Gewaltentrennung und Demokratie

In den aus autokratischen Monarchien entstandenen Demokratien ist man geneigt, die demokratische Forderung als erfüllt anzusehen, wenn die Legislative sich unter Teilnahme des Volkes vollzieht. Die Lehre von der Trennung der Gewalten hat lange als Damm gegen jedes Übergreifen des demokratischen Prinzips über den Bereich der Gesetzgebung gewirkt. Das gilt insbesondere von den konstitutionellen Monarchien und den ihnen nachgebildeten Republiken, wie den Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreich. Letzteres hat eine ausgesprochen monarchische Verwaltungsorganisation. Nur theoretische Kurzsichtigkeit oder politische Absicht konnte das Prinzip der Trennung der Gewalten als ein demokratisches ausgeben 20). Von Montesquieu angeblich der englischen Verfassung entnommen, wo man es damals vergeblich gesucht hätte, wird es zwar als eine Garantie der Freiheit gerechtfertigt. Sein eigentlicher Sinn aber dürfte wohl der sein, dem aus dem Absolutismus in die Beschränkung des Konstitutionalismus verdrängten Monarchen ein letztes Übergewicht über die im Parlamente konzentrierte Gewalt des Volkes zu sichern. Denn wie sich nun einmal das Spiel der Kräfte im Staate gestaltet, hat diese Gewaltentrennung zur Folge, dass das vielköpfige Gesetzgebungsorgan, in dem das Volk allein repräsentiert wird, keineswegs als das höchste sich geltend machen kann. Ist die vollziehende Gewalt einem Monarchen übertragen und — ganz im Widerspruch zu ihrem Begriffe — der Legislative statt unterstellt gleichgeordnet, dann tritt dieser Monarch erfahrungsgemäß als übergeordnete Macht der an der Gesetzgebung mitbeteiligten Volksvertretung entgegen. Hier zeigt sich eine politische Überschätzung der Gesetzgebungsfunktion. Es ist beinahe eine Ironie der Geschichte, wenn eine Republik wie die Vereinigten Staaten von Amerika das Dogma von der Gewaltentrennung gläubig übernimmt und gerade im Namen der Demokratie auf die Spitze treibt. Allerdings ist die Stellung des Präsidenten der Vereinigten Staaten bewusst jener des Königs von England nachgeahmt. Wenn in der sogenannten Präsidentschaftsrepublik die vollziehende Gewalt auf einen Präsidenten übertragen wird, der nicht aus der Volksvertretung hervorgeht, sondern unmittelbar durch das Volk gewählt ist, und wenn auch in anderer Weise die Unabhängigkeit des mit der vollziehenden Gewalt betrauten Präsidenten gegenüber der Volksvertretung gesichert wird, so bedeutet dies — so paradox es auch erscheinen mag — eher eine Schwächung als — wie vermutlich beabsichtigt — eine Stärkung des Prinzips der Volkssouveränität. Denn wenn dem nach Millionen zählenden Volke der Wähler nur ein einziger als Gewählter gegenübersteht, dann muss der Gedanke einer Repräsentation des Volkes den letzten Schein von Berechtigung verlieren. Was in einem alle Volksparteien umfassenden vielköpfigen Parlamente vielleicht noch möglich ist: dass sich aus dem Zusammenwirken aller dieser Kräfte etwas wie ein Volkswille bilde, ist bei dem durch unmittelbare Volkswahl berufenen und daher vom Parlamente ganz unabhängigen, durch den ungeheuren und nicht aktionsfähigen Gesamtkörper des Volkes aber nicht kontrollierbaren Präsidenten ebenso wenig möglich wie bei dem erblichen Monarchen. Ja, die Chancen einer — wenn auch nur zeitlich begrenzten — Autokratie sind dort unter Umständen noch größer als hier. Die Art der Berufung spielt keine entscheidende Rolle. Wie wenig verwandt der Repräsentativgedanke dem demokratischen Prinzipe ist, erkennt man daraus, dass die Autokratie sich derselben Fiktion bedient. Wie der Monarch und ganz besonders der absolute Monarch, so gilt auch jeder vom Monarchen eingesetzte Beamte als Organ d. h. aber als Repräsentant der Volksgesamtheit, des Staates. Es hat keinen Usurpator und keinen Tyrannen gegeben, der auf diese Rechtfertigung seiner Macht verzichtet hätte. Die autokratische Repräsentationsformel und die Pseudodemokratie eines gewählten Cäsaren unterscheiden sich nicht allzu sehr voneinander.

20) Treffend hebt Hasbach a. a. O. S. 17 hervor, dass Montesquieu's Lehre von der Trennung der Gewalten unvereinbar sei mit der Idee von der Volkssouveränität.


