Einleitung

Es gibt Persönlichkeiten, welche durch ihre tief in die Wissenschaft eingreifende Wirksamkeit ihren Namen mit derselben unauflöslich verknüpfen, weil die wissenschaftliche Entwicklung, mag sie auch stetig fortschreiten, immer genötigt ist, auf die schöpferischen Anfänge oder auf die umgestaltenden Einwirkungen und Neubildungen zurückzugehen, welche von ihnen ausgingen. Der ganze Charakter ihrer wissenschaftlichen Forschung wirkt fort, und die von ihnen gefundenen und erkannten Grundwahrheiten bleiben ein Gemeingut der Wissenschaft, das auf die gesamte Bildung der späteren Zeit einen bedingenden Einfluss ausübt. Da aber, wo die wissenschaftliche Arbeit nicht bloß in der theoretischen Sphäre sich bewegt, sondern wie in der Theologie mit den tiefsten praktischen Bedürfnissen und dadurch auch mit dem kirchlichen und staatlichen Leben zusammenhängt, wird auch die Einwirkung eine noch allseitigere und intensivere sein, und naturgemäß weitere Dimensionen annehmen. Mit dem Zeugnis des Glaubens geht auch die Kraft des Glaubens und der Kampf für denselben Hand in Hand. Luthers gewaltige Persönlichkeit, in welcher deutsche Art und deutsche Volkstümlichkeit zugleich sich ausgeprägt hat, hat nicht nur mächtig die Entwicklung der theologischen Wissenschaft bedingt, sondern sie hat auch vor Allem der Kirche, die nach ihm ihren Namen trägt, den Mittelpunkt ihres Lebens in den: Bekenntnis der freien rechtfertigenden Gnade erschlossen. Zugleich ist seine Wirksamkeit aufs engste verknüpft mit der beginnenden nationalen Entwicklung deutschen Lebens. Die Bausteine der alten Kirche aber hat er wahrhaft konservatorisch mit zur Grundlage der reformatorischen Kirche verwandt. Sein Tagewerk ist ein welthistorisches. Wo irgend in einem Herzen aus der Kraft der Gnade der Glaube an das Verdienst Jesu Christi geboren wird, wird auch der Segen seiner Glaubensarbeit erfahren.

Solche Rüstzeuge, die der HErr sich selbst auserwählt und bereitet hat, um im Kampf gegen eine ganze Welt seine ewige Wahrheit und sein Heil zur Anerkennung und zum Bewusstsein zu bringen, kann es nur wenige geben. Wie sie hineingestellt waren in den gewaltigsten Kampf in sich und außer sich, so ist der HErr selber mit ihnen auf dem Plan gewesen, um das Gericht zum Siege hinauszuführen. Aber zu dieser Neugestaltung der christlichen Theologie und des christlichen Lebens bedurfte es gerade im Zeitalter der Reformation auch solcher Werkzeuge, welche die christliche Heilslehre selbst tätig erfasst, und mit wissenschaftlichem Geiste durchdrungen hatten, und innerhalb weiterer Kreise, zu denen sie durch ihr Berufsleben in naher Beziehung standen, zu wahrhaft lebendiger Entwickelung zu vermitteln im Stande waren. Solche Persönlichkeiten ragen in ihrem Berufskreise bedeutsam hervor, entwickeln nicht selten in ihrer relativ beschränkten Sphäre eine tiefgehende und verhältnismäßig auch weit sich erstreckende Wirksamkeit, so dass da, wo sie gewurzelt sind, die Frucht ihrer Tätigkeit noch nach Generationen sich bemerkbar macht. Gerade der Umstand, dass in den verschiedenen deutschen Territorien die Reformation eine lebenskräftige Entwicklung fand, erklärt sich wesentlich daraus, dass dieselbe von solchen Persönlichkeiten getragen wurde, welche die erkannte Wahrheit des Wortes Gottes in Lehre und Leben gleich entschieden und erfolgreich darstellten, und innerhalb des kirchlichen Lebens die neue Phase der Entwicklung einleiteten und bedingten. Mit dem mühsamen Aufbau und Ausbau der christlichen Wissenschaft durch diejenigen, welche auch für das geschichtliche Leben der Kirche ein schärferes Auge hatten, verband sich das Zeugnis eines lebendigen und tatkräftigen Glaubens, so dass sie in richtiger Erkenntnis der Schäden der Kirche auf die Entwicklung des kirchlichen Gemeinwesens einwirkten, einen entscheidenden, tiefgreifenden Einfluss ausübten, und im Ganzen und Großen der betreffenden Landeskirche ihren Charakter aufdrückten.


