Das zaristische Russland. 04. Aufhebung der Leibeigenschaft

Aus dem Russischen übersetzt von Alice Panin
Autor: Panin, Victor, Erscheinungsjahr: 1921

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Landeskunde, Völkerkunde, Leibeigenschaft, Bauern, Sitten, Bräuche, Freiheit,
Inhaltsverzeichnis
  1. Erste Fortsetzung
4. Aufhebung der Leibeigenschaft

„Exzellenz, seine Exzellenz der Flügeladjutant wünschen Bericht zu erstatten", meldete der Hofdiener mit einer tiefen Verbeugung.

„Der Leutnant, der Adjutant des Zaren?"

„Jawohl, Exzellenz."

„Rufe ihn herein!"

Nach einigen Minuten trat in das Privatarbeitszimmer des Grafen Adlerberg, eines die Hofkamarillen leitenden Hofgünstlings unter der Regierung Alexanders II., ein junger glänzender Gardeoffizier. Er verneigte sich tief, mit den blinkenden, silbernen Sporen laut klirrend, vor dem Grafen und blieb, in ehrerbietiger Pose inmitten des geräumigen Kabinettes stehen, in Erwartung, dass, der Hofetikette gemäß, der Hofgünstling als erster zu reden beginne.

Aber es schien, als sei der Graf Adlerberg in seine Schriften vertieft, als interessierte ihn die Gegenwart des jungen Leutnants nicht sonderlich. Wenigstens wollte er diesen Eindruck hervorrufen, denn es verging eine geraume Zeit, ehe er den Haufen Papier beiseite schob und in zerstreutem Tone fragte:

„Nun, Leutnant, haben Sie mir etwas Neues zu berichten? Sie kommen natürlich von Seiner Majestät?"

Der Leutnant schien ein wenig verwirrt; er war jung, noch nicht lange am Hofe und hatte das schlaue Manöver und die gekünstelte Gleichgültigkeit des Grafen nicht durchblickt.

„Ich erlaube mir zu berichten, Exzellenz, dass ich nicht von Seiner Majestät gesandt bin, sondern mich unterstanden habe, Sie von mir aus zu belästigen, wie Sie mir unlängst gnädigst zu befehlen geruht haben. Heute musste ich im Dujourzimmer das Gespräch im Kabinett Seiner Majestät belauschen.“

„Nun, gewiss haben Sie etwas Interessantes erfahren?" fragte Adlerberg schon in freundlicherem Tone, und als wollte er ihn ermutigen.

„Jawohl, Exzellenz, oder wenigstens erlaube ich mir zu denken, dass es interessant sein könnte. Es wurde Seiner Majestät über die Aufhebung der Leibeigenschaft berichtet.“

„Ah!" knurrte Graf Adlerberg unbestimmt zwischen den Zähnen hervor. „Wollen mal hören, was es gibt!"

Ermutigt fuhr der junge Leutnant schon bedeutend sicherer fort:

