Der Abt (Walter Scott)

Autor: Walter Scott (1771-1832), Erscheinungsjahr: 1820

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Erstes Kapitel

Unmerklich eilt die Zeit dahin, und stufenweis wandelt sie, wie die äußern Verhältnisse, Tracht und Sitten und Charakter. Ist der Mensch fünf Jahre älter geworden, so ist er ein andrer geworden, und doch derselbe geblieben: die Welt um ihn her hat sich nicht geändert, er sieht sie aus andern Gesichtspunkten an, er beurteilt Grundsätze und Handlungen anders.

Halbert Glendinning und seine Frau waren um zweimal fünf Jahre älter geworden, seit wir sie in der Erzählung „Das Kloster“ verließen, in der sie eine so hervorragende Rolle spielten. Das Band, das so glücklich für sie war, wie es gegenseitige Liebe nur immer zu schließen vermag, hatte sich nicht gelockert, aber ihr Glück war durch einen doppelten Umstand getrübt worden: einmal durch die wirtschaftliche Not, die über ganz Schottland hereingebrochen war, dann durch die zerrütteten Verhältnisse dieses unglücklichen Landes, in welchem ein Bürger den andern mit der Spitze seines Schwertes bedrohte. Gegen Murray hatte sich Glendinning bewährt, wie Murray es erwartet hatte: unwandelbar in der Freundschaft, tapfer im Kampfe, besonnen im Rat. Drum wurde er auch, war Gefahr im Anzuge, und das war nicht selten der Fall, von seinem Patron immer entboten zur Teilnahme auf Kriegszügen oder bei mühseligen Unternehmungen, wie er auch immer seinen Rat einholte bei den Ränken und Intrigen eines halb in Verwilderung versunknen Hofes.

Daher kam es denn, daß Sir Halbert Glendinning – denn er war inzwischen zur Ritterswürde gelangt – oft und lange von seinem Schloß und seiner Gemahlin fern war, und der Umstand, daß ihre Ehe nicht mit Kindern gesegnet war, die während seines Fernseins die Herrin von Avenel hätten trösten können, war auch nicht danach beschaffen, ihr Mißvergnügen hierüber zu lindern.

Sie lebte zu solchen Zeiten völlig abgeschieden von der Welt, im Bereiche der Wälle ihrer väterlichen Burg. Von Besuchen der Nachbarn untereinander war nicht die Rede, besondre Festlichkeiten ausgenommen, und auch dann beschränkte sich der Verkehr immer nur auf die allernächste Verwandtschaft. Bei der Schloßherrin von Avenel war solche aber nicht vorhanden, und die Damen der in der Schloßnachbarschaft sässigen Barone betrachteten sie nicht sowohl als Erbin von Avenel, als vielmehr als Frau eines Bauern, der als Sohn eines Kirchenvasallen durch Murrays launenhafte Gunst wie ein Pilz emporgeschossen war. Dieser Adelsstolz trat schärfer noch bei den Frauen zu Tage als bei den Männern, und nicht wenig trugen auch die Fehden der damaligen Zeit dazu bei, den zwischen den Geschlechtern vorhandnen Zwiespalt zu mehren, denn die meisten Adelinge des Südens waren auf Seite der Königin und auf das Uebergewicht Murrays in hohem Grade eifersüchtig. All diese Umstände trugen dazu bei, das Schloß Avenel für die Schloßherrin zu einem recht traurigen und einsamen Aufenthalte zu machen. Der Vorzug der Sicherheit wurde hierdurch freilich nicht verkümmert. Wie der Leser noch aus der Erzählung „Das Kloster“ weiß, war es auf einer kleinen Insel in einem kleinen See erbaut, ein Dammweg bildete seinen einzigen Zugang, und ein doppelter Graben, der von zwei Zugbrücken verteidigt wurde, durchschnitt diesen Damm, so daß das Schloß für damalige Zeiten, wo man noch keine Geschütze kannte, als unbezwinglich galt. Ein halbes Dutzend Bewaffneter reichte aus, es vor Ueberrumpelung zu schützen, und bei ernsterer Gefahr wurde aus der männlichen Bewohnerschaft eines kleinen Dörfchens, das sich zwischen See und Hügel auf einer schmalen Landzunge, unfern der Stelle, wo der Dammweg das feste Land erreichte, unter Halberts wirksamer Förderung angesiedelt hatte, rasch ein Besatzungskorps herangezogen. Dem Schloßherrn von Avenel, dessen Leutseligkeit als Lehnsherr bekannt war, wurde es nicht schwer, Hörige zu finden. Seine Eigenschaft als Günstling des mächtigen Grafen von Murray, wie als kriegserfahrner Herr, war hierzu auch nur förderlich, denn wer unter seinem Banner sich niederließ, durfte auch rechnen, Schutz und Verteidigung zu finden. Auf dreißig rüstige Mannen durfte er auf diese Weise immer rechnen, und zur Verteidigung für seine Burg war diese Anzahl völlig hinreichend. Die Angehörigen der Dörfler fanden während solcher Zeit mit ihrem Vieh Zuflucht in den Schluchten der Berge und überließen es dem feindlichen Kriegsvolk, sich in den leeren Hütten zu behelfen.

