware nach allen Seiten des Erdteils. Der Zug der Entwicklung war unwiderstehlich. Alle europäischen Fürsten errichteten in Antwerpen Faktoreien. Die Fremden verließen das stürzende Brügge, um ihre Kontore in Antwerpen aufzumachen: die deutsche Hanse, die florentinischen Gualterotti, die Bonuisi von Lucca, die Spinoli von Genua, die Fugger und die Welser von Augsburg. Die Beziehungen der Stadt dehnten und vervielfältigten sich. Der Verkehr gewann Regel und Festigkeit. Anconas Schiffe kehrten nun in gemessenen Zeitabständen an, um Gewürze, Drogen, Zeuge und Farben abzuladen. Venedig schickte Zimt, Nelken, Ingwer und Muskat, Ebenholz und Tapeten. Bologna und Florenz sandten köstlichen Brokat; von Neapel kamen Rauhwaren, von Sizilien Südfrüchte und Süßweine, von Mailand damaszierte Waffen und große Mengen von Käse und von Reis. Deutschland sandte Silberbarren und Kupfererze, Rheinweine und Rohwolle, Frankreich Öle, Weine, Salz und Papier. Englische Segler trugen Zinn, Blei, Wolle und Schaffelle, spanische die erlesensten Perlen und Edelsteine und den ersten Samt von Toledo; die Portugiesen erschienen mit Zucker, Konfitüren, Brasilholz und Chinawurzeln, die seegewohnten Skandinavier mit Holz, Salpeter, Pelzwerk, Fischen und Bieren. Polen und die südrussische Ebene entsandten gewaltige Getreidefrachten. Mit mehr als viertausend eigenen Seglern befuhr die Kaufmannschaft von Antwerpen die Meere der Welt, um die Schätze fremder Länder auf brabantischem Boden zu häufen. Um 1550 schwammen regelmäßig zweitausendfünfhundert Frachtschiffe auf der stattlichen Scheide nahe der Stadt; fünfhundert etwa wurden täglich ausgewechselt. Die Zeitgenossen erbebten vor Enthusiasmus, und ihre bewundernden Schilderungen sind uns lebende Zeugen längst verklungener Erregung. Der spröde Kastilianer Christobal Calvete de Estrella kapitulierte vor dem gewaltigen Rauschen der Weltstadt, die er nur mit Karthago zu vergleichen wusste. Gerne wanderte der Florentiner Ludovico Guicciardini auf den wohlgepflasterten Hafendämmen, um den brausenden Rhythmus der Arbeit zu hören. „Spannend und staunenswert ist dies Einladen und Ausladen und dies gewaltige Flussbild mit dem ewigen Wechsel von Ebbe und Flut, das doch ein einziger Blick umspannen kann; wundervoll ohne Übertreibung, zu jeder Stunde Menschen aller Sprachen und Nationen geschäftig um die Schiffe herumschwirren zu sehen und sich an der Mannigfaltigkeit der Güter zu ergötzen, mit denen sie handeln; wundervoll, so viele Arten von Schiffen zu betrachten, so viele technische Geräte und Methoden zu studieren, nach denen sie bewegt werden. Kurz — zu jeder Zeit findet man dort etwas Neues." Und doch war das alles nur ein Teil. Zweitausend Frachtwagen kamen allwöchentlich nur von Deutschland herein. Sechswöchentliche Freimärkte zogen zweimal des Jahres die Händler aller Länder herbei; dann wurde das Gewimmel fremder Laute, Sitten und Trachten zu jenem sinnbetäubenden Schauspiel, von dem Erasmus so lebendig geschrieben hat. Das Treiben an der vielsprachigen Börse, die täglich fünftausend Besucher sah, hatte auf der Welt nicht seinesgleichen. Hier verkehrten die Bankiers, vor denen die Könige Europas die Häupter entblößten; hier erwarb Anton Fugger das kolossale Vermögen, das zum sprichwörtlichen Maß unmessbarer Reichtümer wurde. Aber der Effektenhandel hatte nicht das Gewicht des Warenhandels. Die Antwerper Wareneinfuhr betrug im Jahre 1550 etwa sechzig Millionen Mark modernen Geldes — innerhalb eines Jahrzehnts stieg sie auf dreihundertneunzig. Die Ziffer ist — zumal bei der höheren Kaufkraft des Geldes von dazumal — ganz ungeheuer; aber sie ist glaubhaft. Und der Reichtum der Stadt eilte, sich in Zahl und Befinden der Bewohner und im architektonischen Bilde auszudrücken. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts hatte Antwerpen um zweimalhunderttausend Einwohner. Wenn der rhetorische Reiz der Übertreibung den Neid des Venezianers aufwog, dann hatte Cavallis Hyperbel einiges Recht zu behaupten, in Antwerpen lebe kein Mensch, der in seiner relativen Lage nicht wohlhabend sei. Selbstverständlich, dass die weltmännische Negligeance des seidenen Kavaliers die Rotten der Armen übersah. Ihm verschlug es wenig, dass Karl V. den Armen verbot, das Kostüm der Leprosen zu missbrauchen, denen das Monopol gelassen war, zu betteln und die Leichen einzuscharren, die vom Galgen faulten. Aber die Oberfläche der Stadt war blendend. 1561 begann Vriendt das stolze Renaissancerathaus. Die Straßen der Stadt boten ein Bild der Ordnung, der Solidität, des Bürgerbehagens — und in fatale Quartiere ging man nicht. Man freute sich der schönen Plätze, amüsierte sich bei jeder Gelegenheit und sah vergnügt den zierlichen, schöngeschwungenen Fregatten entgegen, die auf sauberen Kanälen die Stadt durchkreuzten und die Güter der unbezweifelbarsten Biedermänner mit Würde einhertrugen.

