Demokratische und liberale Ideen vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert. - I. Calvinismus und Naturrecht.

Aus: Die moderne Demokratie
Autor: Hasbach, Wilhelm Dr. (1849-1920) Nationalökonom, Prof. für Staatswissenschaften an der Universität in Kiel, Erscheinungsjahr: 1921
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Demokratie, Gesellschaft, Revolution, Rechte, Staatsformen, Monarchie, Menschenrechte, Kolonien, Verfassung, Restauration, Parteien, Kaiserreich, Union, Schweiz, Frankreich, USA, Jakobiner, Spanien, Beamtentum, Selbstverwaltung, Freiheit, Freiheitsrechte, Religion, Volk, Pflicht, Recht, Wahlrecht, Sozialismus, Sozialdemokratie, Hansestädte, Andora, Sa Marino, Liberalismus, Berufspolitiker, Wahlkreise, Wahlkampf, Wahlverfahren
Die Reformation hat zwei in zwei menschlichen Trieben wurzelnde Grundrichtungen des politischen Lebens der neuern Zeit so scharf in zwei ihr eigentümlichen Begriffen ausgeprägt, dass sie als die Schöpferin zweier politischer Ideen angesehen werden konnte: der demokratischen Idee der Gleichheit, welche sie in der Forderung des allgemeinen Priestertums offenbarte, und der liberalen Idee geistiger und sittlicher Unabhängigkeit, die sie in dem Rechte freier Forschung verkündete. Der Widerstand, welchen diese beiden Ideen im 16. und 17. Jahrhundert hervorriefen, erzeugte blutige Fehden und entsetzliche Kriege, feige Attentate und grauenvolle Hinrichtungen, Fürstenabsetzung und Untertanenflucht; und nach fast zwei Jahrhunderten unmenschlicher Grausamkeit und wilder Verwüstung sieht ein neues Geschlecht spöttisch auf die Kämpfe seiner Ahnen herab.

Es waren vorzugsweise religiöse und naturrechtliche Lehren, welche den Neuerern das Bewusstsein, in ihrem Kampfe gegen die Regierungen recht zu handeln, gaben. Enthielt, wie so oft behauptet wird, diejenige Calvins den Samen der demokratischen Bestrebungen jener Zeit?

Calvin ist kein Schmeichler unumschränkter Fürsten. Er ist „la seigneurie d'un seul homme . . . la moins plaisante aux hommes . . . laquelle n'a jamais été agréable à toutes gens d'excellent et haut esprit." Aber er handelt nicht nach demokratischen Grundsätzen *) und er neigt zur aristokratischen Republik. Das Volk wird nach Calvin am besten regiert, wo „il y a une liberte bien tempérée"; und die Auflehnung gegen einen pflichtvergessenen Fürsten, der doch nach ihm ein Werkzeug zur Bestrafung der Gottlosen ist, nennt er „non seulement une folle spékulation et inutile, mais aussi meschante et pernicieuse"; aber den volksbefreienden Tyrannenmord betrachtet er als einen Beweis göttlicher Güte. Nur die zur Beaufsichtigung des Fürsten bestellten Ephoren, Tribunen haben das Recht, gegen den Tyrannen aufzutreten, und der einzelne ist nicht verpflichtet, seine Befehle gegen Gottesgebot auszuführen: „s'il vient à Commander quelque chose contre Luy, il nous doit estre de nul estime."

*) Die Wahl der Geistlichen in Genf bestand nur in der Auswahl aus einer von den Predigern vorgelegten Kandidatenliste, also einer gemilderten Kooptation.

Wie ist es aber zu erklären, dass der Genfer Theokrat, der nicht der Prediger demokratischer und freiheitlicher Lehren war, der seine Kirche vom Staate, aber nicht den Staat von seiner Kirche unabhängig, sondern zu ihrem Büttel machen wollte, wie ist es zu erklären, dass seine Lehre als der Stamm betrachtet wird, der die Äste und Zweige des modernen Demokratismus und Liberalismus hervorgetrieben habe? Weil man ihm Weiterentwicklungen zugerechnet hat, die das Verdienst anderer sind.

Die repräsentative Verfassung der Calvinistischen Kirche entstand in Frankreich. Demokratische Einrichtungen fügte Knox in Schottland hinzu. Dass aber selbst der so gestaltete Presbyterianismus und die freie demokratische Kirche sich auf das schroffste unterscheiden, beweist das Verhältnis der englischen Independenten zu den Presbyterianern und dasjenige von Williams und Hooker zu Cotton in den Kolonien. Es müssen also vorwärtstreibende nichtcalvinistische Kräfte am Werke gewesen sein.