Bloß ein Mann verweilte, wenn auch nicht als regelmäßiger, so doch als häufiger Gast im Schlosse Avenel. Das war Heinrich Warden, der sich jetzt wieder frisch genug fühlte, das recht mühevolle Amt eines reformierten Geistlichen auf sich zu nehmen. Da er sich nun durch seinen Eifer mit mehreren angesehenen Adelingen und Parteiführern in Zwist gesetzt hatte, meinte er sich auf dem Rittersitze eines befreundeten Herrn, der obendrein Parteigänger eines Grafen von Murray war, am sichersten zu befinden. Demungeachtet unterließ er nicht, mit der Feder seiner Sache ebenso freudig und rührig zu dienen wie vordem mit der Zunge, und verfocht einen grimmigen Streit mit dem Abte Eustachius, ehedem Unterprior von Kennaquihr, über das sogenannte Meßopfer, der in einer Flut von Schriften und Gegenschriften schon eine Zeitlang die Gemüter lebhaft beschäftigte. Selbstverständlich kann nun aber solch schreibseliger Theologe auch keinen anziehenden Gesellschafter abgeben für eine einsame Dame. Sein strenges, in sich gekehrtes Wesen war vielmehr eher Ursache, die Düsterkeit im Schloß zu mehren, statt zu mindern. Die Aufsicht über die zahlreiche weibliche Dienerschaft machte die wichtigste Beschäftigung der Schloßherrin aus. Rocken und Spindel waren ihr ebenso vertraut wie die Bibel, und die einzige Zerstreuung, die sie sich gönnen durfte, war ein Spaziergang auf der Schloßmauer oder auf dem Dammwege oder dann und wann einmal, aber nicht oft, am Seeufer.

Indessen war die Unsicherheit in jenen Zeiten so groß, daß der Turmwächter, wenn sie einmal den Einfall bekam, ihren Spaziergang ins Dörfchen auszudehnen, immer erst Weisung bekam, die Gegend fürsorglich abzuspähen, ob auch kein Feind in der Nähe sei, und vier bis fünf Mann sich bereit hielten, beim geringsten Anzeichen eines Ueberfalls aufzusitzen und zum Dorfe hinaus zu sprengen.