Unter diesen Persönlichkeiten ragt als die letzte im reformatorischen Zeitalter David Chyträus hervor, welcher von der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts bis zu seinem Ausgange an der ganzen Entwicklung der lutherischen Kirche Teil nahm, und sowohl durch seine wissenschaftliche Wirksamkeit als akademischer Lehrer, als auch durch bedeutende organisatorische Begabung, und kirchliche Einsicht und Verständnis; in hervortretendem Maße einen in jeder Beziehung bedeutenden Einfluss ausgeübt hat. Es fällt in die Anfänge seiner Wirksamkeit die völlige, mit der reformatorischen Bewegung enge zusammenhängende Umgestaltung des akademischen Lebens. Chyträus, inmitten desselben stehend, hatte, an Melanthon nach dieser Seite sich anschließend, die wissenschaftliche Aufgabe der Universitäten klar und bestimmt ins Auge gefasst und erkannt. Ihm verdankt die Universität Rostock wesentlich durch sein rastloses Wirken und Schaffen die Neugestaltung ihrer akademischen Verhältnisse im Allgemeinen, wie er den wissenschaftlichen Beruf mit dem sittlichen und kirchlichen Berufe in gleichem Maße zu vereinigen wusste. Es ist für ihn charakteristisch, wie mit der Erfüllung seines Lehrberufes die energische Verfolgung der inneren gedeihlichen Gestaltung des landeskirchlichen Kirchenwesens zusammengeht. An die Stelle der äußeren Gesetzlichkeit tritt durch seine Vermittlung die freiere Bewegung des kirchlichen Lebens, in welcher mit der wissenschaftlichen Wahrhaftigkeit zugleich das Festhalten am kirchlichen Dogma und an der kirchlichen Ordnung und die liebevolle Anerkennung der geistlichen und sittlichen Güter der Kirche verbunden ist.

Auch noch in einem anderen Sinne verdankt die Universität Rostock ihm ihre Neugestaltung. Als selbstständige wissenschaftliche Körperschaft empfängt sie von Chyträus ein neues Gepräge ihrer wissenschaftlichen und kirchlichen Bestimmung. Darin wurzelt auch die geistige Macht, welche die Universität Rostock in dieser Periode unleugbar ausgeübt hat. Sie greift intensiv in das Leben des Staates, insbesondere aber in das Leben der Kirche ein, das sich noch nicht zur äußeren Selbstständigkeit entwickelt hatte, das aber desto reichere fruchtbare Keime der Entwicklung in sich barg, die gerade durch ihn nach den verschiedensten Seiten ausgestaltet werden. Es ist der Typus einer lutherischen Landeskirche, den er recht eigentlich zum Ausdruck bringt. Überall aber verfolgt Chyträus die Aufgaben, die ihm zufielen, mit heiligem Ernste, so dass wir auch nach dieser Seite in dem Bilde des Chyträus keinen Zug vermissen, weil er im Glauben Alles, was er tat, tun wollte, und auch wirklich getan hat.

Die bedeutsame und gedeihliche Wirksamkeit des Chyträus umfasst zwar eine Reihe friedlicher und still und stetig fortgehender Entwickelungen, insofern alle Umbildung und Erneuerung des wissenschaftlichen und kirchlichen Lebens sich nur allmählich und stetig vollziehen kann, aber doch tragen alle Verhältnisse in jener Zeit den kirchlichen Kampf in sich, und treten in mehr oder minder scharf ausgeprägten Gegensätzen hervor, welche nicht unterschätzt werden durften, und wo sie sich als feindliche der reformatorischen Theologie und Kirche entgegenstellten, auch als solche bekämpft werden mussten. Chyträus, sonst durchaus erfüllt von dem Geiste des Friedens, hat sich doch diesem Kampfe nicht entzogen, und hat auch darin seinen wissenschaftlichen und kirchlichen Beruf erfüllt. Er ist recht eigentlich eine wissenschaftliche Persönlichkeit, weil er, mochte er sich mit dem klassischen Altertum oder mit der Philosophie in ihrer damaligen Gestaltung beschäftigen, oder mochte er sich geschichtlichen und dogmatischen Arbeiten zuwenden, welche mit dem Leben der Kirche und ihrer Entwicklung zusammenhingen, mit einem auf das Erkennen der Dinge an sich gerichteten Geiste forschte, und sich nicht mit ihrer äußeren Schale begnügte. Der Grundton seines inneren Lebens war immer und überall das Trachten und Streben nach der Wahrheit an sich. Innerhalb der Theologie aber war es ihm überhaupt nicht um eine Summe von Kenntnissen zu tun, die er überliefern wollte, sondern um den auf Grund der Erkenntnis vermittelten lebendigen Glauben an das in Christo gegebene Heil, um den durch wahre wissenschaftliche Bildung gehobenen Dienst derer, die das Amt der Kirche trugen, um den Fortbestand dieser Kirche des reinen Wortes zu sichern, welcher gerade in der Zeit, in welche die hervorragende Tätigkeit des Chyträus fällt, mehr als einmal ernstlich gefährdet war. Er setzt sich mit Energie sowohl den von Außen andrängenden Gefahren entgegen, als er mit Weisheit und Umsicht bei aller Friedensliebe den im Inneren der lutherischen Kirche zersetzend wirkenden Faktoren entgegentritt. Seine Aufgabe ist nach allen Seiten eine erhaltende und neugestaltende gewesen, und er hat sie gelöst eben so sehr durch die Förderung wahrer Erkenntnis und durch mutiges Zeugnis des Glaubens, als auch durch die allseitige Pflege des akademischen Lebens, wie durch umsichtige Feststellung, und treue Bewahrung und Fortbildung der Ordnungen der lutherischen Kirche.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches David Chyträus
Chyträus, David (1530-1600) evangelischer Theologe, Historiker, Schulorganisator, mehrfach Rektor der Rostocker Universität

Chyträus, David (1530-1600) evangelischer Theologe, Historiker, Schulorganisator, mehrfach Rektor der Rostocker Universität

Martin Luther als Mönch

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