Das die völlige Demokratisierung des Staates hemmende Prinzip der Gewaltentrennung beruht nicht nur auf einem praktisch-politischen Fehlurteil über die Bedeutung der Gesetzgebung, es geht auch Hand in Hand mit einem theoretischen Irrtum hinsichtlich des Wesens der Rechtsgestaltung. Wir sind allzu sehr gewohnt, das Recht nur in jener generellen, abstrakten Form zu erkennen, in der es sich im Stadium der Gesetzgebung befindet 21). Rechtswissenschaft ist heute beinahe identisch mit Gesetzeskunde. Und doch ist das generelle Gesetz nur eine Stufe, weder die erste noch die letzte Stufe in dem Prozesse der Rechtserzeugung, der mit der Verfassung, als der Ursprungsund Ausgangsnorm, als einer Regel für die Gesetzgebung beginnt, und über das Gesetz, als einer generellen Regel für Verordnungen, Urteile, Verwaltungsakte, Rechtsgeschäfte, bis zu diesen Konkretisierungen des Rechts — wie die wirtschaftliche Produktion vom Rohstoff über das Halbfabrikat zur Fertigware — fortschreitet. Es ist ein Irrtum, wenn auch ein weitverbreiteter, dass die Erzeugung des Rechtes — oder was dasselbe ist: die Realisierung des Staates — mit der Gesetzgebung abgeschlossen oder gar in ihr allein beschlossen sei. Dieser Irrtum hat mit zu der Überschätzung dieser Funktion beigetragen. Hat die Einsicht in die innere Dynamik der Rechts- (oder was dasselbe ist: der Staats-) Ordnung gezeigt, dass die sogenannte Exekutive ein ebenso wichtiges, ebenso wesentliches Stadium der Rechtserzeugung oder Rechtsrealisierung ist wie die Legislative, dass die Vollziehung ja nur die notwendige Fortsetzung der Gesetzgebung ist, die ohne sie ein Fragment bleiben müsste, ist das Prinzip der Einheit des Rechtserzeugungsprozesses erkannt, dann fehlt jeder Grund dafür, das demokratische Organisationsprinzip auf ein mehr oder weniger willkürlich herausgegriffenes Stadium dieser Prozesse zu beschränken; dann öffnet sich das Auge des Rechtstechnikers oder Staatskonstrukteurs für den Widerspruch, der darin besteht, dass die eine Stufe der Rechtserzeugung oder Staatsverwirklichung — nämlich die legislative — demokratisch, die nächstfolgende — die sogenannte Exekutive — aber wieder autokratisch organisiert ist.

21) Vgl. dazu die ausgezeichnete Schrift Merkl , Das Recht im Lichte einer Anwendung, Hannover 1917.

Schon in der von der bolschewistischen Theorie so verketzerten bürgerlichen Demokratie hat der Prozess der Demokratisierung der Verwaltung nach zwei Hauptrichtungen eingesetzt. Von unten die kommunale Selbstverwaltung, von oben das System der sogenannten parlamentarischen Regierung. Nach beiden Richtungen wird das Prinzip der Gewaltentrennung durchbrochen. Der Gemeinderat ist in der Regel zugleich Träger der Gemeindegesetzgebung und der Gemeindeverwaltung, die parlamentarische Regierung ein Ausschuss des Gesetzgebungskörpers. Es ist nur der konsequente Ausdruck der Volkssouveränität, wenn die Regierung — wie dies z. B. in der neuesten österreichischen Verfassung ausdrücklich normiert ist — auch formell vom Parlamente gewählt wird. Praktisch läuft es freilich auf dasselbe hinaus, wenn das Staatsoberhaupt kraft ungeschriebenen Rechtes — so in England, dem Musterland parlamentarischer Regierung — seine Minister aus der Parlamentsmajorität entnehmen muss. Dass aber neben Parlament und Kabinett überhaupt ein Staatsoberhaupt, sei es auch nur ein republikanisches, für kurze Funktionsdauer gewähltes Staatsoberhaupt, besteht, ist an sich schon eine Schmälerung der Demokratie. Auch in dieser Beziehung ist die russische (ebenso wie die österreichische) Verfassung, die auf ein solches Organ verzichtet, durchaus demokratisch gedacht.

Wenn die bolschewistische Kritik des bürgerlichen Parlamentarismus dahin geht, dass aus bloßen „Schwatzbuden“ Verwaltungskörper werden, so trifft sie sich durchaus mit den Bestrebungen, die von bürgerlicher Seite auf eine Reform des Parlamentarismus gerichtet sind. In seiner Schrift über „Parlament und Regierung im neu geordneten Deutschland“ fordert Max Weber „nicht ein redendes, sondern ein arbeitendes Parlament, ein Parlament, das die Verwaltung fortlaufend mitarbeitend kontrolliert“. „Registrierung und Kontrolle“ sind aber die Funktionen, die auch Lenin in seinen Schriften immer wieder und mit allergrößtem Nachdruck für das in den Sowjets organisierte Volk in Anspruch nimmt 24).

24) Mit der Ablehnung des bloß legislativ tätigen Zentralparlamentes nimmt die bolschewistische Theorie nur einen Gedanken auf, der längst vor der Revolution und zwar auch von durchaus bürgerlicher Seite ausgesprochen worden war. Der Dilettantismus der „enzyklopädisch angelegten Zentralparlamente“ hatte schon um die Wende des 19. Jahrhunderts zu einer Krisis des Parlamentarismus und in deren Verlauf unter anderem zu dem Vorschlag geführt, neben dem bloß politischen Zentralparlament für die verschiedenen Gebiete des staatlichen Lebens Fachparlamente — etwa im Anschluss an die staatlichen Zentralverwaltungsstellen (Ministerien) — zu errichten. Vgl. dazu Koigen a. a. O. S.149 ff. Neuestens wird dieser Gedanke auch von Walter Rathenau in seiner Schrift „Der neue Staat“, 1919, vertreten.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vom Wesen und Wert der Demokratie