So sah es im Schlosse von Avenel aus, als nach mehrwöchentlicher Abwesenheit der Heimkehr des Schloßherrn entgegengesehen wurde. Ein Tag um den andern verging, und der Ritter von Avenel, wie Sir Halbert Glendinning gemeinhin genannt wurde, kam nicht. Briefe zu schreiben war damals noch nicht Brauch. Der Ritter hätte auch, wenn er es gewollt hätte, sich der Hilfe eines Schreibers bedienen müssen. Zudem hatte man damals keinen regelmäßigen Beförderungsdienst, sondern war auf zufällige Gelegenheiten angewiesen, und es fiel niemand ein, von Zeit und Richtung einer Reise, die er vorhatte, etwas verlauten zu lassen, weil er dann mit ziemlicher Gewißheit hätte, drauf rechnen können, mehr Feinden als Freunden zu begegnen.

Zufolgedessen war niemand auf dem Schlosse über den Tag genau unterrichtet, an welchem Sir Halbert eintreffen werde, aber die Frist, die seine Gemahlin sich ausgerechnet hatte, war schon lange verstrichen, und ihre Ungeduld weckte langsam Mißmut und Groll, und schwermütige Betrachtungen erfüllten ihr Gemüt.

Es war ein schwüler Sommerabend, und die Sonne war schon ziemlich hinter den Bergen von Liddesdale verschwunden, die man im Westen aufsteigen sah, als die Dame sich zu einem Spaziergang längs der Zinnen, die an einer Reihe von Vordergebäuden entlang führten und auf breitem, bequemem Pfade zu gehen erlaubten, entschloß. Glatt wie ein Spiegel lag der See, kein Lüftchen kräuselte seine Fläche und die niedrigen Höhen, die ihn umfriedeten, zeigten in den Fluten ihr Abbild. Die Einsamkeit wurde nur gestört durch helle Kinderstimmen aus dem Dorfe oder durch einen fernen Hirtenruf. Dann und wann ließ eine Kuh ihre dumpfe Stimme hören, die Mägde zum Melken rufend, die mit der Gelte auf dem Kopfe unter hellklingendem Gesang zum Stalle zogen. Und sie gedachte an frühere Tage, als es ihre liebste Arbeit und ihre größte Freude war, der Frau Glendinning und der Magd Tibb Tacket beim Melkgeschäft an die Hand zu gehen.

„Warum bin ich nicht die Bauerndirne gewesen, für die ich in aller Augen galt?“ sprach sie bei sich; „wir hätten friedlich unser Leben in diesem Tale verlebt, Halbert und ich, ungestört von den Truggebilden der Furcht und des Ehrgeizes. Dann wäre Halberts höchster Stolz gewesen, Herr über die schönste Herde in Halidome zu sein, und keine andre Gefahr hätte er kennen gelernt, als einen Dieb aus unserm Grenzbezirk zu verscheuchen, auch wären wir nicht länger getrennt voneinander gewesen als Zeit notwendig war, einen Hirsch oder ein andres Standwild zu jagen. Aber ach! was wiegt das Blut auf, das Halbert vergossen hat, was macht die Gefahren wett, denen er entgegengeht, um Rang und Namen zu behaupten, die ihm wert sind, weil er sie durch mich besitzt, die wohl aber nimmer auf unsre Nachkommen sich fortpflanzen werden, denn mit mir muß der Name Avenel verlöschen!“ Sie seufzte schwer, und sie blickte zum Seeufer hinunter, wo sich Kinder verschiedenen Alters die Zeit im lustigen Spiele damit vertrieben, ein geschickt aus Holz gezimmertes Schiffchen die Probefahrt machen zu lassen.

„Warum hab ich nicht ein paar solcher Wildfänge?“ sprach sie bei sich, denn die trübe Stimmung war noch immer nicht von ihr gewichen. „Die Leute, denen sie gehören, sind kaum im stande, sie zu ernähren und zu kleiden, und ich könnt sie aufziehn im Ueberfluß, aber mir ist der Muttersegen verschlossen!“

Bitter fiel ihr dieser Gedanke aufs Herz, und Neid erfüllte ihre Seele. So tief ist dem Weibe das Sehnen und Verlangen nach einem Kinde eingeimpft! Schmerzvoll, wie ringend unter dem Uebermaß der trostlosen Empfindung, vom Himmel also gestraft zu sein, preßte sie die Hände ineinander. Ein großer Jagdhund, von der Windspiel–Rasse, kam zu ihr herangesprungen und leckte ihr, wie veranlaßt durch diese Gebärde, die Hände. Sie gab ihm die Liebkosung zurück, indem sie ihn am Kopfe kraute, aber ihre trübe Stimmung wollte nicht weichen.

