Dritte Fortsetzung

„Wir alle wurden zum Tode verurteilt, und um den Tod schmachvoller zu gestalten, um unseren Angehörigen mehr Schmerz zu bereiten, wurde beschlossen, uns nicht mit dem Beil zu köpfen, sondern uns mit dem Strang, wie Hunde, zu erhängen . . . Aber nicht allen war es vergönnt, dieses großen Kelches würdig zu sein, das Todeskreuz für das Volk zu empfangen.

Nikolai wünschte uns und der Welt seine nicht vorhandene Güte zu zeigen. Er begnadigte einen Teil von uns, indem er die Verschickung zu Zwangsarbeiten in Sibirien anordnete, ausgenommen für die fünf Hauptanführer: Pestel, Ryleeff, Sergei Murawieff, Bestugjeff und Kachowsk. Diese mussten sterben!


Und nun, genau nach sechs Monaten, am 13. Juni, werden die Verurteilten zum Schafott geführt, das im Hofe der Peter-Pauls-Festung errichtet war. Es war früh, um zwei Uhr morgens. Die Sterne am Himmel begannen zu erlöschen, das nächtliche Dunkel verzog sich, und man fühlte, obwohl man es nicht sehen konnte, dass irgendwo das Morgenrot aufging.

Auf dem Gerüste, unter dem Strange, verabschiedeten sich die Verurteilten; sie drückten einander die Hand, sie umarmten sich wie Brüder, die eine weite, unbekannte Reise antreten.

Der Henker trat zu ihnen heran und zog ihnen lange Hemden an. Pestel und Sergei Murawieff, den beiden Herzensfreunden, gelang es nochmals, sich innig die Hand zu drücken.

Als der Henker Sergei Murawieff auf ein Taburett stellte und ihm die Schlinge um den Hals warf, sprach der Verurteilte mit fester, andächtig feierlicher Stimme:

„Gott, errette Russland!“ und nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: „Und vergib dem Zaren!“

Das Taburett wurde unter seinen Füßen weggezogen . . .

Einen Augenblick schwebten die weißen Silhouetten in der Luft, leise schaukelnd, aber plötzlich geschah ein Wunder; drei Stricke rissen gleichzeitig, mit dumpfem Lärm fielen drei von den Körpern der Gehenkten auf das Holzgerüst des Schafotts nieder; es waren Ryleeff, Kachowski und Sergei Murawieff. Unsagbar erschrocken zuckten alle Anwesenden zusammen und wichen unwillkürlich zurück; in regungsloser Bestürzung, förmlich erstarrt, stand der Henker wie angenagelt auf seinem Platze.

Durch den Fall brach sich Sergei Murawieff das Bein, und das trockene Krachen der Knochen war in der eingetretenen Stille schreckhaft deutlich zu hören. Da sagte er mit Bitternis in der Stimme:

„Armes Russland, es versteht nicht einmal das Hängen.“

Einer der anwesenden Offiziere näherte sich dem General Tschernyschewski, dem die Aufsicht über die Todesvollstreckung oblag.

„Exzellenz, er hat sich das Bein gebrochen; vielleicht könnte man ihn verbinden?“

Der General blickte dem Bericht erstattenden Offizier ins Gesicht, der die ganze Zeit salutierend die Hand an der Mütze hielt, er las in seinen Augen Geistesabwesenheit und wahnsinniges Grauen angesichts des furchtbaren Todes.

„Dummkopf“, rief der General verächtlich und mit Strenge, als wollte er den Offizier zur Besinnung bringen, und fügte hinzu: „Sorgen Sie dafür, dass schleunigst neue Stricke herbeigeholt werden!“

Es erhob sich ein schrecklicher Tumult; die Leute rannten hin und her . . . Die Türen der Festung wurden aufgerissen und wieder zugeworfen, aber es verging trotzdem eine gute halbe Stunde, bis neue Stricke auf dem Schafott aufgezogen waren und der am ganzen Leibe zitternde Henker mit Hilfe einiger Soldaten den Verurteilten mit dem gebrochenen Bein vom Gerüst aufhob und dessen Kopf in die Schlinge steckte.

Und abermals hingen am schwarzen Galgen fünf weiße Silhouetten. Einige konvulsive Bewegungen mit den Füßen, ein schwaches Ächzen im ersten Augenblick, dann hingen sie regungslos, hilflos den Kopf ein wenig auf die Schulter geneigt.

