Zwölftes Capitel: Tilsiter Frieden. — Nordheim. — Göttingen. — Hannöverisch-Münden. — Cassel. — Vom 25sten bis 31sten August.

Endlich war der Schlag gefallen, den man so lange gefürchtet und doch kaum für möglich gehalten hatte — durch den Tilsiter Frieden — am 9ten Juli 1807 — war Braunschweigs Loos entschieden. Braunschweig war, als erobertes Land von Napoleon mit dem neuerrichteten Königreiche Westphalen vereinigt und der zum Könige desselben erhobene Bruder Napoleons war sowohl vom Kaiser Alexander, als vom Könige von Preußen anerkannt worden. Jetzt konnte nur eine gänzliche Veränderung des politischen Systems von Europa Braunschweig retten, und darauf war für jetzt nicht zu denken.

In der ersten Bestürzung eilte der Herzog durch Pyrmont, um sich nach Carlsbad zu begeben; doch bald mochte er sich überzeugt haben, daß jeder Schritt bei Napoleon vergeblich seyn und nur die Ehre seines Hauses compromittiren und sein gutes Recht verletzen würde, denn schon nach wenigen Tagen kehrte der Herzog zurück und sagte: „Könnte ich mich erniedrigen vor dem Usurpator, wie es Andre gethan haben, so ließe sich vielleicht noch Etwas retten, wenigstens eine Entschädigung, denn dem Emporkömmling schmeichelt die Huldigung legitimer Fürsten; das aber sei fern von mir. Mag er vorerst seinen Raub behalten, es steht ein Höherer über ihm, der ihm das unrecht erworbene Gut wieder nehmen wird. Die Geschichte lehrt, daß die Ungenügsamkeit der Eroberer am Ende immer die Ursache ihres Falles wird. Sie spannen den Bogen so straff, bis er bricht; sie trotzen auf ihr Glück, bis es sie verläßt; sie ersteigen den Gipfel nur, um herab zu fallen."


Diese prophetischen Worte in dem Munde des Herzogs belebten unsre Hoffnungen wieder.

Am 25sten August reisete die Königin von Baiern nach Carlsruh und die Frau Herzogin ging nach Hannover, um dort den Herzog mit dem Prinzen und dem Gefolge zu erwarten. Denn es war jetzt beschlossen, die Nähe des Schauplatzes der Usurpation zu verlassen und in Bruchsal, im Badenschen, die weitere Entwickelung der politischen Begebenheiten abzuwarten.

Durch Hannover zogen bedeutende Abtheilungen der Französischen Garde. Welch' ein Menschenschlag? — Welche Kraft und Beweglichkeit und welch' ein Feuergeist? Viele der Gemeinen trugen das Kreuz der Ehrenlegion. Das Bewußtseyn: „aus dir kann einmal ein Marschall werden,“ lag ausgeprägt auf den Zügen eines jeden einzelnen dieser Krieger. Hier sah man auf den ersten Blick, daß die Heere, welche Europa besiegt hätten, keine Parademaschinen waren, sondern eine für Ruhm und Ehre begeisterte Kriegernation.

Am 28sten August Abends kam der Herzog an. Noch in derselben Nacht eilte ich voraus über Thiedenwiese, Brügge, Eimbeck nach Nordheim.

Dort wurde ich wegen verspäteter Ankunft der Kammer- und Packwagen vom 29sten Abends bis zum 30sten Abends aufgehalten, während die Herrschaften, die bald nach mir eingetroffen waren, durchreiseten.

Nordheim, ein Hannöversches Städtchen von 3500 Einwohnern, liegt am Einflusse der oft sehr reißend vom Harz herabströmenden Ruhme in die Leine, in einer sehr fruchtbaren Ebene. Hier wird bedeutender Hopfen und Tabaksbau betrieben. Eine Viertelmeile entfernt, findet man die 1804 entdeckte Schwefelquelle, welche sehr heilsame lauwarme Bäder giebt*).