„Wolf,“ sagte sie zu ihm, „bist ein, schönes Tier, ein edles Tier, aber ich wünsche mir Liebe und Zuneigung bessrer Art, so lieb ich ja auch dich habe.“

In diesem Augenblick erklang vom See her angstvolles Wehgeschrei. Die Dame blickte voll Unruhe auf. Sie erkannte sogleich den Grund dazu, und war heftig erschrocken. Das kleine Schiffchen war in eine Untiefe getrieben und zwischen Wasserlilien hängen geblieben, und ein kecker, kleiner Kerl hatte sich ohne Zaudern ins Wasser hinein gewagt, um das Schiffchen heranzuholen, war aber, obwohl des Schwimmens kundig, mittwegs vom Ufer entweder mit der Brust an einen Felsen gestoßen oder von einem Krampfe befallen, kurz, schwebte in Gefahr zu ertrinken, denn er war schon ein paarmal unter Wasser geraten, hatte sich aber immer wieder in die Höhe gearbeitet; doch drohten ihn die Kräfte langsam zu verlassen, und nun erhoben seine Kameraden ein Zetermordio, aber keiner fand den Mut, ihm zu Hilfe, zu eilen. Die Dame schrie nun auch angsterfüllt um Hilfe, und befahl den ersten ihrer Leute, die sich daraufhin sehen ließen, das Boot herbeizuschaffen und dem Kinde zu Hilfe zu eilen. Das brauchte jedoch ein paar Minuten Zeit, denn das Boot lag in dem Kanal hinter dem Dammwege. In der Zwischenzeit verfolgte die Dame mit unsäglicher Pein die Anstrengungen des Knaben, sich über Wasser zu halten, aber es fing ihm sichtlich die Kraft zu schwinden an, und sicher wäre er untergegangen, ehe ihm Hilfe durch das Boot hätte werden können, wenn nicht plötzlich von andrer Seite her unvermuteter Beistand gekommen wäre. Das Windspiel, ein geübter Schwimmer, war mit einem Satze im See. Mit dem bewunderungswürdigen Instinkt, der diese Tiere auszeichnet, schwamm es direkt auf die Stelle hin, wo seine Hilfe von nöten war, packte den Knaben am Gesäß und zog ihn in der Richtung zum Dammwege hin, wo ihm zunächst fester Boden winkte. Inzwischen war das Boot herbeigekommen und traf den Hund mittwegs. Die Männer nahmen ihm seine Last ab und legten am Dammwege grade unterhalb des Schlosses an. Die Schloßherrin kam ihnen mit ein paar Mägden entgegen. Der Knabe, aus dem alles Leben gewichen zu sein schien, wurde ins Schloß getragen und auf ein Bett gelegt. Heinrich Warden, der nicht ohne einige Kenntnis in der Heilkunde war, ordnete die notwendigste Behandlung an, doch schien es lange, als wenn es nicht gelingen sollte, Leben in den Körper zurückzuführen.

Die Dame sah mit gespannter Erwartung auf das bleiche schöne Gesicht des Knaben, der etwa zehn Jahre alt sein mochte. Er trug Sachen vom gröbsten Stoff, das lange gelockte Haar und der edle Ausdruck seiner Züge stimmten jedoch nicht mit dieser Dürftigkeit seines Aeußern überein. Kein stolzer Adeling hätte solches Kindes sich zu schämen gebraucht, jeder hätte sich glücklich geschätzt, solches Kind als Stammhalter und Erben sein eigen zu nennen.

