Erste Fortsetzung

Aus dem Garten, dorther, wo sich eine lange Reihe hoher, schlanker Pappeln erhob, die sich jetzt in der Abenddämmerung verfinsterten, ertönte die klangvolle Stimme eines jungen Mädchens.

„Waßjuta, morgen früh wirst du die frischen Würmer nicht vergessen?"


„Nein, nein, Walja, ganz sicher nicht. Mit Gott!"

„Mit Gott denn, gute Nacht, Ljessia!"

„Gute Nacht, Fräulein!"

„Siehst du”, sagte Karoff, auf die Stimmen im Garten horchend, „mit allen Burschen im Dorfe ist sie auf du und du, und vom Morgen bis zum Abend treibt sie sich mit ihnen herum! Sie geht sogar zur Nachtwache, zur Pferdehut mit!"

Aber Turgenjeff, der wahrscheinlich die ganze Zeit über der eben vom Freunde ausgesprochenen Bitte gegrübelt hatte, sagte nachdenklich, indem er Ringe von Zigarettenrauch aufsteigen ließ:

„Glaubst du. Älter, dass es förderlich wäre, wenn ich mich in die Sache einmischte? . . . Ich habe Walja ja so gern. Sie ist ein Zicklein, ein eigenwilliges Geschöpfchen, aber siehst du, es besteht eben ein Abgrund zwischen uns und ihr, und beim besten Willen können wir einander nicht verstehen . . . Wir haben das Leben hinter uns, während die Sprösslinge wachsen und emporstreben, denn das Leben strebt ja zur Sonne hin. Uns aber zieht das Grab, die feuchte Mutter Erde an. Wie soll man da einander verstehen?"

In diesem Augenblicke stürmte ein schlankes, junges Mädchen im Laufschritt die Stufen der Veranda erklimmend, auf die Sprechenden zu.

„Ah, guten Tag, ihr. Alten. Da sitzt ihr ewig herum und brütet über ein Komplott gegen das Leben? Hahaha!"

„Welch unpassende Scherze, Walja!" rief ihr der Vater in ärgerlichem Tone zu.

„Scherze? . . . Was für Scherze meinst du, Papa?" sagte Walja und strich mit der rechten Hand ihr kurzgeschnittenes Haar zurecht, das ihr das Aussehen eines Knaben verlieh. „Ich spreche ganz im Ernste. Wie könnt ihr bloß den ganzen Nachmittag da sitzen? . . . Würdet ihr doch nur sehen wie prachtvoll es dort ist, ach Gott, Väterchen! . . ." Und plötzlich tanzte sie, in wildes Gelächter ausbrechend, auf einem Fuße umher.

Turgenjeff lachte:

„Natürlich ist es prachtvoll, wenn man bloß einundzwanzig Jahre auf seinen Schultern trägt und so flinke Beine hat wie du, mein Zicklein!"

„Ja flink, sehr flink sind meine Beine, alle Burschen beneiden mich drum. Stellen Sie sich vor, kein einziger kann sich mit mir messen, wenn ich meine Röcke hochhebe, und wir um die Wette laufen!“ und wieder bricht sie in ein schallendes, jugendlich übermütiges Gelächter aus, und ihre kleinen blauen Augen erglänzen in knabenhafter Ausgelassenheit.

„Da haben wir's, sie hebt ihre Röcke hoch und läuft mit den Dorfburschen um die Wette!" sagte der Vater voller Entsetzen und warf ärgerlich seine Zigarette beiseite, „was hast du denn heute für ein neues Kunststück verübt? Du bist ja den ganzen Nachmittag weggewesen!"

„Ein Kunststück, bloß wahrlich kein künstlerisches, Väterchen! Aber erst muss ich dich auf den Kopf küssen, damit du nicht brummst, sonst verschlingst du mich am Ende noch! Uuh! . . . Siehst du, das geschieht, um dich zu bestechen. Und jetzt höre zu: ein äußerst materialistisches Kunststück! Wir haben alle unsere Kleider aufgeschürzt, natürlich über die Knie, weit höher. . . . und sind in den Teich gestiegen, aber nicht tief. Papachen, wir wollten keinen Selbstmord begehen! Wir fingen Kaulquappen, Frösche, und ich erklärte ihnen, wie alle diese Geschöpfe konstruiert sind, natürlich nicht von Gott geschaffen, — das ist alles Blödsinn, dummes Popengeschwätz! — sondern von der Natur, von der allweisen Natur selbst, welche Kaulquappen, Löwen und mich geschaffen hat."

„Also, Walja, bringst du den Dorfjungen Atheismus bei?" fragte Turgenjeff.