Zweitens übersieht man den Einfluss, welchen das Alte Testament auf das Handeln vieler Protestanten aller Bildungsgrade und auf die politischen Doktrinen gelehrter Männer gehabt hat. Das Neue Testament verkündet das Evangelium der Liebe, der Geduld, des Friedens; das Alte Testament ist von Fürstenverachtung und Fanatismus erfüllt. Den Geist dieses so viel unheilige Glut in den Seelen entflammenden Teiles der Heiligen Schrift charakterisiert Jellinek ausgezeichnet mit den Worten: „Die Vorstellung, dass Jahwes Gebot höher steht, als Königsmacht, (ist) wohl seit den ersten Zeiten des Königtums lebendig gewesen . . . In der gesamten Literatur aller Volker durften nicht so viele herbe, tadelnde, strafende Urteile über Könige zu finden sein, wie in der Israels . . . Hinzutritt der tiefgehende demokratische Grundzug im politischen Charakter Israels. Erinnerungen aus der vorköniglichen Zeit bleiben lebendig, die die Einsetzung der königlichen Herrschaft auf den Volkswillen, der schließlich göttliche Sanktion erhält, zurückführen, wie denn auch die transzendente Herrschaft Jahwes nicht eine natürliche Tatsache ist, sondern auf ausdrücklicher Unterwerfung des Volkes beruht, die in Vertragsform vollzogen wird." *)

An diesem Punkte werden die Lehren des Alten Testamentes unterstützt von den naturrechtlichen, die in ihrer allgemeinsten, reifsten Fassung, mit der wir uns begnügen müssen, etwa so lauten möchten. Es gebe ein natürliches Recht, das eine höhere Geltung beanspruchen dürfe, als das von Fürsten und gesetzgebenden Versammlungen erlassene, in Gesetzbüchern niedergelegte, oder von Herkommen, Gewohnheit überlieferte positive Recht. Hieraus folge, dass das positive, wenn es dem natürlichen widerspreche, diesem weichen müsse. Diese Sätze von größter Tragweite begründeten seine Vertreter etwa so. Die Menschen hätten im Anfange der Zeiten in einem staatenlosen Zustande gelebt; damals seien sie frei und gleich gewesen; in dieser Periode ihres Daseins hätten sie kein anderes Recht gekannt, als das ihnen von Gott eingepflanzte natürliche Recht, das aus der Natur des Menschen und der Dinge mittels der menschlichen Vernunft erkannt werden könne und sich im Gewissen offenbare. Die Unsicherheit des Lebens habe sie gezwungen, den Zustand voller Unabhängigkeit aufzugeben; sie hätten den Staat gegründet und zwar durch einen Vertrag, **) in dem von ihnen verzichtet worden wäre auf denjenigen Teil ihrer Freiheit, den sie zur Herstellung eines Gemeinwesens hätten aufgeben müssen, um den übrigen Teil ihrer Freiheit und Gleichheit zu bewahren. Man habe verzichtet z. B. auf die Freiheit, erlittene Unbill selbst zu rächen, die jetzt von den staatlichen Gerichtshöfen bestraft werde; im Naturzustande habe es an Gesetzen, unparteiischen Richtern und der Macht, den Richterspruch durchzusetzen gefehlt. Der staatliche Zustand unterscheide sich folglich von dem vorstaatlichen dadurch, dass die Bürger, um positives Recht zu schaffen, gesetzgebende Versammlungen erwählt und, um es durchzuführen, Regierungen bestellt hätten.

*) Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1905. S. 284.
**) „Der Ursprung des Staates aus einem Vertrage ist vielen Schriftsteilem eine geschichtliche Tatsache, welche der rationalen Lehre eine unangreifbare empirische Stütze geben soll." Jellinek, a. a. O. S. 203. So ein Gelehrter, der die naturrechtliche Literatur kannte, während andere uns glauben machen wollen, die soziologischen Vorgänge wären durchgängig nur als Prämissen zur Entfaltung einer rationalen Staatslehre betrachtet worden; an ihrer geschichtlichen Unwahrheit habe niemand gezweifelt. Diese Bedeutung haben sie bei einigen Theoretikern vor Hume gehabt, z. B. bei Hobbes. Wäre diese Auffassung aber allgemein verbreitet gewesen, dann verstände man nicht, weshalb Hume gegen sie ankämpfen musste.


