Das zaristische Russland. 01 Die Dekabristen

Aus dem Russischen übersetzt von Alice Panin
Autor: Panin, Victor, Erscheinungsjahr: 1921

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Dekabristen, Leibeigenschaft, Bauern, Knute, Freiheit, Ausbeutung, Sibirien, Verbannung, Zwangsarbeit, Revolution, Aufstand, Widerstand, Zar, Märtyrer, Opfer
1. Die Dekabristen
2. Die Nihilisten
3. Leibeigenschaft
4. Aufhebung der Leibeigenschaft
5. Auswanderer
6. Polenaufstand
7. Ins Volk
8. Nachklänge der französischen Kommune
9. Märtyrer
10. Die Jakutsker Schlächterei
11. Die „Ochranka“
12. Die Geistlichkeit
13. Die „Duchoboren"
14. Die Großfürsten
15. Anleihen
16. Der 9. Januar
17. Knute und Folter
18. Geschändete Frauen
19. Das Panzerschiff „Potemkin“
20. Judenpogrome
21. Nikolai II.
22. Die russische Presse
23. Die Studenten
24. Die russische Frau
25. Das russische Gewissen in der Wüste

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Russland, wenn auch deine Leiden unzählig,
Dein bitteres Schicksal ein dunkles Rätsel,
Doch so groß ist dein reges Gewissen,
So rein menschliche Liebe entquillt deiner Seele,
Dass der Klang jahrhundertelang getragener Fesseln
Dein Sehnen nach glücklichem Menschenleben nicht begraben konnte,
Und heute auferstehst du, Märtyrerin, von den Toten,
Den Tod durch den Tod überwindend.

                  Der Verfasser.


                        I. Die Dekabristen.

Zum dritten Mal an diesem Morgen fragte der Greis in erregtem Tone:

„Frauchen“ hast du auch nichts vergessen?“

„Nein, mein Lieber“ die Stimme der alten Frau im Nebenzimmer klang weich und zärtlich, „ich habe alles vorbereitet, du musst dich nicht sorgen, mein Guter."

„Eben, sonst kommt es vor, dass du etwas vergisst!" Es hielt den Mann nicht auf seinem Platze; er ging hin und her, schaute zu, wie seine Frau allerlei Leckerbissen für die Kinder und auch, für die Erwachsenen vorbereitete. Ein kalter Pirog, der zum Tee gereicht werden sollte, wurde in Stücke geschnitten.

Dem Greise kam es vor, als wirtschaftete seine alte Gefährtin heute besonders lange; aber er schwieg. Die Ärmste hatte sich so abgemüht, allein selbst besorgt.

Er selbst jedoch konnte seiner Erregung kaum Herr werden. Eine unendlich breite Welle vergangener Erinnerungen strömte auf ihn ein, zauberte ihm so lebhafte Bilder vor Augen, dass sein altes, müdes Greisenherz vor tiefer Wehmut und Freude sich zusammenkrampfte.

Gebückt, die Hände auf dem Rücken, tritt er schürfenden Schrittes an das Fenster. Er will sehen, ob sie nicht kommen? Aber draußen stürmte ein wütendes sibirisches Schneegestöber, — es ist nichts zu sehen! Er wendet sich um, blickt auf die altertümliche große Wanduhr und flüstert vor sich hin:

„Nein, noch eine Viertelstunde! Die Kleinen werden ja erfrieren, ist das mal ein Sturm! Eeh, Sibirien, du Mütterchen!“ . . . und dabei schüttelt er nachdenklich, halb vorwurfsvoll sein Greisenhaupt.
„Frauchen”, ruft er von neuem seine alte Frau an, „mein Gott, wohin habe ich bloß das Band für Mascha getan? Ich kann es nirgends finden. Und wie wird sich doch das Mädel freuen, nicht wahr?"

„Suche es dort auf der Kommode. Ich habe es selbst hingelegt, es kann ja nicht verschwunden sein, mein Lieber! Dein kleiner Liebling wird mal strahlen!"

„Nicht wahr, meine Gute? Und ich habe es mir doch selbst ausgedacht!"

„Gewiss doch, mein Lieber!"