„Und was glaubtest du, Onkel?" fragte das junge Mädchen hitzig und zugleich erstaunt, aber ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort:

,,Ich vernichte nicht bloß dieses weißbärtige Ungeheuer dort im Himmel, das für die eingeschüchterten, unglücklichen, leidenden Menschen hier auf Erden kein gütiges Wort übrig hat, außer ewigem Donner, Blitz, Geißeln, Epidemien, Tod, als dienten die Leiden der Menschen diesem Ungeheuer zum Vergnügen. Meinst du, es sei nicht wahr, Onkel?"

Turgenjeff zuckte die Achseln.

Siehst du, ich stürze ihn vom Throne . . . herunter mit ihm! Genug der Menschen gehöhnt! Aber das genügt nicht. Ich lehre die Burschen, sich gegen alle Lügner, alle Betrüger, die im Dienste dieses grausamen Ungeheuers stehen, aufzulehnen; ich lehre sie, nicht in die Kirche zu gehen, die Popen, die ganze Geistlichkeit zu verachten . . . es sind ja lauter Räuber, Onkel . . . Sie saugen dem armen Volke das Blut aus, sie rauben ihm sein letztes Hemd, nun ja, sie predigen ewig den leidenden, vor Hunger sterbenden Menschen eine Eselsgeduld, denn im Jenseits soll das von jemand vergolten werden. Während sie selbst, diese bescheiden demutsvollen, langhaarigen Schweine, hier in Komfort und Luxus leben und ewig die Ohren mit Watte verstopft haben, um das Stöhnen und Fluchen des Volkes nicht zu hören. Du siehst, Onkel, ich revoltiere nicht bloß gegen den weißbärtigen Gott, sondern ich zerstöre auch seine Kirche, die zum Gefängnis des menschlichen Denkens hier auf Erden ausgeartet ist. Wenn ihr nur wüsstet, wie die Burschen die Ohren spitzen . . . Sie verschlingen meine Worte wie ein Hungriger warmes Brot."

„Gut, Walja, du zerstörst die gesamte Religion, sei dem also, aber wodurch willst du sie in der geplünderten Menschenseele ersetzen?" fragte Turgenjeff.

„Wodurch? Weißt du es denn nicht, Onkel? Durch die Natur, die Natur, — diesen großen Anfang alles Lebenden."

„Mein Kind, aber in dieser Natur selbst scheint eine unerklärliche Schönheit verborgen, ein kaum fasslicher, dem Menschen unverständlicher Mystizismus zu walten!"

„Schönheit, Mystizismus, da sehe ich gleich, dass du Dichter bist, Onkel! Ohne Schönheit, Mystizismus kannst du keinen Schritt weit gehen. Nein, da kann ich nicht mitmachen! In der Natur sehe ich bloß ein grandioses, weise erbautes Laboratorium, welches vor allem Lebenden seine Tore so weit öffnet, selbst vernünftig, allweise schafft, und den Menschen, den Arbeiter herbeiruft, in ihren Armen schöpferisch zu wirken. Auf diese Weise wird Stein auf Stein gesammelt und ein grandioser Turm menschlicher Schöpfung errichtet."

„Aber so verneinst du ja jede Schönheit, jegliche Kunst, Walja!" rief Turgenjeff mit entsetzter Stimme aus.

„Von welcher Schönheit, welcher Kunst redest du, Onkel? Wo sind sie?"

„Ja, nur Raffael beispielsweise! Ist das nicht Kunst? Ist das nicht Schönheit?"

„Dein Raffael, Onkel, war ein unnützer Brotesser, und seine Malerei diente bloß als Kurzweil für müßige Taugenichtse! Für mich, eine denkende Realistin, steht der Schuhmacher mit seinen schwieligen Händen hundertmal höher als dein Raffael mit all seiner Malerei. Denn die Schwielen sind es, welche die schöpferische Arbeit der Natur und des Lebens vorwärts bringen. Und diese Schwielen machen den Menschen frei, denn er weiß, dass er eine Einheit unter Millionen von Menschenleben darstellt. Er strebt nicht danach, durch seine Arbeit Macht über andere zu erlangen, während dein Raffael die Menschen bezwingen, unterwerfen will . . . ich aber bin vom Scheitel bis zur Sohle, so wahr du mich hier stehen siehst, ein lebendiger Protest, eine Auflehnung gegen jegliche Autorität, jede Macht, jede Tyrannei. Ich will die Ketten zerschlagen, ich will Freiheit, Licht, Luft, ich will die ganze Welt, soweit sie mein Gedanke umspannen kann . . . für mich und die gesamte Menschheit. Ihr aber, ihr seid im Sumpfe der Macht, der Autorität steckengeblieben, in Anbetung eingebildeter Schönheit, monströs-parasitärer Kunst, trügerischer Liebe . . . Ihr Ärmsten habt euch Fesseln aufgebürdet und schleppt sie immerfort, wennschon ihr unter ihrer Last ersticken solltet"

„Also für dich, ein junges Mädchen, Walja, existiert keine Liebe?" fragte Turgenjeff wieder halb erstaunt, halb neugierig.