Noch immer betrachtete die Dame das schöne Kindergesicht, und noch immer zeigte es keine Spur von Leben wieder. Tiefer Ernst lagerte sich auf das freundliche Antlitz der holden Frau, und deutlich erkannte man, wie tief sie der Schmerz über dieses Unglück traf. Fast schien es, als solle alle Mühe verloren sein, die Heinrich Warden sich gab, fast schien es, als wenn sich der wackre Wolf umsonst bemüht hätte, da plötzlich trat ein leichter Anflug von Röte auf das Gesicht des Knaben, dann hob ein schwerer Seufzer die kleine Brust, und dann schlug er die Augen auf und streckte die Arme aus nach der Frau, die an seinem Bette stand, und stammelte das für jedes Frauenohr so süße Wort: „Mutter“.

„Meine Gnädige,“ sprach der Pfarrer, „Gott hat Euch ein Kind gesandt; Euch liegt es nun ob, das Kind zu erziehen, auf daß es dereinst nicht wünsche, in seiner Unschuld umgekommen zu sein.“

„Dafür will ich sorgen,“ erwiderte die Dame, umschlang das Kind und küßte und liebkoste es. So stürmisch war ihr Gemüt erregt worden durch den Schrecken, den sie ausgestanden hatte, und so stark war die Freude über solch unerwartete Rückkehr zum Leben. „Aber Du bist ja nicht meine Mutter,“ sagte der Knabe, der nun auch das Bewußtsein wiederfand und trotz aller Schwäche doch Kräfte, genug besaß, die Liebkosungen der Schloßherrin von Avenel von sich abzuweisen. „Du bist doch nicht meine Mutter! ... Ach, ich habe keine Mutter, ich träumte nur, als hätte ich eine.

„Den Traum, lieber Knabe, will ich Dir deuten,“ sagte die Dame von Avenel, „ich selbst will Dir hinfort Mutter sein. O, hat mein Gott mich, nicht erhört und mein Sehnen endlich gestillt? hat er in seiner Gnade mir nicht, ein Wesen gesandt, dem ich all meine Liebe schenken soll?“

Der Pfarrer wußte nicht recht, was er auf diesen leidenschaftlichen Gefühlsausbruch eines Frauenherzens antworten solle, der ihm im ersten Augenblick wohl überschwenglich erscheinen mochte. Jetzt wurde auch der große Jagdhund, der sich bei allen Mitteln, die man angewandt hatte, den toten Knaben, wieder zu sich zu bringen, ruhig verhalten hatte, ungeduldig und mochte nicht länger leiden, daß sich niemand um ihn mehr kümmerte, sondern fing an zu winseln und seine Herrin mit seinen Pfoten zu liebkosen.

„Ja doch, ja doch,“ sagte sie, „auch an dich soll die Reihe kommen, mein Getreuer,“ sagte die Dame, „auch an dich soll gedacht werden, bist ja doch heute gar ein tapfrer Hund gewesen! hast solch liebem Knaben das Leben gerettet!“

Aber Wolf war mit den Brosamen, die auf seinen Anteil kamen, gar nicht recht zufrieden, sondern winselte weiter und liebkoste die Herrin noch immer mit den Pfoten. Da er noch pitschnaß war, wurde es der Dame endlich lästig, und sie gab einem Diener Befehl, das Tier hinauszubringen. Trotzdem es aber ein Diener war, an den der Hund gewöhnt war, kehrte er sich so lange nicht an die von der Herrin gegebene Weisung, und ließ den Diener nicht an sich herankommen, bis die Herrin selbst zur Türe schritt und ihn hinauswies. Da wandte der Hund sich nach dem Bette um, auf dem der Knabe lag, halb seiner Besinnung wieder mächtig, halb noch in Fieberträumen befangen, erhob ein dumpfes, wildes Geheul, fletschte die Zähne, die dem Gebiß eines richtigen Wolfs an Stärke und Schärfe nur wenig nachstanden, drehte sich knurrend zu dem Diener herum und ließ sich herausbringen.