„ . . So erwarten zwei Greise oder eher weißhaarige Kinder, die viele Jahrzehnte lang auf dieser grauen Welt gelebt haben, voller Aufregung jenen kleinen, schwachen Lichtstrahl, der heute voll warmer Freude in ihre niedrige, enge Wohnung dringen soll, längst vergangene, schmerzvolle und doch so tief ersehnte Erinnerungen und Gestalten wachrufend.

Sechs Monate lang hatte der alte Dekabrist, ein Fürst von Geburt, mit dem Strange um den Hals gelebt, genau zweiundzwanzig Jahre in Ketten Zwangsarbeiten in Sibirien verrichtet. Seine Frau, die Fürstin, gab Reichtum, Ehren, ihre ruhige Existenz auf, um ihre Jugend unter den Mauern der Gefängnisse, wo ihr Mann lebte, zu begraben. Die Ketten, die des Mannes Füße fesselten, hatte sie geküsst. Für die beiden begann und endigte das Leben mit dieser heroischen Epopöe, und die Ideale, für welche sie einst mutig den Märtyrertod zu erleiden bereit waren, füllten noch heute ihr erlöschendes Greisenleben mit Freude.
Wie merkwürdig anpassungsfähig ist doch das menschliche Herz, wie unendlich seine Kraft, ewig dem kleinsten Schimmer von Freude nachzustreben und davon belebt zu werden!

Gott, weshalb hast du nicht das ganze Leben aus lauter lichter Freude gewoben? . . . Dann würde der Mensch gütiger, edler, lichter sein, und es würde kein Übel auf Erden geben!

Seit der Greis endlich die Fesseln hatte abstreifen dürfen, lebte er schon jahrelang in einem kleinen sibirischen Dorfe. Mann und Frau unterrichteten die Kinder, und es war wohl schon mehr als eine Generation durch ihre Hände gegangen.

Im Laufe der Jahre hatte sich ein merkwürdig tiefes, geistiges Band zwischen diesen beiden einsamen, vom Schicksal geschlagenen Wesen und dem kleinen Dorfe gebildet.

Ganz von selbst machte es sich, dass die beiden alten Leute das wachsam rege Gewissen des Dorfes wurden; man holte bei ihnen Rat, Hilfe, Trost. In das kleine, rauchgeschwärzte Balkenhäuschen brachten die einfachen Bauernherzen offen ihre Tränen wie ihr Lachen, ihren Schmerz und ihre Freude. Wahrscheinlich, weil die Türen dieses Häuschens niemals vor jemand verschlossen wurden, traten die Leute wie in einen Tempel dort ein, mit andächtiger Ehrfurcht, und reinigten auf der Schwelle ihre Herzen von kleinlicher Bosheit.

Seit jeher war es üblich gewesen, dass am 14. Dezember, am Gedenktage des berühmten Dekabristenaufstandes in Petersburg im Jahre 1825, fast das ganze Dorf, festtäglich gekleidet, sich beim Greise versammelte.

Die kleinen Räume waren mit Menschen vollgepfropft, aber trotzdem gab es im Gedränge keinerlei Unfrieden. Die besten Plätze in der Nähe des Greises wurden den Kindern überlassen, während sich die Erwachsenen, Kopf an Kopf gedrängt, im Vorzimmer und in der Küche aufhielten. So war es ein für alle Male eingeführt, das Dorf feierte die erste russische Revolution, und jedes Jahr erzählte der Greis die Geschichte des Dekabristenaufstandes. Viele Male schon hatten die Erwachsenen dieselbe gehört, die Kinder aber, die heranwachsenden jungen Sprösslinge erwarteten diese Erzählung bebend vor Ungeduld. Alle Herzen, die jungen und die alten, schlugen heftig erregt im Einklang mit dem Herzen des alten Revolutionärs.

Die Äuglein der Kinder glänzten vor Ungeduld, die Kleinen drängten sich inniger aneinander und noch inniger zum Greise selbst, während die Gesichter der Erwachsenen einen feierlichen, streng verschlossenen Ausdruck trugen, als träten sie in eine Kirche ein . . .