„Liebe?" brach das junge Mädchen verächtlich aus, „übrigens gib mir mal erst eine Zigarette, Onkel! Meine sind alle ausgegangen!"

Turgenjeff erhob sich galant ein wenig vom Sessel und reichte dem herangetretenen jungen Mädchen sein Portecigares, während der Vater mit Entrüstung protestierte:

„Aber Walja, wie kannst du bloß?"

„Siehst du, Onkel, immerfort brummt er”, rief Walja beim Anzünden der Zigarette, „und bloß, weil ich ein Mädchen bin. Wäre ich ein Knabe, in Hosen, dann könnte ich alles tun! Deshalb, Onkel, obwohl ihr immerfort von Liebe schreibt, muss dieser wahnsinnige, sinnlose Betrug unter den Menschen vernichtet werden. Die Menschen wollen einander einfach küssen, statt dessen schneiden sie die allerdrolligsten, urkomischsten Gesichter, erzählen einander von Sternen, von Rosen, von Mondschein. Sind sie nicht Idioten? Über den einfachen und klaren physischen Drang aber schweigen sie pharisäerisch. Das ist die ganze Komödie des Betruges, des Drum und Dran, wenn man genau weiß, dass man in dieselbe Falle kommt, die in euren Romanen Lid>e genannt wird! Und nun wollen wir diesen Betrug vernichten. Körper ist Körper, seinen Leidenschaften gebührt ihr Recht, und wenn in diesem Organismus von Laboratorium eine neue Generation geschaffen werden muss, so sollen es die Menschen ohne Lüge und Betrug tun. Wir wollen die Liebe zerstören, weil ihr Männer durch diesen Betrug, durch eure süßlich-lügnerischen Reden von Mondschein, Nachtigallen die Frau, das heißt die Hälfte der gesamten Menschheit, in eure Sklavin, in eure Puppe verwandelt habt, die ihr wie ein Spielzeug um euch haben wollt, die euch zum Gegenstand eurer nächtlichen Genüsse dient, die aber ein Mensch ist. Um eure Sklavin sicherer schänden zu können, haltet ihr sie ewig in materieller Abhängigkeit, weil ihr eine Auflehnung ihrerseits befürchtet. Ihr fürchtet, dass auch in der Sklavin das niedergestampfte Bewusstsein menschlicher Würde erwachen könnte. Du siehst also, Onkel, ich vernichte die Familie, ich vernichte die niederträchtige Liebe, ich strebe danach, der Frau materielle Unabhängigkeit zu sichern, denn dies ist der einzige Weg, ihr die niedergetretene Menschenwürde zurückzugeben."

„Bisher, Walja, sehe ich bloß, dass du zerstörst. Was bleibt denn dann noch vom Leben? Wo ist das Ziel des Lebens?"

„Das Ziel des Lebens? . . . Du, ein Greis mit schneeweißem Haar, ein berühmter Schriftsteller, stellst mir diese Frage? . . . Nun gut, so will ich es dir sagen: Das Lebensziel ist das vernünftige Leben eines denkenden Realisten, der jede Art von Autorität, Gewaltherrschaft, alle Religion, alle Liebe beseitigt. Kurz, alle Fesseln bricht, um stolz und erhaben auf Erden zu wandeln und seinen Weg mit der helllodernden Fackel der Vernunft zu beleuchten . . . Aber es lohnt sich kaum, mit euch darüber zu reden! Ich habe mich den Tag über so müde gelaufen! Gute Nacht!"

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Die Sterne funkelten hell am Himmel. Der entschlummerte Garten war in undurchdringliches Dunkel gehüllt . . . die schwarzen Silhouetten schlanker Pappeln glichen erloschenen Lichtem in einem feierlichen, jetzt mit Finsternis erfüllten Tempel. Aus der Ferne ertönte von Zeit zu Zeit das Quaken der Frösche . . . ab und zu bellte ein Hund halb im Schlafe, dann war es still ringsum . . .

Es herrschte jene tiefe, unerklärlich geheimnisvolle Stille einer Maiennacht, da man den Pulsschlag reifenden Lebens fühlt . . .

Die beiden Alten schwiegen lange.

„Nun?'' fragte schließlich Karoff.

Turgenjeff bewahrte Schweigen, erhob sich sodann, trat zu seinem Freunde und legte diesem liebkosend die Hand auf die Schulter.

„Weißt du, Alter, mir kam das merkwürdige Wort ,nihil’ in den Sinn, es bedeutet: nichts. Sie erkennt nichts an, für sie ist alles ringsum leer, so ist sie denn eine Nihilistin. Dies eine musst du verstehen, zwischen uns und ihr, zwischen dem Alten und dem kommenden Neuen klafft ein Abgrund. Es ist besser, ohne Kampf nachzugeben, denn vergeblich ist es, gegen ein Leben, das siegreich auftritt, anzukämpfen. Denke daran!''
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das zaristische Russland. 02 Die Nihilisten