Zweite Fortsetzung

Sodann hat man uns vor Gericht geführt. Was war das für ein Gericht, bloß so pro forma! Mit wichtiger Miene saßen an langen Tischen alte ergraute Generäle, Senatoren, Höflinge, die in Hofintrigen aufgewachsen, in Gold und Brokat gekleidet waren, jedoch keine Spur von Gewissen besaßen, auch nicht die geringste! Sie dachten alle bloß an eines: Es dem jungen Zaren recht zu machen; des Zaren Herz aber war grimmig und seine Art unerbittlich grausam, sein Herz kochte vor Rachegier, uns alle wollte er zerfleischen, vernichten.

Merkwürdige Leute gab es da unter uns. Sie traten vor Gericht wie zu einer Hochzeit, ein frohes Lächeln schwebte immer auf ihren Lippen. Es schien, als gingen sie nicht, um über ihre Taten Rechenschaft zu geben, sondern um die an den Volksqualen Schuldigen vor Gericht zu stellen. Sie führten ihre Reden häufig mit so viel glühendem Mut und Feuer, dass die Senatorenrichter verwundert, beschämt und gänzlich verwirrt die Augen senkten.


Als Ryleeff, der ein großes, kristallklares Herz besaß, vor Gericht geführt wurde, sagte er ihnen ruhig und mutig:

„Wozu die vielen Auseinandersetzungen? Ich bin der Hauptschuldige an den Ereignissen vom 14. Dezember. Ich hätte alles einstellen können, aber ich regte im Gegenteil zur Aktion an. Wenn jemand die Todesstrafe für diesen Tag verdient, so bin ich es!“

Einer der Richter, General Lewaschin, fragte den Gardekapitän Jakuschkin:

„Was wollten Sie erreichen, Kapitän?“

„Bloß die Freiheit des Volkes, General“, lautete die Antwort, „ich wollte die Leibeigenschaft aufheben!“

Im Nebenzimmer saß Nikolai selbst und befragte nochmals die vor Gericht Verhörten. Dieser Jakuschkin wurde vorgeführt.

„Treten Sie näher“, befahl der Zar, und als der Arretierte herantrat, stürmte er drohend auf ihn los:

„Wissen Sie wohl, was Sie in jener Welt zu gewärtigen haben? Fluch! . . . Ich will Sie aber nicht gänzlich zugrunde richten, deshalb werde ich Ihnen einen Priester schicken.“

Hauptmann Jakuschkin schwieg.

„Weshalb antworten Sie mir nicht?“ fragte der Zar außer sich.

Der Arretierte erhob den Blick und schaute dem Zaren stolz in die Augen, als wollte er seine Kraft mit ihm messen.

„Was wünschen Majestät von mir?“

„Mir scheint, ich rede ziemlich klar! Wenn Sie nicht ihre Familie zugrunde richten wollen, so müssen Sie alles eingestehen und Ihre noch nicht arretierten Genossen nennen.“

Verächtlich lächelte der Arrestant:

„Das kann ich nicht! Bei meinem Eintritt in die geheime Gesellschaft habe ich mein Ehrenwort gegeben, niemand zu nennen.“

„Was reden Sie da von ihrem schuftigen Ehrenwort?“ brüllte ihn der Zar an.

Der Blick des Arrestanten wurde einer gespannten Stahlsehne gleich, als ob er jeden Augenblick dem Gegner einen Todespfeil zuschleudern wollte. Erschrocken trat der Zar einen Schritt zurück.

„Ich kann niemand nennen, Majestät!“ dabei hatte die Stimme des Arretierten die Härte von geschmiedetem Stahl, und seine Worte schlugen, schweren Hämmern gleich, an die Brust des Zaren; dieser trat noch einen Schritt rückwärts, erbleichte, und zitternd vor Wut am ganzen Leibe befahl er seiner Gefolgschaft, indem er die Hand gebieterisch ausstreckte:

„Er soll so fest in Fesseln gelegt werden, dass er sich nicht rühren kann.“

Natürlich wurde der Befehl auch ausgeführt.