„Seht, ihr Lieben", Und die Stimme des Greises bebte vor innerer Erregung, — „es ist lange, sehr lange her, es sind jetzt wohl fünfunddreißig Jahre seither verflossen, . . . damals war auch ich jung, ich hatte keinen grauen Bart . . . Auch jetzt hat das Volk kein leichtes Leben auf dieser grauen Erde, überall gibt es Trauer, überall Elend und Armut, aber damals, damals, wenn ihr nur wüsstet, Kinderlein . . . behüte euch Gott davor! . . . In unserem Russland stöhnte das ehrliche Volk vor Elend . . . unser Mütterchen Russland ist groß. Hunderte von Millionen leben auf russischem Boden, und alle sind Bauern, sind von Erdgeruch durchdrungen . . . und alle waren damals Sklaven, Leibeigene! . Was ist ein Sklave? . . . Das ist schwer zu erzählen, Kinder, das muss man sehen, selbst erleben, wie der Mensch, das wundervolle Abbild Gottes, der stolz und glücklich auf Erden wandeln sollte, Tag für Tag, jahrhundertelang, unaufhörlich, wie ein Vieh ins Joch gespannt, seine schwere Bürde zog . . . und wieder zog . . . und stöhnte und atemlos keuchte . . . Oft fiel er verwundet, kraftlos auf die feuchte Mutter Erde nieder und tränkte diese mit seinen Tränen, mit seinem Herzblut . . . aber solange er lebte, solange sein zermarterter Geist den abgequälten Körper nicht verließ, durfte er nicht stehenbleiben, nicht aufatmen . . . die Knute des Gutsbesitzers jagte ihn weiter, immer weiter!"

Der Greis hielt inne, er rang nach Atem, in seinen Augen erglänzte eine Träne. Mit angehaltenem Atem lauschte die gesamte Zuhörerschaft, ohne einen Laut hervorzubringen. Von schweren Kinderseufzern wurde ab und zu die Stille unterbrochen. Tiefe Trauer herrschte im Raum.

„Wir Fürsten und Grafen, die wir dann den Aufstand anstifteten, wir hatten ein gutes Leben. Unsere Besitzungen waren so groß, dass man sie an einem Tage kaum durchreiten konnte, und Leibeigene besaßen wir zu Tausenden, man konnte mit ihnen tun was einem beliebte, sie kaufen, verkaufen, als wären es keine Menschen . . . Aber in tiefster Seele war man friedlos . . . schwerer Gram drückte einem aufs Herz . . . Tagein, tagaus dabei zu sein, wie die Menschen stöhnen, wie Millionen von Sklaven zugrunde gehen, wie sie sich verbluten, und es gibt keine Hilfe, kein Mitleid, keine Liebe zu ihnen! Oh, wie schmerzte uns da das Herz, ganz furchtbar tat es uns in der Seele weh, Kinderchen ! Man lebte zwar in Reichtum und Luxus, aber das Leben kam einem nicht süß vor, und weder tags noch nachts konnte man Ruhe finden, immerfort bohrte es einem in der Brust, ewig verfolgte einen der Gedanke, dass dieses üppige Leben mit Leiden und Blut von Millionen Menschen aufgewogen wurde. Und vielen, die so dachten, schmerzte darob das Herz. Sie selbst waren reich, waren alle Gardeoffiziere in Ehre und Macht, dennoch fühlten sie die Leiden des russischen Volkes tief, die Qualen des Sklaven unter dem Joch.

Und so versammelten wir Offiziere uns, es waren unser viele; nicht nur in Petersburg, sondern auch in den übrigen Städten Russlands, im Süden, in Polen hatte unsere Gesellschaft ihre Anhänger. Es waren lauter hochangesehene Persönlichkeiten, Fürst Trubetzkoi, Fürst Obolenski, vier Brüder Murawieff , Pestel, Ryleeff, alle kann ich nicht aufzählen! Wir erstrebten damals nur eines: dem Volke Freiheit zu geben.

Aus dem russischen Volksleben

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Dorf an der Wolga

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Fischer an der Wolga

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Heiratsmarkt im Petersburger Sommergarten

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In Moskau kam es zu großen Studentenunruhen

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Moskau

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Sibirischer Galgen

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Sibirische Post

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