„Der Minister des Innern, Exzellenz, legte Seiner Majestät ausführliche, aus der Provinz eingelaufene Berichte vor. Es hat sich gezeigt, dass in vielen Gouvernements die leibeigene Bauernschaft sich gegen die Gutsbesitzer aufzulehnen beginnt. Böswillig gesinnte Leute dringen bis in alle Ecken Russlands, sie wiegeln die Bauern auf, halten im Geheimen unverständliche, aufrührerische Reden, die sich, einer Epidemie gleich, im Lande zu verbreiten beginnen, die Geister verwirren und den wahnsinnigen Gedanken wachrufen, dass die Bauern von der Leibeigenschaft befreit werden müssen, dass die Gutsbesitzer keine Macht mehr über sie haben dürfen. Man spricht davon, dass auch der Bauer ein Mensch sei, und alles dieses erregt natürlich das Bauernvolk; an einigen Stellen versuchen die Bauern in gotteslästerlicher Weise, sich den Gutsbesitzern zu widersetzen. In einigen Gouvernements sah man sich sogar genötigt, Truppen heranzuziehen. Es wurden mehrere hundert Bauern erschossen, selbst Frauen und junge Mädchen mussten der allgemeinen Exekution unterzogen werden. Auch sie erheben sich! Sodann fügte der Minister hinzu, dass einige böswillig gesinnte Russen — zu ihrer Schande sei es gesagt, sogar solche aus dem Adel — durch eine geheime Presse den sündhaften Gedanken verbreiten, dass der Grund der Sewastopol-Niederlage in der Leibeigenschaft seine Ursache habe. Sie sagen: Jahrhundertelang wurde das Volk in Finsternis, in Elend gehalten, es hat weder Erde noch Heimat. Wofür sollte denn dieses Volk kämpfen? . . . Und besonders betrübend ist — fügte der Minister hinzu — der Umstand, dass diese verbrecherischen Ansichten die Grenzen unseres Reiches überschreiten, sich im Auslande verbreiten und auf diese Weise fremden Nationen die Augen über unsere innere Schwäche öffnen. Da fragte der Zar: ,Welche Maßnahmen, mein Freund, glauben Sie dagegen ergreifen zu müssen?’ ,Wenn Majestät mir gnädigst gestatten wollen, meine untertänigste Meinung zu äußern,’ — sagte der Minister — ,so sehe ich aus der gegebenen Lage bloß einen Ausweg: Wie Ihre Majestät sich schon lange mit diesem Gedanken trägt, so scheint auch mir, Ihrem ergebenen Diener, das einzige Mittel gegen das Übel die Aufhebung der Leibeigenschaft.’ — Lange schwieg der Zar, Exzellenz, und sagte schließlich: ,Gut denn, mein Freund, auch ich habe ja schon längst daran gedacht. Mein Vaterherz möchte das Los meines Volkes erleichtern, aber hier verflechten sich so viele verschiedene Fragen, deren Lösung durchaus nicht leicht ist . . . An erster Stelle stehen meine heiligen Rechte, die Prärogativen des selbstherrlichen Zaren, welche durch das Befreiungsmanifest nicht berührt werden dürfen. An zweiter Stelle stehen die nicht weniger unantastbaren Rechte der großen Familie des russischen Adels, die meinem Herzen so nahe steht. Natürlich möchte man auch dem Bauer helfen, aber um alles dieses zu vereinbaren, bedarf es der höchsten Staatsweisheit.' — ,Ihre Worte, Majestät, sind Ihres höchsten Genies, sowie Ihres gütigsten Herzens würdig’ — antwortete der Minister — ,und wenn Ihre guten Absichten weise kombiniert würden, könnte man vielleicht mit Gottes Gnade diese Lebensfrage für das Reich zu einer glücklichen Lösung bringen.’ — ,Haben Sie nicht ein Projekt in dieser Frage vorzuschlagen, mein Freund?’ fragte der Zar. — ,Meiner untertänigsten, ergebendsten Meinung nach, Majestät, würde ich vorschlagen, die Bauern zu befreien und sie zu veranlassen, dass sie, einer gerechten Bewertung entsprechend, den Gutsbesitzern für den Ackerboden eine Ablösungssumme zahlen.’ Lange schwieg der Zar und entgegnete darauf in entschiedenem Tone: ,Nein, das ist nicht ganz befriedigend, der russische Adel liebt verschwenderisch, großartig zu leben. Es darf ihm kein Geld in die Hand gegeben werden, sehr bald wird er alles durchbringen und an den Bettelstab kommen — ein hungriger Adel aber kann nicht als Stütze der Autokratie dienen. Da müssen Sie schon eine andere Kombination ersinnen, mein Freund! Gut, ich bin einverstanden, den Bauern die Freiheit zu geben, der Boden aber muss unveräußerlich im Besitze der Gutsherren bleiben, sie haben darauf ein durch Jahrhunderte geheiligtes Recht. Der freie Bauer kann auf dem herrschaftlichen Boden arbeiten — er ist auf diese Art frei und fühlt doch die Macht der Gutsherren über sich. So wird auch die Klasse der Gutsbesitzer zufrieden sein und wie früher eine feste Stütze des Thrones und der Selbstherrschaft bilden.' — Das ist alles, Exzellenz!“ — schloss der Leutnant.

044 Tarantasse_

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045 Bauer in Wintertracht

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046 Bauernstube

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047 Großrusssin

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048 Dorfmusikant

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125 Bauernhochzeit

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132 Bauernwohnung

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