I. Schiff. Kupferstich nach Bruegel von Frans Huys. 1565

Eine Betrachtung, die künstlerische Leistungen als Glieder eines Kulturganzen zu sehen strebt und das notwendig Fragmentarische nur ästhetisch orientierter Problemlagerungen zu überwinden trachtet, kann das detaillierende Verweilen beim Wirtschaftsgeschichtlichen, beim Gemeingeschichtlichen nicht entbehren. Das Gemeingeschichtliche wird um so wichtiger, je stärker die Betrachtung dahin neigt, den illustrativen Gehalt einer Kunst zu verlangen. Das Illustrative ist immer kulturgeschichtliche Darstellung — oder doch kulturgeschichtliches .Dokument. So glänzte die Kunst der belgischen Primitiven auf die wirtschaftliche Macht Brügges, Flanderns zurück — aus deren edelsten Impulsen dem wartenden Maler die Fülle der Kraft, der Ruhe, der Schaffenssicherheit zugewachsen war. Brügge versank. Der Reichtum wanderte nach Antwerpen und schuf dort die Lebensgrundlagen einer neuen Kunst, die ihn adelte. Ihr Name war B r u e g e l.

02. Der Sommer. Kupferstich nach Bruegel (Postum) Vorlagezeichnung von 1558.

Längst erhob sich diese breit dahertretende Handelsbourgeoisie zu ästhetischen Ansprüchen. Guicciardini bewunderte die Galantise der Kleidung seiner Gastfreunde. Vor ihm rühmte Dürer die Freude des Antwerpers an der Person und an dem Werk des Künstlers. Überrascht empfing der wenig verwöhnte Nürnberger die liebenswürdige Huldigung des Magistrats; überrascht verfolgte er die nuancierte Pracht der Kirchen und Häuser — er, der köstliche Kleinigkeiten zu schätzen wusste wie wenige. „Zu Antwerpen spart man keine Kosten zu solchen Dingen, denn da ist des Geldes genug.“ Die Herren waren eine stattliche Sippe heiterer Bonvivants. Sie suchten das Beispiel des untätigen Stadtadels, der ihnen erfolgreicher als den Apparat feudaler Prärogativen in der Stadtverwaltung das Muster eines loyalen Genusslebens entgegenhielt. Die schimmernden Überlieferungen der burgundischen Herzöge waren in diesem Volk unsterblich, weil sie seiner Natur entsprachen. Gern erinnerte man sich des prächtigen Hofes, wiewohl er soviel Bürgergeld gefordert hatte, gern des Feuers jener Farben, der üppigen Blüte jener Empfindungen, der überwältigenden Ursprünglichkeit jenes animalischen Humors. Der König war tot — er mochte leben! Jeder Tag war den Antwerpern willkommen, der öffentlicher Entfaltung des Reichtums Vorwand gab. Mit feistem Wohlgefühl schritt der kostbar gekleidete Bürger unter den Gildegenossen in der endlosen Prozession, aus der die steilen Kerzen von feinstem brabantischem Wachs, die frommen Silberposaunen der Urväter, die Fahnen der Bruderschaften und die Bilder der Heiligen hinaufragten. Mit der Zufriedenheit des sicheren