Erste Fortsetzung

Während der langen Winternächte versammelten wir uns zu heimlichen Unterredungen, wir berieten, besprachen oder träumten eher davon, wie das Joch vom Nacken des Bauern abgenommen werden müsste, wie der Sklave sich endlich frei fühlen und in ihm der Mensch wieder erwachen könnte, der Mensch, dessen Streben ja nach Glück geht hier auf Erden. Es glühten alle Gesichter, die Augen glänzten . . . Ja, damals wünschten wir Glück und Freiheit nicht bloß für die Russen allein, sondern für alle, alle Menschen auf Erden! Dieser Traum war so erhaben und gewaltig, dass wir es für ein unverdientes Glück hielten, für' diese große Idee sterben zu dürfen. Der Tod, der uns vorschwebte, kam uns begehrenswert süß vor.

Damals sprach Ryleeff, als schöpfte er aus unsern Herzen . . . er war ja ein Dichter:


„Sterben werde ich für mein liebes Volk,
Das fühle ich, das weiß ich,
Und voller Freude, heiliger Vater,
Segne ich mein Los.“

Wir dachten und dachten darüber nach, wie wir dem russischen Volke helfen sollten, endlich beschlossen wir, ihm einen freiheitliebend Zaren zu geben, der des Volkes Schicksal mildern, den Sklaven befreien würde. Wir wollten es verhindern, dass Nikolai den Thron besteige, da er von rohem Temperament und despotisch war, stets unterdrücken und die Fesseln des russischen Sklavenvolkes noch fester schmieden wollte.

Damals, am 14. Dezember, wurde der Befehl erlassen, Nikolai I. den Treueid zu leisten.

Am Vorabend waren die Gesichter der versammelten Verschwörer feierlich und schweigsam. Hier handelte es sich nicht um unser eigenes Leben, hier wurde das Schicksal des ganzen russischen Volkes entschieden. Mitten unter allgemeinem Schweigen erbebt sich plötzlich Ryleeff und holt langsam ein Blatt Papier aus seiner Tasche hervor. Unser aller Blicke sind auf ihn gerichtet, er entfaltet das Blatt und liest.

„Hier ist eine Anklage Nikolais, Kameraden“, sagte Ryleeff, nachdem er die Lektüre beendigt hatte, „ist es denn nicht so klar? Wir alle müssen sterben. Aber wenn es zu sterben gilt, so wollen wir lieber den Tod mit Waffen in der Hand erwarten!“

So beschlossen wir denn, in die Kasernen zu gehen, mit unseren Bauernsoldaten zu reden, sie hatten uns sehr gern, ihnen zu erklären, dass wir sie um ihres eigenen Glückes willen, für des Volkes Wohl, zum Kampf geleiten. Den nächsten Morgen wollten wir sie auf den Senatsplatz hinausführen, nicht, um Nikolai den Treueid zu leisten, sondern um ihn zu stürzen.

Beim Abschied drückten wir einander die Hände. Wir waren uns der großen Aufgabe, die uns bevorstand, vollkommen bewusst.

Als der Dichter Odoewski mir zum letzten Male meine Hand drückte, sagte er:

„Mein Teurer, wir gehen in den Tod, aber welch herrlicher Tod!“ Wir umarmten und küssten uns dreimal angesichts des Todes; wir hatten einander besonders lieb.

Es war ein frostiger Dezembermorgen, über der Stadt schwebte dichter Nebel, und es war so grau, so erschreckend grau ringsum, wohin man auch blicken mochte, nirgends ein Lichtstrahl, Kinder, nirgends! Der bleierne, unheimlich feindselige Nebel des frostigen russischen Nordens.

Vor dem Winterpalais bildeten wir ein Karree, das Moskauer Garderegiment, drei Kompanien des Leibgarderegiments und alle Gardematrosen.

Unser Kommandant, Fürst Trubetzkoi, verspätete sich. Man erzählte, als er sich daheim nur zögernd zum Fortgehen rüstete, soll die Gouvernante in der Familie, eine Französin Emilie Letendu, vorwurfsvoll die Worte an ihn gerichtet haben:

„Schämen sollten Sie sich, noch hier zu Hause zu sein, während Ihre Kameraden auf der Straße im Geschossfeuer sterben!“ Augenblicklich griff er nach seiner Mütze und stürzte aus dem Hause.