Am 30sten Abends ging es im Fluge weiter über Göttingen, Hannöverisch-Münden nach Cassel, wo wir den 31sten Morgens eintrafen, nachdem wir durch das Ungeschick des Postillons, jedoch ohne Schaden zu nehmen, umgeworfen waren.

Nur aus der Erinnerung früherer Reisen konnte ich im milden Lichte einer stillen lieblichen Mondnacht die Bilder freundlicher Gegenden und entzückender Aussichten auffrischen, welche mir in geisterbleichen Umrissen magisch vorüberschwebten.

Dort lag Weende, mit seinen Lauben und gastlichen Tischen und Banken. Still war der Lieblingsort der Göttinger Musensöhne, welcher sicher noch vor wenigen Stunden auf das Anständigste in heiterer Geselligkeit belebt war. Aus dem Nachtigallwäldchen, herüber schallten noch die Geistertöne Philomelens, welche Hölty und Bürger dort erlauscht haben mochten, um sie als Echolaute in ihren Liedern wiederhallen lassen zu können. In der schönen Allee, welche von Weende nach Göttingen führt, wandelten noch einige heimkehrende Musensöhne, die durch einen schönen vierstimmigen Gesang den Geschmack am Schönen und das Gefühl für das Schickliche verriethen, welches die Göttinger Studenten von jeher vor dem rohen renommistischen Wesen auf manchen andren Universitäten ausgezeichnet hat.

Göttingen, als Universitätsstadt wohl vor allen ihren Schwestern am reichlichsten ausgestattet, liegt am Fuße des kahlen Hainbergs neben der neuen Leine. Mit Lindenalleen besetzte Wälle umgeben die Stadt, in welcher 11,000 Einwohner von der Universität ihre Hauptnahrung beziehen. Freundlich sind die Gärten, welche nicht nur die Stadt umkränzen, sondern auch zwischen den Häusern angenehme und erfrischende Erholungsplätze darbieten. Die breiten geraden Hauptstraßen, die sich rechtwinklich durchschneiden und zu den vier Gitterthoren der Stadt führen, gewähren der Luft einen freien Durchzug, welches auch wohl Noth thut, um manche Mängel in der Straßenpolizei in Hinsicht der Reinlichkeit einigermaßen wieder auszugleichen. Von den 5 Pfarrkirchen zeichnen sich die Johanniskirche mit ihren 200 Fuß hohen Doppelthürmen und die Jacobikirche mit dem 300 Fuß hohen Thurm aus. Von der Höhe des Letztern herab gewinnt man eine überraschende Aussicht auf die Stadt und deren Umgebungen. — Die Universität zählt 1000—1200 Studenten**). — Die Bibliothek von mehr als 300,000 Bänden und 5000 Handschriften ist besonders vollständig in der neuern Literatur. — Die Sternwarte, welche durch Gauß erst ihren bedeutendsten Ruf empfangen hat, und der reiche Pflanzengarten bilden vorzügliche Zierden der Universität. — Göttinger Mettwürste machen einen Hauptartikel der dortigen Industrie aus, indem jährlich an 13,000 Pfund zu dem Werth von 4000 Rthlr. ausgeführt werden. Es läßt sich denken, daß eine immer wieder sich erneuende Mission von 1200 jungen Leuten, die mit dem gesündesten Appetit dieses Product äußerst delicat finden müssen, nicht wenig dazu beiträgt, einen solchen Artikel durch ganz Deutschland zu empfehlen. — Wohlhabenheit herrscht fast überall, aber eigentliche Geselligkeit wird sehr gehindert durch das Absondern der vielen Familien und Classen, welches wieder eine Folge der sehr verschiedenen Bildungsgrade und der Vorsicht erfordernden Verhältnisse des Familienlebens zu dem Studentenleben ist. — Man bemerkt hier leicht eine große Ueberzahl des weiblichen Geschlechts, besonders in der geringern Classe, welches — wenn wir nicht mit der heiligen Schrift die Bemerkung anwenden wollen: wo ein Aas ist, versammeln sich die Adler — doch von dem mancherlei guten Erwerb der dienenden Classe und der Spinnerinnen herrühren mag. — Die Studenten in ihrer burlesk-witzigen Terminologie theilen das weibliche Geschlecht ein in: Flor, Kattun, Besen und Zottel. In den ersten Familien Zutritt zu erhalten, ist für Studenten, die nicht sehr vermögend sind, äußerst schwer, allein schon der Umgang der Studenten unter einander, unter welchen die Tonangebenden gewöhnlich die feinste Erziehung genossen haben, trägt sehr viel dazu bei, die Sitten abzuschleifen.— Welcher ehemalige Studirende erinnert sich wohl nicht mit einer poetischen Weichheit des Gemüths der Ausflüge in die malerischen Umgebungen von Göttingen, nach Maria Spring, nach den Ruinen des Homsteins, der Plesse, des Hardenbergs, der Gleichen, nach dem Bremkerthal, dem Rheinländischen Felsen auf dem Wege nach Heiligenstadt? u. s. w.