In der Ferne, hinter der von nächtlichen Cauchemarträumen noch nicht erwachten Stadt, dort, wo der Osten sein musste, blinkte der erste schwache Schimmer des Morgenrots durch. Aber sie waren nicht mehr.“

***************

„Ihr seid aber gar neugierig, ihr Kleinen, alles wollt ihr wissen”, fährt der Greis gutmütig brummend fort. „Was mit uns geschehen ist? Nun, ist denn nach einem solchen Tode unser Schicksal noch interessant? Unser Leben war einfach: wir wurden gefesselt, zur Hälfte wurde uns der Kopf glatt geschoren und auf dem Körper wurden Schandmale eingebrannt, das war damals Sitte, mit allen Zwangsarbeitern wurde so verfahren, dann wurden wir weit, weit weggetrieben von unserer teuren Heimatstätte, ins Innere des kalten Sibiriens, und nun, in der Tiefe feuchter sibirischer Schächte, arbeitest du tagtäglich, jahrein, jahraus, jahrzehntelang. Es gibt bloß eine einzige Melodie, die einem Grabesliede gleich deine Arbeit begleitet, das ist der niemals verstummende Klang der Fesseln. Dort aber, wo Fesseln sind, ist ja kein Leben. Zwangsarbeit ist nur ein Grab für lebende Leichen, die Menschen bewegen sich zwar, sie sprechen sogar, aber sie sind tot, denn jeden Augenblick hören sie das eigene Totengeläute. Und so ging es zweiundzwanzig Jahre lang, das ganze Leben . . .

Überall verfolgt einen dieser fürchterliche Klang der Fesseln, des Morgens mischt er sich in dein Gebet der Verzweiflung, er klingt dir noch in den Ohren, wenn du nachts, selbstvergessen, im Schlafe davon träumen möchtest, dass vielleicht einst auf Erden die Fesseln verschwinden, die Zwangsarbeit aufgehoben wird."

Seit vielen Jahren war es so üblich, dass, nachdem der Greis seine Erzählung beendigt hatte, seine kleinen Schüler und Schülerinnen, von den Erwachsenen begleitet, ein Lied anstimmten, das der Greis ihnen beigebracht. Einem leisen Gebete gleich erhoben sich ihre Stimmen, um sich von der niedrigen Decke voller Entrüstung und Flehen zugleich zum Himmel emporzuschwingen. Traurig war dieses Lied, denn die ganze Wehmut ihrer Herzen legten Väter und Söhne in dasselbe hinein. Aber es klang darin auch ein heißglühender Glaube, eine schüchterne Frage an den Himmel und ein tief leidenschaftliches Hoffen. Sie sangen:

„In der Tiefe sibirischer Schächte
Bewahret ihr stolze Geduld.
Nicht umsonst ist eure trauervolle Müh'
Und der Seelen erhabenes Streben
Die ersehnte Zeit wird kommen.
Da die schweren Fesseln fallen werden.
Die Gefängnisse zusammenstürzen,
Und die Freiheit freudig euch am Eingang empfangen wird.“

Dieses Lied war gleichsam ein Antrieb zum Ausharren für alle Leidenden auf dieser Erde:
Brüder, lasst den Mut nicht sinken!


******************

Späte Nacht. Draußen, hinter den dicken Balken und Mauern des Häuschens, wütet sibirischer Schneesturm, der obdachlos umherirrt und rasend gegen die gefrorenen Scheiben der kleinen Fenster schlägt.

Der Greis kann keinen Schlaf finden. Er ächzt fortwährend, wendet sich von einer Seite auf die andere, seufzt, und in dem undurchdringlichen Dunkel, das den Raum erfüllt, glaubt er Trommelschlag, Kanonenschüsse, Kavallerieattacken, Stöhnen, Rufe der Fallenden, Todeskonvulsionen der Sterbenden zu vernehmen. Er sieht die Kameraden, die am schwarzen Schafott hängen, eine endlose Schar grauer, elender, vom Schicksal gebeugter Menschen zieht in Fesseln auf den staubigen, unbekannten Wegen Sibiriens an ihm vorüber, und regungslos schwebt in der Luft der Totenklang der Ketten, sie klingen, klingen immerzu.

Nächtliche Schauer erfassen den Greis. Er ringt nach Atem. Er ruft seine gute Frau an, die neben ihm liegt und sich vielleicht bloß schlafend stellt. Mit einer Stimme voll sehnsüchtig brennender Fragen flüstert er:

„Sag, meine Teure, es ist doch wahr, einst werden die schweren Fesseln, fallen, die Gefängnisse einstürzen, das Volk muss doch einmal zu stöhnen aufhören. Sag, es kann doch nicht anders sein, Liebste?“ Und nach einem Augenblick Schweigen fügt er hinzu, aber noch leiser, als ob er sich keusch seines Wunsches schämte:

„Wenn ich es noch bis dahin brächte, das Leben solange hinziehen könnte. Nur mit einem Auge von ferne glückstrahlende Gesichter im Morgenrot der Freiheit zu sehen. Was, meine Gute?"

Was soll sie antworten? In der Dunkelheit umfängt sie mit nacktem Arme das Haupt ihres ergrauten, aber ewig sehnsuchtsvoll träumenden Kindes und drückt es an ihre Brust. Jetzt ist sie Mutter.

Tief und lange seufzen beide.

Draußen aber tobt noch immer der wütende sibirische Schneesturm.

Das Dunkel ringsum ist noch so dicht.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das zaristische Russland. 01 Die Dekabristen