Mannes sah er die Statue des fabelhaften Riesen Antigon über den Häuptern der Schreitenden; in ihr verkörperte die kunstgeübte Hand des Meisters Coeck van Aelst die Brutalität der Wegelagerer einer rechtlosen Vergangenheit. Keiner sparte das Geld, das spielkundige Freunde nötig hatten, um dem Ommegang die unterhaltende Zierde biblischer und allegorischer Tableaux zu verleihen. Aber der Glanz der kirchlichen Feste erblasste vor der Pracht weltlicher Umzüge. Schützengildenfeste mit prunkenden Corteges, mit sehr seriösen Sinnspielen und den massiven Rüpelszenen, die das Jahrhundert Shakespeares forderte, gaben der Stadt und ihren Schwesterstädten das Gepräge immerwährender Feiertage. Mit ästhetisch-philosophischen Ansprüchen sonderten sich literarische Bürgerklubs von dem gemeineren Geschmack der harmlosen Mehrheit. Der halb burleske, halb andächtige Ton der geistlichen Theater genügte den Rederykers nicht mehr. Sie verlangten nach spirituelleren. Formen der Unterhaltung. Von der großen Freude der Renaissance an der Beweglichkeit des spekulativen Geistes, an der grammatischen Kultur der Alten und ihrer ewig formenschaffenden Einbildungskraft hingerissen, schufen auch diese biderben Hyperboräer ihr Ding von Humanismus. Gar artig agierten und dialogisierten die Antwerper Vidieren und die anderen Kamers von Rhetorica auf dem großen Landjuwel von 1561, der das ganze literarische Niederland in Antwerpen versammelte, die offizielle Preisfrage, „wie man den Menschen zur Kunst erziehe". Da war ein Kommen und Gehen von feierlichen allegorischen Personnagen. Das Gerücht, die Dummheit, die Liebe, der Ruhm, die Arbeit, die Weisheit und viele andere bedeutsame Subjekte stritten mit dem Aufgebot aller antiken Requisiten vom Olymp bis zum Acheron und von Pythagoras bis Cicero um das „verlangende Herz" — denn nicht als schmachvoll-sinnliches Sonderwesen, sondern nur als erhabene, von allen Schlacken des Zufälligen gereinigte Abstraktion durfte der Mensch die Bretter betreten. Die Maler drunten im Publikum lauerten, ob sie den spitzen Geist dieser Erfindungen wohl in sauberen Kupfern verewigen könnten. Aber die schöngeistige Tournüre hatte ihre Zeit.

03. Flusslandschaft. Federzeichnung mit Tinte von Bruegel. 1552

Hausenstein, Wilhelm (1882-1957) Schriftsteller, Kunsthistoriker, Kunstkritiker

Hausenstein, Wilhelm (1882-1957) Schriftsteller, Kunsthistoriker, Kunstkritiker

00 Pieter Bruegel der Ältere

00 Pieter Bruegel der Ältere

01  Schiff, Bruegel, 1565

01 Schiff, Bruegel, 1565

02 Der Sommer, Bruegel 1558

02 Der Sommer, Bruegel 1558

03. Flusslandschaft. Federzeichnung mit Tinte von Bruegel. 1552

03. Flusslandschaft. Federzeichnung mit Tinte von Bruegel. 1552