Auch Hannöverisch-Münden sah ich nur wieder im herrlichen Mondlichte, welches die Höhen des Lutterberges romantisch beleuchtete und in tausendfältigen Strahlenbrechungen aus den Wellen der dort um eine liebliche Halbinsel mit den freundlichsten Gartenanlagen zusammen fließenden Werra und Fulda heraufschillerte. Hier beginnt also die Weser schon von ihrem Taufstein an ihren Lauf als schiffbarer Strom. Wie ruhte jetzt unten in den tiefen Schatten der Nacht das sonst so betriebsame Leben der 4000 Einwohner, welche Münden enthält? — Gleich hinter der Stadt erhebt sich die Höhe, auf welcher ich mich mit aufgeregter Phantasie erinnerte, die entzückendste Aussicht genossen zu haben, welche das nördliche Deutschland nur darbieten kann. Dort schwelgt das Auge im Genusse eines vom Himmel gesegneten Thals, dessen äußerste, am Horizont verschwimmende Höhen der Weißenstein hinter Cassel schließt.

Wie sah es jetzt aus in dieser freundlichen Residenz? Der alte Regent war vertrieben, der neue Gewaltherrscher mit seinen Satrapen noch nicht eingezogen. Die sonst so reinlichen Straßen in der Neustadt, mit dem für Pferdehufe fast zu glatten Basaltpflaster, waren unreinlich und menschenleer. Alles Leben schien erstorben zu seyn. Man sah nur in betrübten Gesichtern bange Ahnungen der Zukunft und einen geschäftslosen Lebensüberdruß ausgesprochen. Nur Wenige schienen im Stillen schon auf den Glanz der künftigen Residenz eines verschwenderischen Königs zu speculiren. Das treue Hessenvolk hatte seinen alten Churfürsten noch nicht vergessen.

Eben so verödet stand das Churfürstliche Schloß, welches später durch die Heizungen mittelst Röhren unter den Fußböden, welche Hieronymus liebte, ein Raub der Flammen wurde***).

Verödet war der kreisrunde Königsplatz, der sein siebenfaches Echo desto deutlicher gab, je weniger bewegliche Gestalten die Geisterstimmen hemmten.

Cassel (mit 23,300 Einwohnern), an einer Anhöhe des weiten schönen Thals, welches die schiffbare Fulda durchströmt, belegen, ist wohl unstreitig eine der anmuthigsten Städte in Deutschland. Natur und Kunst haben dort sich vereinigt, um einen Aufenthalt zu bilden, der wohl den in allen Sinnengenüssen schwelgenden Französischen Satrapen anlocken konnte. Die Fulda theilt, von der großen Wilhelmsbrücke verbunden, die Stadt in die untere und die obere Stadt. Die Letztere zerfällt wieder in die Altstadt und Neustadt. Hölzerne Häuser und enge krumme Gassen ist das Erbtheil der Vorzeit, so auch für die Altstadt von Cassel. Dagegen ist die Neustadt mit breiten Straßen und schönen massiven Häusern im schönsten Geschmack nach einem großen durchgreifenden Plane angelegt.