Das Volk also sei die Quelle und der Inhaber aller staatlichen Gewalt, die von ihm eingesetzten Versammlungen und Regierungen hätten keine anderen Rechte, als Beauftragte zu haben pflegten. Ihnen liege die Verpflichtung ob, dem Volke jederzeit Rechenschaft abzulegen und, wenn sie ihre Befugnisse überschreiten sollten, sei es berechtigt, sie zu tadeln, zu strafen, zu entfernen, andere Beauftragte zu ernennen. Wenn sie sich aber nicht gutwillig fügten, dann habe es das Recht zum Widerstände, es habe das Recht auf Revolution. Den Inbegriff derjenigen Rechte, welche dem Volke die höchste Befehlsgewalt im Staate zusprechen, nennen wir Volkssouveränität.

Die ersten Bestandteile dieser Lehren gehören einem aus dem Altertum heranwallenden, dann durch zahlreiche Zuflüsse immer mächtiger gewordenen Gedankenstrome an. Die griechische Philosophie hatte die Idee des Naturrechtes erfasst, sie hatte die Lehren vom Naturzustande, von der Notwendigkeit der Staatsgründung und dem Staatsvertrage geschaffen: von dem römischen Rechte, das sie übernahm, war der Begriff des natürlichen Rechtes bis an die Grenzen der europäischen Kultur getragen worden, während die Literatur dieses Rechtes die Idee der Volkssouveränität durch eine geschichtliche Grundlage gleichsam gestützt hatte: sie leitete nämlich die gesetzgebende Gewalt der römischen und ihrer Nachfolger, der deutschen, Kaiser aus der Übertragung dieser Gewalt von dem römischen Volke auf die römischen Kaiser ab. Danach hatten im Mittelalter die soziologischen Vorstellungen der Griechen durch die christlichen Dogmen von der Erschaffung der Welt, von der Erbsünde und der Vertreibung aus dem Paradiese, von den hierauf folgenden jämmerlichen, die Errichtung des Staates herbeiführenden Zuständen die sicherste Bestätigung erhalten; die Existenz des Naturrechtes erschien nun als die Auswicklung einer von Gott bei der Erschaffung des Menschen in ihm angelegten Fähigkeit, während die Stoiker sie als eine Konsequenz ihres Pantheismus betrachtet hatten. Das heidnische Naturrecht war christianisiert worden. Auch wurde sowohl durch die Bibel wie die zahlreichen Verträge der ständischen Zeit der Gedanke, dass der Vertrag die Brücke zwischen staatloser Unkultur und staatlicher Kultur bilde, in den Geistern befestigt.

Das Wort Gedankenstrom sollte nicht die Vorstellung eines Zieles, dem er zustrebe, erwecken, sondern das Bild einer durch die Jahrhunderte flutenden Masse von Vorstellungen und Begriffen hervorrufen, aus der aufeinanderfolgende Zeiten befruchtende Zuflüsse zur Förderung ihrer besonderen, voneinander abweichenden Zwecke ableiten. Diese Zwecke wirken auf die Gestaltung der Lehre, auf die Wahl der Gedankenelemente zurück. So war die theoretische Möglichkeit gegeben, um dem Naturrechte für ganz verschiedene Ziele zu kämpfen. Es gab konservative Naturrechtslehrer welche annahmen, dass das Volk beim Abschluss des Staatsvertrages auf seine Rechte verzichtet oder sich bedingungslos einem Fürsten unterworfen habe. Offenbar konnte ein materialistisches System einem solchen Beginnen Vorschub leisten, weil in ihm das Wort Naturrecht nicht den Sinn einer ewigen, objektiven Norm haben konnte, wie in einem theistischen oder pantheistischen. Dagegen wurden die letzten Konsequenzen eines idealistischen Naturrechtes: das über dem positiven Rechte thronende objektive Naturrecht, die Volkssouveränität, seit dem 17. Jahrhundert subjektive natürliche Rechte, unter diesen das allgemeine, gleiche Stimmrecht, von solchen verkündet, die für die Freiheit des Staates, für konstitutionelle und demokratische Ideale kämpften, ohne dass sie im positiven, historischen Rechte eine genügende Stütze für ihre Bestrebungen gefunden hätten. Daher ist es fast selbstverständlich, dass nicht alle Naturrechtslehrer alles gefordert haben, was sich logisch aus den grundlegenden Lehren ableiten ließ; die treibenden Mächte der politischen Entwicklung sind nicht Ideen, sondern Bedürfnisse. Die Ideen sind die Waffen der Bedürfnisse, und mit den realen Bedürfnissen wachsen die theoretischen Folgerungen. Das berühmte Wort Schopenhauers: der Wille schafft sich den Intellekt zu seinem Dienste! wird nun voll durch die Geschichte des Naturrechtes und der Politik bestätigt.