Sodann wurde der verwundete Sergei Murawieff zum Verhör vor den Zaren geführt. Nikolai kannte den hervorragenden Edelmut, die unermessliche Energie und jenen ungeheuren moralischen Einfluss, den der Arretierte auf den ganzen Stand der Offiziere in der Armee ausübte, deshalb wollte er milde sein, ihn zu sich heranziehen. Er fragte:

„Auch Sie rebellieren?“

„Rebellieren, Majestät?“ wiederholte voller Erstaunen Sergei Murawieff, als verstünde er die Frage nicht.

„Wie nennen Sie denn sonst Ihre Handlungsweise, wenn nicht eine niederträchtige Revolte gegen den von Gott Gesalbten, gegen den eigenen Zaren?“

Sergei lächelte und schüttelte traurig den Kopf.

„Was Sie wollen, Majestät, nur nicht Revolte! Ich trat auf den Senatsplatz, um das wieder zu erobern, was man seit Jahrhunderten einem Millionenvolke gestohlen hat. Ich trat hervor, um dem leidenden Volke zu verkünden: Sklave, von nun an bist du Mensch, richte deinen gebeugten Nacken auf! Ich bin hervorgetreten, um dem Gekreuzigten zu helfen, vom Kreuz zu steigen, ich wollte, dass die Sonne auf Erden für alle scheine, dass nicht Millionen Menschen die feuchte Mutter Erde mit ihren Tränen, mit ihrem Blute zu tränken brauchen, und dass der Wind durch die unendlichen Steppen Russlands nicht bloß Stöhnen, Weinen und Klagen wehe! . . . Glück, Freude, einen warmen Lichtstrahl wollte ich dem teuren Volke geben!“

Der Arretierte sprach so glühend, so viel begeisterter Glaube klang in seinen Worten, dass des Zaren Herz einen Augenblick gerührt war; Tränen traten ihm in die Augen. Er erhob sich, trat zum verwundeten Sergei Murawieff heran und streckte ihm die Hand zur Versöhnung entgegen.

„Ich will Sie begnadigen, ich bin durch die Erhabenheit Ihrer Seele gerührt. Sie müssen nur versprechen, mir treu zu sein!“

Verneinend schüttelte der Arretierte den Kopf und legte beide Hände auf den Rücken.

„Nein, Majestät! Im Namen des Volkes habe ich mich gegen die zaristische Willkür erhoben, also brauche ich keine Zarengnade! . . .“

„Ja, es gab große, erhabene Seelen unter uns, und sie verstanden so standhaft, mit solcher Märtyrereinfachheit dem Tode ins Auge zu sehen!“

Der Greis schweigt. Auch seine jugendlichen und bärtigen Zuhörer sind stumm; ein jeder ist in seine Gedanken versunken. Vor ihrem geistigen Auge erstehen und beleben sich längst vergangene Jahre, längst verbliebene Gestalten . . . irgendwo dort, . . . ferne . . . in einem fast märchenhaften Petersburg, lebten einst, nicht Menschen, nein, Heldenriesen, die unerschütterlich glaubten, und für ihren Glauben das Märtyrerkreuz auf sich zu nehmen, es nach Golgatha zu tragen, um des vielgeprüften Duldervolkes willen den Tod zu erleiden bereit waren.

Sie wissen selbst wohl kaum, weshalb ihre Herzen sich in qualvoller Wehmut zusammenkrampfen, die Augen sich mit Tränen füllen, und sie fest ihre Zähne aufeinanderpressen müssen, um das Schluchzen, das ihnen die Kehle zusammenschnürt, zu unterdrücken, um die stille Trauer, die wehmütige Andacht nicht zu unterbrechen, die im Zimmer herrscht. Man könnte glauben, ein noch nicht beweinter Sarg eines unendlich teuren Verstorbenen stehe darin . . .

Es dauert eine lange Weile, ehe der Greis sich wieder beherrschen kann und die Erzählung fortsetzt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das zaristische Russland. 01 Die Dekabristen