Die Altstadt enthält außer dem Schlosse noch den massiven Marstall mit 4 Flügeln, das Zeughaus mit kostbaren alten Waffen****) und einer merkwürdigen Schnellwage, auf welcher 150 Centner gewogen werden können, das Gießhaus, dessen Ofen einen Guß von 200 Centnern gestattet, die Infanterie-Caserne mit dem kolossalen Brustbilde ihres Erbauers, des Landgrafen Carl, in der Façade, das Cadettenhaus, das Rathhaus und andre öffentliche Gebäude.




*) S. Kiefer Gesch. und Beschr. Der Badeanstalten zu Nordheim etc. Göttingen 1810. 8. D. B.

**) Im Sommersemester 1827 befanden sich dort 1458 Studenten, unter welcher Zahl 673 Ausländer waren. D. B.

***) Der Churfürst Wilhelm I. hatte schon die Ausführung eines großartigen Plans begonnen, an die Stelle des alten ein neues Schloß in den größesten und edelsten Verhältnissen unter dem Namen der Kattenburg zu erbauen. Doch der Tod ereilte ihn, ehe das unterste unterste Stockwerk vollendet war. Der jetzige Churfürst aber verschob den Bau, der dem Lande noch Millionen gekostet haben würde, bis auf bessere Zeiten. D. B.

**** ) Die aber zum Theil unter Hieronymus verschwunden sind. D. B.




Die Unterneustadt, an der Ostseite der Altstadt jenseit der Fulda, enthält das Castell, ein Staatsgefängniß mit Wall und Graben umgeben*).

Der schöne Friedrichsplatz, mit Lindenalleen besetzt, trennt die Oberneustadt von der Unterneustadt. Die Mitte dieses Platzes ziert die von den Landständen errichtete kolossale Statue des Landgrafen Friedrich II. von weißem Carrarischem Marmor auf einem 22 Fuß hohen Piedestal. Es war die letzte Arbeit des berühmten Bildhauers Nahl**).

Ausgezeichnet schöne Gebäude umgeben diesen Platz, z. B. das jetzige Churfürstliche Palais und das Museum mit seinen tausenderlei Curiositäten, unter welchen indeß die Korkmodelle antiker Bauwerke (Felloplastik), die Hetrurischen, Aegyptischen, Griechischen, Römischen und Deutschen Alterthümer, eine Holzbibliothek von 500 inländischen Hölzern, mit Rinde, Samen und Blättern, und unter den Naturmerkwürdigkeiten die 3 Centner schwere, in Hessen ausgegrabene Noahschulpe (Muschel) eine besondre Aufmerksamkeit verdienen.

Hier sieht man auch die ältern Landgrafen von Hessen mit ihren Gemahlinnen aus Wachs gebildet, in den echten Costümen ihrer Zeit gekleidet, zwei große Brennspiegel von Tschirnhausen und Villet und einen über 90 Pfund tragenden Magnet.

Die Churfürstliche Bibliothek im Hauptschlosse von 60,000 Bänden verdient Aufmerksamkeit, besonders wegen der 200 zum Theil seltnen Bibeln***) und fast vollständigen Sammlung der Bodonischen Prachtwerke****). Mit dem Museum ist die Sternwarte verbunden; die katholische Kirche unfern davon ist eine der geschmackvollsten Capellen, welche vor dem Hochaltare eine Rotunde bildet. Unter der Kuppel derselben öffnet sich eine Galerie, auf welcher die Capelle, die Sänger und Damen ihre Plätze haben.




*) Wie manche Familie knüpft die traurigsten Erinnerungen an dieses Castell, das in der Zeit der beginnenden Freiheit so viele Opfer einer zu voreiligen Vaterlandsliebe zählte! D. B.

**) Daß in der Westphälischen Zeit auch dieses Denkmal treuer Volksliebe zum angestammten Fürsten dem Standbilde Napoleons weichen mußte, läßt sich wohl glauben. Der hochselige Churfürst stellte es aber sogleich nach seiner Rückkehr wieder her. D. B.