„Merkwürdig,“ meinte die Dame, „das Tier ist sonst so gutmütig, besonders gegen Kinder. Was kann ihn so erbittern gegen den kleinen Kerl, dem er doch das Leben gerettet hat?“

„Hunde,“ sagte der Pfarrer, „gleichen dem Menschen in seiner Schwachheit nur allzusehr, obgleich die Natur sie seltener irre führt als den armen Sterblichen sein Verstand, wenn er der eignen Kraft vertraut und der göttlichen Hilfe entraten zu können meint. Eifersucht ist dem Hunde nicht unbekannt, meine liebe Dame, er verrät sie oft, nicht nur der eignen Gattung gegenüber, wenn ihr Herr einen andern Hund bevorzugt, sondern sehr oft Kindern gegenüber, wenn sie Nebenbuhler in der Gunst ihrer Herren zu werden drohen. Ihr habt das Kind mit Liebkosungen überschüttet, und nun wittert er einen Gegenstand in ihm, der ihn aus Eurer Gunst verdrängen wird.“

„Das ist ein wunderlicher Naturtrieb,“ antwortete die Dame, „und aus dem Ernst mit dem Ihr auf die Frage eingeht, mein ehrwürdiger Freund, möchte, ich fast schließen, Ihr hieltet die wunderliche Eifersucht meines Lieblingshundes nicht bloß für vorhanden, sondern auch für begründet. Aber Ihr sprecht vielleicht im Scherz.“

„Ich scherze nicht oft,“ erwiderte der Pfarrer, „das Leben ward uns nicht gespendet, daß wir es vertun sollen in eitlem Spiele. Ihr solltet aus meiner Rede, sofern es Euch beliebte, für Euch die Lehre entnehmen, daß unsre schönsten Empfindungen, wenn wir uns ihnen im Uebermaß hingeben, andern Geschöpfen Leid bereiten können. Nur eins gibt es, dem wir nachhängen dürfen mit aller Stärke unsers Denkens und Empfindens, ohne daß wir zu befürchten brauchen, Uebermaß könne schaden, das ist die Liebe zu unserm Schöpfer.“

„Aber dasselbe Gebot weist uns doch,“ bemerkte die Dame, „auch auf die Liebe zu unserm Nächsten!“

„Allerdings, meine Gnädige,“ antwortete Warden, „aber unsre Liebe zu Gott soll ohne Schranken sein, ihn sollen wir lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit ganzem Gemüte. Die Liebe hingegen, die wir für unsern Nächsten haben sollen, ist einer genauen Begrenzung und Bestimmung unterworfen. Unsern Nächsten sollen wir lieben wie uns selbst, und außerdem erläutert uns noch das große Gesetz dieses Verhältnis durch die Beiworte: daß wir ihm tun sollen, wie wir wollen, daß er uns tue. Hier ist der schönsten unsrer Empfindungen eine Grenze gesteckt, ein Ziel gesetzt, soweit dieselben auf irdische, vergängliche Dinge gerichtet sind. Wir sollen unserm Nächsten, gleichviel welches sein Rang und seine Stellung sei, jenen Grad von Liebe oder Zuneigung zuwenden, den wir von ihm selbst erwarten, auf den wir von ihm als Gegenleistung rechnen können, wenn er im selben Verhältnis zu uns stände wie wir zu ihm. Daraus ergibt sich, daß weder Mann noch Weib, weder Sohn noch Tochter, weder Verwandter noch Freund uns zu Gegenständen abgöttischer Liebe werden sollen. Denn der Herr unser Gott ist ein starker und eifriger Gott, welcher nicht duldet, daß wir einem seiner Geschöpfe die Anbetung zollen, die Er, der uns schuf, für Sich erheischet. Ich sage Euch, meine Gnädige, auch die schönsten und reinsten unsrer Empfindungen, die uns am meisten zur Ehre gereichen, haben jenen, Uranstrich von Sünde, der uns bestimmen muß, Einhalt zu tun und uns zu besinnen, ob wir recht tun, uns ihnen hinzugeben bis zum Uebermaße.“