Beim Beginn unserer großen Sache für die Freiheit und das Glück des Volkes wollten wir Blutvergießen vermeiden. Wir wollten auf friedlichem Wege den Zaren zwingen, auf den Thron zu verzichten, und zwar zugunsten dessen, der mit der Befreiung des Volkes einverstanden wäre. Der Metropolit Serafim kam mit dem Kreuze zu uns hinaus und begann uns zuzureden, uns nicht aufständisch gegen den Zaren zu erheben, denn es gäbe keine Macht, die nicht von Gott' eingesetzt wäre. Die Soldaten baten den Greis, sich zu entfernen, da ihre Sache eine heilige, gerechte, die Sache des Volkes sei.

Da ging es los. Der Zar befahl der Kavallerie des Generals Orloff, die Attacke zu beginnen, aber zwei Attacken wurden zurückgeschlagen. Der Zar wurde nachdenklich; da riet ihm General Suchosanez, das Kanonenfeuer auf uns zu eröffnen. Lange schwankte der Zar, denn diese Maßnahme war gar zu immenschlich und blutrünstig, aber schließlich erteilte er den Befehl, sein Thron war ihm zu lieb.

Wir sahen, wie man Kanonen aufführte, der Tod starrte uns aus deren dunklen Mündungen an, aber das Karree rührte sich nicht vom Fleck. Einige Soldaten stürzten bloß auf die Zuschauermenge aus dem Volke zu und baten:

„Geht, Brüderchen, es ist gefährlich! Wir wollen nicht, dass ihr um unsertwillen zugrunde geht.“

Vom Schlossfenster aus gab der Zar durch eine Handbewegung das Zeichen: Schießen! General Suchosanez befahl zu feuern, aber, o Wunder! es erfolgte kein Schuss! Atemlos warteten wir, ohne zu verstehen, bis wir hörten, wie ein Artillerieoffizier seinem Soldaten zurief:

„Du Schuft, weshalb feuerst du nicht?“

„Euer Wohlgeboren, aber es sind ja die Unsrigen.“

„Dojan, du hast zu gehorchen!“ schrie der Offizier den Artilleristen an, riss den Zünder aus den Händen des Soldaten und feuerte eigenhändig ab.

Es ertönte der erste Kanonenschuss, darauf noch einer, weiter und weiter. Mit Gewehren gegen Kanonen kann man nichts anfangen, liebe Kinder, und mit jedem Schuss wurden in unser Karree große Breschen geschlagen. Viele sind da gefallen, das Blut floss, die Leichen häuften sich, aber alle starben schweigend, wie Märtyrer für die heilige Sache des Volkes, und es war so viel Einfachheit, so viel Heroismus in der Haltung dieser sterbenden Bauernsoldaten, die ihr Leben für ihre Sklavenbrüder ließen! Nie werde ich dies vergessen, es war fürchterlich, aber so erhaben. Glückselig die Seele, der es vergönnt war, auch nur einmal im Leben einen solch erhabenen Aufschwung zu erleben.

Der Zar siegte."

Dies wurde mit solcher Erbitterung in der Stimme gesagt, dass ein Schauer die Zuhörer durchrieselte, eine so unermesslich tiefe Betrübnis hatte der Greis in die Worte gelegt, von einem zerschlagenen Leben, von zerschlagenen Hoffnungen sprachen sie. Diese tiefe Wunde konnte ja nie im Leben heilen.

Lange schwieg der Greis, bis eines der Kinder seine Hand berührte und ihn anrief, als weckte es ihn: „Großvater!"

Der Greis fuhr zusammen.

„Ja, da eilte Sergei Murawieff zu seinem Tschernigoff-Regiment, er wollte dort, in der Provinz, einen Aufstand erregen, und die Soldaten folgten ihm mutig, sie vergötterten ihn, sie liebten ihn über alles. Bei der weißen Kirche begegneten sie den Zarenregimentern, die sehr zahlreich waren, und Starkes bricht ja einen Strohhalm, Kinder. Der Kampf entbrannte, die Soldaten kämpften mutig, viele haben dabei ihren Tod gefunden. Sergei Murawieff wurde verwundet und gefangen genommen. Auch hier siegte der Zar!"

„Hat der Zar auch dich besiegt?" fragte eine der kleinen Zuhörerinnen mit weitgeöffneten Äuglein und mit Zweifeln in der Stimme.

Ein trauriges Lächeln glitt über des Greises Lippen.

„Auch mich, mein Liebling, ja auch mich, mein kleines Herz. Wir wurden alle arretiert, gefesselt und in der Peter-Pauls-Festung eingesperrt. Dort sind die Mauern ungeheuer dick, feste, schmiedeeiserne Gitter gibt es dort, und das Licht der Gotteswelt kann nicht eindringen, dort erstickt und verlöscht das Leben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das zaristische Russland. 01 Die Dekabristen