***) Die Wolfenbüttelsche Sammlung enthält 7000 Bibeln. D. B.

****) Bodoni (Siambattista) war der Italienische Diderot. Zu Saluzzo in Piemont 1740 geboren, starb er zu Padua 1813. Er war zuletzt Vorsteher der Königlichen Druckerei in Parma. Die Schönheit seiner Lettern, die Schwärze seines Drucks und das vorzügliche Papier ist noch von keinem seiner Nachfolger übertroffen. Die Italiener werden sich wundern, durch die compendiösen Prachtausgaben von unserm Ernst Fleischer ihren Bodoni in Hinsicht der Schönheit erreicht, in Hinsicht der Correctheit und des Preises übertroffen zu sehen. D. B.




Vom Friedrichsplatz gelangt man auf die Bellevue-Straße, welche nur von einer Seite, mit großen geschmackvollen Gebäuden besetzt, die köstlichste Aussicht über die terrassenförmig niedersteigenden Gartenanlagen, über die Orangerie, die Aue, in die unermeßliche Ferne einer weit sich öffnenden Landschaft enthält.

Das Schloß Bellevue, mit dem schönen Boggarten erstreckt sich bis an das Friedrichsthor, wo ein offner Tempel mit 8 Korinthischen Säulen eigentlich den Glanzpunkt der köstlichsten Aussicht gewährt. — Vom Friedrichsplatz bis an das Frankfurter Thor läuft die große Friedrichsstraße, welche durch den Orangerie-Pallast *) den schönsten Schmuck empfängt. Die Bildergalerie mit 700 Gemälden von den ersten Meistern enthält Bilder von Titian, Mich. Angelo, Rubens, Raphael, Annibal Caracci, Tennier, Lucas Cranach, Holbein, van Dyk, Poussin, Rembrandt, Douw, Wouvermann, Hondeköter, Albr. Dürer, Breugel, Andr. Ostade, Ruisdale, Carolo Dolce, Murillo und Andern **).

Die Französische Kirche liegt auf derselben Straße. Sie gehört den Nachkommen der in Folge der Aufhebung des Edicts von Nantes aus ihrem schönen Frankreich vertriebenen Protestanten, die als gewerbsfleißige Bürger von protestantischen Fürsten gern aufgenommen wurden und Vieles zur Belebung der Industrie in Deutschland beitrugen.

Hinter dieser Kirche zieht sich die Carlsstraße her, bis zu dem Carlsplatz, welcher die Statue des Erbauers der Oberneustadt, des Landgrafen Carl, von weißem Italienischem Marmor, auf einem 9 Fuß hohen Piedestal, enthält.

In der langen Königsstraße, welche den 456 Fuß im Durchmesser haltenden runden Königsplatz durchschneidet, liegt das große Meßhaus, ein Viereck, dessen Fronte 300 Fuß lang ist; dann das Schauspielhaus mit einer nicht gar zu großen Bühne ***).

Mir blieb Zeit, einen Spaziergang in die Aue hinab zu machen. Von der offnen Seite des Wilhelmsplatzes, da wo die Straße Bellevue auf denselben stößt, führte eine Treppe hinab durch den terrassenförmig im Holländischen Geschmack angelegten Garten. Der vordere Theil desselben ist 900 Fuß lang und 360 — 500 Fuß breit. Ein Springbrunnen, zwei Teiche, Bildsäulen, unter welchen zwei Bronzeabgüsse der Mediceischen Venus sehenswerth sind, zieren das Netz von Alleen, beschnittenen Taxushecken und Orangerieplätzen, welches die große Gartenanlage durchzieht. Dann folgt das 500 Fuß lange Orangerie-Palais, welches aus 3 Pavillons besteht, die durch zwei 170 Fuß lange Flügel von der halben Höhe des Hauptgebäudes mit einander verbunden sind. Die Aussicht der hohen Fenster öffnet sich nach der Aue. Auf der Rückseite sind an der Stelle der Fenster Nischen mit Statuen in Stuck angebracht. Der Pavillon am Speisesaal enthält das herrliche Marmorbad, eine Rotunde, deren Wände, Fußboden und Ornamente aus polirtem Marmor und Jaspis bestehen. Das Bad selbst enthält 25 Fuß im Umfange. Fünf Stufen führen hinab; das Licht fällt durch die Kuppel, welche von 8 Korinthischen Säulen getragen gen wird. Die Bildhauerarbeit, unter andern ein Pan und Apoll, rührt von dem zu seiner Zeit (1716) berühmten Bildhauer Monnet her.