„Ich verstehe den Sinn Eurer Worte nicht, hochwürdiger Herr,“ erwiderte die Dame, „noch vermag, ich mir zu erklären, wie das, was ich zurzeit getan oder gesagt haben mag, solche Zurechtweisung, die einen Beigeschmack von Tadel zu haben scheint, verdienen kann.“

„Verzeiht mir, bitte, meine Gnädige,“ erwiderte Warden, „falls der Wunsch zu lehren mich über die Grenzen meiner Pflicht geführt haben sollte. Aber bedenket, ob bei dem feierlichen Gelöbnis, dem armen Kinde nicht bloß Beschützerin, sondern auch Mutter zu sein, Ihr Euch der Zustimmung jenes edlen Ritters, dessen Gemahlin Ihr seid, versichert halten dürfet. Die Zärtlichkeit, die Ihr dem unglücklichen und, wie ich gern gelten lasse, auch liebenswürdigen Kinde zuwendet, hat eine Regung in Eurem Lieblingshunde wachgerufen, die einem Vorwurfe nicht unähnlich ist. Gebt nun nicht Eurem edlen Gemahl noch Anlaß zu Mißvergnügen, zu Unzufriedenheit! Nicht bloß das Tier ist eifersüchtig auf die Neigungen derjenigen, denen sie ihre Zuneigung widmen, sondern auch der Mann.“

„Hochwürdiger Herr, Ihr geht zu weit,“ sagte die Dame, denn sie fühlte sich tief gekränkt. – „Ihr seid lange Gast in unserm Schlosse gewesen, habt vom Schloßherrn wie auch von mir alle Achtung, Ehre und Liebe genossen, die wir Laien Eurem Stande schuldig sind. Aber ich wüßte nicht, daß ich Euch je ermächtigt hätte, in unsre ehelichen Verhältnisse Euch zu mischen oder über unser Leben als Mann und Frau zu richten. Ich möchte doch bitten, dies in Zukunft zu unterlassen.“

„Meine Gnädige,“ versetzte der Pfarrer mit einer den Angehörigen seines Standes damals eigentümlichen Unerschrockenheit, „seid Ihr meiner Erinnerungen müde, dann sehe ich, daß Euch und dem edlen Ritter, Eurem Gemahl, meine Dienste nicht länger mehr angenehm sind, daß meines Bleibens hier nicht länger mehr ist. Ich will also, indem ich die Fortdauer göttlichen Segens auf Euch und Euer Haus herabflehe, ausziehen, und wäre es selbst im härtesten Winter, nach jener Wüste jenseits der Berge, allein und ohne Beistand und in einem Zustande weit größerer Hilflosigkeit als damals, da ich zum ersten Male mit Euch zusammentraf im Tale von Glendearg. Aber so lange ich noch hier verweile, will ich Euch nicht abirren sehen vom rechten Pfade, nein, nicht um ein Haarbreit, ohne daß ich Euch die Warnerstimme eines Greises vernehmen lasse.“

„Nicht so, hochwürdiger Herr! nicht so,“ sagte die Dame, die den wackern Geistlichen liebte und schätzte, wenn ihr auch der übergroße Eifer, mit dem er seines Amtes waltete, oft nichts weniger als genehm war, „nicht so wollen wir scheiden, lieber Freund! Frauen sind lebhaft und übereilt in ihren Empfindungen, aber, glaubt mir, meine Wünsche und Pläne bezüglich dieses Knaben bewegen sich in einer Richtung, die sowohl Eure, wie meines Gemahls Beifall haben dürfte.“

Der Pfarrer verbeugte sich und ging nach seiner Stube.

Sir Walter Scott

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