Schon im 14. Jahrhundert, während des langen Ringens zwischen Papsttum und weltlicher Gewalt, tritt Marsilius von Padua für die volle Volkssouveränität ein. Aber der Kriegsruf dieses klaren Denkers war verklungen, als im 16. Jahrhundert in Frankreich hochgebildete und gelehrte Protestanten calvinistischen Bekenntnisses den geistigen Kampf gegen religiöse Bedrückung beginnen. Auch ihre Waffen sind die Ideen des Naturgesetzes, der Volkssouveränetät und des Staatsvertrages. Zum Teil liefert sie ihnen das römische Recht, zum Teil die Bibel, und sie berufen sich auf die Geschichte. Aber von angeborenen Rechten wissen sie noch nichts, nicht einmal von dem Rechte auf Religionsfreiheit, sie streiten nur für eine durch repräsentative Einrichtungen beschränkte Monarchie. Auf dem Boden ähnlicher Überzeugungen stehen die katholischen, Heinrich III. und Heinrich IV. von Frankreich befehdenden Monarchomachen, dann in Schottland Knox und Buchanan, in England Poynet und Goodman.

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts beginnt das Naturrecht eine immer größere Gewalt über die Geister auszuüben, zum Teil deshalb, weil man die in theologischen, juristischen, politischen Schriften enthaltenen Lehren aus ihrem Zusammenhange zu lösen, zusammenzustellen und systematisch abzuhandeln beginnt. Nur einige Verfasser seien genannt, deren Schriften über jene Zeit hinaus gewirkt haben und nicht auf dem Friedhofe der Literatur, den Bibliotheken, vermodern. Ein wertvolles Werk dieser Zeit sind die 1594 veröffentlichten vier ersten Bücher der „Laws of Ecclesiastical Polity" von Richard Hooker, einem der englischen Hochkirche angehörigen Geistlichen, der in dem Streite zwischen Tradition und Schrift auf das Naturgesetz als eine göttliche Erkenntnisquelle verwies. Eine ausführlichere, gründlichere und klarere Darstellung der Prinzipien des Naturrechtes, auf die sich Locke mehrmals beruft, hat die folgende Zeit trotz ihrem Reichtum an Schriften dieses Inhaltes nicht hervorgebracht. Wenige Jahre später (1599) erscheint das berüchtigte Buch Marianas „De rege et regis institutione", welches, wie andere Werke von Jesuiten dieser Zeit, die Volkssouveränität verficht. Zehn Jahre später wurde das bedeutendste Werk der katholischen Richtung der „Tractatus de Legibus" des Suarez veröffentlicht. Und nun stehen wir im 17. Jahrhundert, in dem das Naturrecht eine das ganze menschliche Leben mit einem System von Rechtssätzen umklammernde selbständige Wissenschaft wird, wo die antiken Spekulationen der Stoiker und Epikureer im Gefolge des Humanismus wieder aufleben und wo der Kampf gegen die Stuarts extreme Geister, mit denen wir uns noch zu beschäftigen haben werden, bis zu den letzten Konsequenzen der naturrechtlichen Staatslehre forttreiben wird. Es genüge, die großen Namen der Grotius, Hobbes, Pufendorf zu nennen. Von dem Dreigestirn Milton, Sidney und Locke sprechen wir noch an anderer Stelle.

Keinen klareren Beweis von der revolutionären Kraft naturrechtlicher Anschauungen gibt es, als folgende drei Tatsachen. Die Niederländer setzten 1581 den König Philipp II. von Spanien ab, weil er seine königlichen Pflichten nicht erfüllt habe. In der Einleitung der Absetzungserklärung heißt es, „dass Gott die Untertanen nicht um des Fürsten willen, sondern diesen um jener willen geschaffen habe", eine Begründung, die sich fast mit denselben Worten bei den Monarchomachen findet, mit denen sie enge Sympathien verbindet. *) Fast sechzig Jahre später, am 4. Januar 1649, fassen die englischen Gemeinen folgende Resolutionen: 1. das Volk ist der Ursprung aller Staatsgewalt; 2. das Abgeordnetenhaus besitzt als Vertreter des Volkes die höchste Gewalt; 3. seine Beschlüsse haben auch ohne Zustimmung des Königs und des Abgeordnetenhauses Gesetzeskraft. Und als die Engländer im Jahre 1689 den König Jakob II. absetzten, erklärten sie, er habe die Verfassung des Königreichs durch den Bruch des Staatsvertrages umzustürzen versucht.

*) Wenzelburger, Geschichte der Niederlande, II, 503 ; Motley, The Rise of the Dutch Republic, VI.