Vor der Terrasse der Orangerie öffnet sich die Sammetmatte des großen Bowlingreen, welche sich an die Aue anschließt. Dieser liebliche Park, im freilich schon veralteten Geschmack, dehnt sich (4000 Fuß lang und 3000 Fuß breit) bis an das große (400,000 Quadratfuß Fläche haltende) Wasserbassin aus. Eine dreifache Lindenallee von 140 Fuß Breite zieht sich mitten durch die Aue, bis an jenes Bassin. Mit einem künstlichen, aus sieben Höhen bestehenden Berge schließt sich die Aue, welche außerdem noch mehrere Alleen und an jedem der vier Ecken ein Tracteurhaus enthält, welches Sonntages die schöne Welt belebt. Der Churfürstliche Küchengarten, der Obst- und Thiergarten mit der Fasanerie schließen sich unmittelbar an den großartigen Augarten.

Ueberhaupt giebt Cassel, auch jetzt in seiner Todtenstille, überall Zeugniß eines großartigen reinen Geschmacks seiner Erbauer ****).




*) Den jetzt die Churfürstin bewohnt. D. B.

**) S. Robert: Versuch eines Verzeichnisses der Churfürstlichen Gemäldesammlung. Cassel 1819. 8. D. B

***) In der Westphälischen Zeit wurde ein Französisches Theater dort errichtet, zu dessen Bildung Madame Bursai mit ihrer Französischen, vom hochseligen Herzog Carl Wilhelm Ferdinand protegirten Truppe nach Cassel berufen wurde. Ein Deutsches Nebentheater ging bei der Französischen Bühne fast betteln. Nach der Rückkehr des Churfürsten wurde die Deutsche Bühne als Hoftheater neu organisirt. Allein die Unterstützung vom Hofe war nicht hinreichend, um den zu hoch gespannten Anforderungen unserer Zeit zu genügen. D. B.

****) Erst neuerlich ist durch eine Churfürstliche Verordnung eine bedeutende Vergrößerung der Residenz verfügt. Es soll nämlich eine neue Straße, mit der Königsstraße parallel laufend, 180 Fuß breit mit zwei Reihen Kaufmanns-Gewölben, unter dem Namen: „die neue Wilhelmsstraße“ erbaut werden. — Die Nothwendigkeit einer solchen Vergrößerung, ohne welche die Baulust nicht angeregt seyn würde, muß allerdings schwer zu erklären bleiben, wenn man bedenkt, welch ein reges Leben und welche Verdoppelung der Volksmasse in der Westphälischen Zeit in Cassel Raum fand. Freilich damals zahlte eine Familie lieber 900 Rthlr. Miethe jährlich, ehe sie sich ansiedelte, denn es waren gewiß Wenige unter den hohen Staatsbeamten, die auch in der glänzendsten Periode Cassels ihren Aufenthalt nicht für provisorisch hielten. D. B.




Doch das Posthorn rief. Bald befand ich mich auf der Straße nach Marburg. Nur aus weiter Ferne sah ich damals die Wilhelmshöhe wieder, welche auf dem Vorgebirge eines Bergrückens gleichsam das Diadem auf der Königlichen Stirn einer reichen Gegend bildet.

Welche Erinnerungen einiger früher dort genossenen schönen Tage knüpften sich an diesen Augenblick?

Die Anlagen auf dem früher sogenannten Weißenstein sind wohl das großartigste, was Deutschland an Kunstgärten unter Benutzung einer reizenden Natur aufzuweisen hat.

Dorthin führt durch die Wilhelmshöher Vorstadt die eine Stunde lange Allee auf die erste Anhöhe am Fuße des Carlsbergs. Auf der ersten Höhe desselben von einem köstlichen Bowlingreen, an welches sich das Bassin mit der Riesenfontaine schließt, liegt das im schönen Baustyl errichtete massive Lustschloß, dessen Hauptgebäude 220 Fuß lang, 66 Fuß tief und über 80 Fuß hoch ist, wogegen die Seitenflügel jeder nur 172 Fuß Lange, 66 Fuß Breite und 65 Fuß Höhe haben, wodurch ein sehr schönes architektonisches Verhältniß entsteht *). Die geschmackvoll decorirten Säle und Zimmer enthalten ausgezeichnete Gemälde von Tischbein, Lutti, Hondeköter, Vernet u. s. w. und mehrere sehenswerthe Marmorbildsäulen und Gruppen. — Der Park zieht sich im romantischen Wechsel von Bergen und Thälern, Felsen und Abgründen, rieselnden Bachen und brausenden Wasserfallen, im lieblichsten Wechsel von Wald und Wiesengründen, fast über den ganzen Carlsberg hin. Sein Umfang beträgt an 2 Stunden. Die Aussicht vom Schlosse ist unvergleichlich. Von der einen Seite schwimmt der Blick weit hinaus über die Stadt und zahllose Dörfer bis an die lichtblauen Höhen des Hintergrundes — und von der andern Seite schwelgt das Auge in den malerischen Reizen einer großartigen Gartenlandschaft und ruhet im Hintergrunde auf der Höhe, welche das mächtige Oktogon mit der kolossalen Herkules-Bildsäule auf seiner pyramidalischen Spitze tragt. Von hier herab fällt auf einer breiten Riesensteige, in den mannigfachsten symmetrischen Abtheilungen die 900 Fuß lange und 40 Fuß breite Hauptcascade. Wie ein Schleier von Silberlahn, so schimmern die Wasserbänder in perspektivischer Verkürzung von Stufe zu Stufe von der Höhe herab und ergießen sich endlich, unten vereinigt, im weiten Bogen hinaus über die Grotte des Neptun in das große Bassin vor dem Bowlingreen des Schlosses. An beiden Seiten führt eine Treppe, auf mehr als 800 Stufen hinan, welche ein näheres Betrachten des Kunstbaus dieser Cascaden gestattet. Oben ergießt sich dieselbe aus dem Riesenbassin von 150 Fuß im Durchmesser, in welchem ein erschlagner Riesenkörper liegend eine Fontaine 55 Fuß in die Höhe speiet. Zwei Cascaden umgeben dieses Bassin im Halbcirkel. Auch ein Wasserfall, 77 Fuß hoch, stürzt sich dort höchst malerisch über einen Felsen herab. Dieser empfangt seine Gewässer aus einem kleinen Bassin, mit einer 40 Fuß hohen Fontaine, welche vor der Grotte des Polyphem aufsteigt. Dort liegt der einäugige Gott, spielend auf einer Pansflöte, zu welcher eine durch den Luftdruck des Wassers in Bewegung gesetzte Orgel die Töne giebt, während draußen vor der Grotte in felsenartigen Nischen zwei Tritonen in ihre vom Wasserdruck laut tönenden Hörner stoßen. Hier sind die sogenannten Vexirwasser angebracht, welche durch unvermuthet sprühende Fontainen Raum geben zu derben Scherzen.

Das steinerne Oktogon, auf der Höhe des Carlsberges, mit dem gar unästhetischen Namen: „der Winterkasten“, belegt — ist ein kolossales Gebäude, welches eigentlich zur Aufnahme der großen Wasserbehälter dient. Es besteht aus einer Grundfläche von 284 Fuß Durchschnitt aus drei Arcaden über einander. Die untern Reihen dieser Bogengänge, so wie auch die mancherlei Grotten, sind aus rauhem Duckstein erbaut, welche ihn ein felsenartiges Ansehen geben. Im mittelsten Stockwerk befindet sich der große Wasserbehälter; der dritte Stock wird von 192 massiven gekuppelten Säulen in Toscanischer Ordnung, die 48 Fuß hoch sind, gebildet. Diese tragen eine von einer massiven Balustrade umgebene Plateforme. Auf der vordern Seite derselben steht eine 96 Fuß hohe Pyramide aus fünf über einander gestellten Kreuzgewölben von Quadersteinen errichtet. Auf der Spitze derselben befindet sich auf einem 11 Fuß hohen kupfernen Piedestal die 31 Fuß hohe, aus Kupfer getriebene Bildsäule des Farnesischen Hercules. Bis in die 9 Fuß Durchmesser haltende Keule steigt man auf eisernen Leitersprossen im Innern dieses Riesenbaues und genießt dort aus einer Fensteröffnung jene unermeßliche Fernsicht, welche bei hellem Wetter mit den Harzgebirgen schließt und insbesondre den Brocken erkennen läßt. Dieser Standpunkt ist 1312 Pariser Fuß über die Fuldafläche erhaben.

Unmöglich kann man dieses ungeheuere Kunstwerk mit der künstlichen Wassertreppe betrachten, ohne wehmüthig auszurufen: und wozu alle diese Millionen verschwendet? — um ein riesenhaftes Spielwerk zu haben, welches weder höhern Kunstgenuß, noch reinen Naturgenuß gewährt. Unwillkührlich wird man ergriffen über das Mißverhältniß der ungeheuren Mittel zu geringem Zweck; man erstaunt über die Kostbarkeit eines großartigen Denkmals, welches nicht irgend einer merkwürdigen Zeitbegebenheit, sondern dem luxuriösen Ungeschmack des vorigen Jahrhunderts gewidmet ist. Mit der Hälfte dieser Summen hätte der berühmte Baumeister Guernieri, welcher dieses Werk im Anfange des vorigen Jahrhunderts unter dem Landgrafen Carl erbaute, den denkwürdigsten Ereignissen seiner Zeit ein würdiges Denkmal setzen können. Selbst ein frei von dieser Höhe herab über Naturfelsen strömender Katarakt würde eine großartigere und mehr malerische Ansicht gewährt haben. Dank unsrer Zeit, daß Millionen nicht mehr ohne Sinn für Kunst und ohne höhere Zwecke verwendet werden.

Ungleich anziehender, als die zu theatralisch erkünstelten Hauptcascaden, finde ich die eigentlich weniger bedeutenden Nebenwerke, als die große Fontaine mit ihrem 190 Fuß strömenden Strahl, der 12 Zoll stark mitten aus dem kleinen Landsee heraussprudelt und, in eine Saat von Diamantentropfen aufgelöset, wie ein funkelnder Nebelschleier von Zephyr bewegt, herabwehet. — Dabei kann sich doch die Phantasie ein Naturphänomen, wie das des Geisors auf Island, vorstellen. Auch der Schweizerwasserfall, über dessen hochüberragende Felsenufer eine sogenannte Teufelsbrücke führt — eine Ansicht, die hier, wo kein Jungfrauhorn und Schreckhorn darüber hinausragt, doch immer ein romantisch schönes Naturbild giebt; ferner der römische Aquäduct, welcher aus einer abgerissenen kühnen Bogenstellung, in romantischen Felsenumgebungen seine gewaltigen Wassermassen von der Höhe herab auf seine eignen bemooseten Trümmer ergießt, das sind doch noch Ansichten, bei welchem der Mensch über die Wahrheit der Nachahmung die Kunst vergißt und von der schönen Natur das Herz erweitert fühlt. So auch verliert die Löwenburg durch die treue Nachahmung einer alten Ritterburg in einem wenig verkleinerten Maßstabe, mit dem täuschend nachgebildeten Charakter des Alterthums, den einer Spielerei und wirkt durch ihren Totaleindruck erhebend auf das Gemüth.

Doch es wird Zeit auch die Phantasie zurückzurufen von jenen freundlichen Erinnerungsbildern, da auch die reizenden Lahngegenden mit ihren herrlichen Kunststraßen des Anmuthigen gar Vieles darbieten.




*) Hieronymus hat mit einem Theatergebäude die Nordseite des Schlosses bauen lassen, wodurch die Verhältnisse etwas gestört sind. D. B.