Das tägliche Leben.

Das tägliche Leben ist zu gleicher Zeit der bedeutungsvollste und doch am wenigsten beachtete Bestandteil der Geschichte der Völker. Deutlicher, als jede andere Seite des Lebens, spiegelt uns diese das rein Menschliche in seiner fortschreitenden Entwicklung ab. Der fürs Leben erforderliche Kampf, an welchem Alle sich beteiligen müssen, geht zuvörderst und vor Allem darauf aus, den notwendigen Grad äußerer und innerer Wärme zu gewinnen. Die Mittel, durch welche wir uns diese verschaffen: Wohnung, Bekleidung und Nahrung, sind daher die einfachen Grundelemente, um die alle menschliche Geschichte sich seit dem frühen Morgen der Zeiten bewegt hat. Und die herzinnigen Bezeichnungen, mit denen ein Geschlecht nach dem anderen seine besondere Stellung zur Natur, zu den wechselnden Zeiten des Tages und Jahres, oder zu den Hauptbegebenheiten des Menschenlebens: Ehen, Geburten, Todesfällen, ausgedrückt hat, bergen eine Summe von Empfindung und Verständnis in sich, wodurch zu jeder Zeit die Bildung, die Dichtkunst und die Religiosität der Geschlechter bedingt war.

Diese verborgene Tiefenströmung der Geschichte — wir können sie als das tägliche Leben nach seinen mannigfachen Beziehungen bezeichnen — gleitet zwar geräuschloser hin, als die äußere politische Geschichte, umschließt aber einen reicheren inneren Gehalt. In dieser stillen Welt gelten andere Gesetze, als in dem schäumenden Gebrause droben und draußen, wo bloß die Wellen sich kämpfend an einander brechen, und da drinnen haben andere Namen Geltung und Klang, als unter den Machthabern auf der Oberfläche. Denn früher als anderswo haben hier die Menschen gelernt sich einträchtig aneinander zu schließen; hier kommt der Fortschritt des Einzelnen nicht nur ihm selber sondern Allen zu Gute, und der Name des geringsten Meisters, dessen sinniger Erfindungsgeist der Menschheit zum Segen gereichte, hat in diesen Kreisen größeren Wert, als die Kamen der mächtigsten Herrscher. Wir sind zwar genötigt, die Bedeutung des täglichen Lebens für unser ganzes Tun und Lassen anzuerkennen; dagegen sprechen wir ihm solche Bedeutung ab, wenn wir von dem reden, was Geschichte heißt. Obschon verbesserte Beleuchtung, Dampfmaschinen, Telegraphen größere Veränderungen in der Welt zur Folge gehabt haben, als jemals der entscheidendste Krieg: dennoch verweilen wir beständig bei den wechselnden Umgestaltungen der Karte Europas, als bestände hierin der wichtigste Inhalt der Geschichte. Aber unabhängig davon, ob wir ihn verstellen oder nicht verstehen, ergießt sich der Strom weiter, das eigentliche, konzentrierte Leben der Geschlechter in sich fassend, welches mit einem bloßen Blick auf die Oberfläche nur unvollkommen verstanden wird.


Ist es uns also rechter Ernst, uns in die Vorzeit eines Volkes zurückzuversetzen, so kommt es besonders darauf an, gerade seine täglichen Lebenszustände zu erforschen. Hierdurch bekommen wir weit mehr, als nur einen Blick auf die Bühne, auf welcher die geschichtlichen Begebenheiten vor sich gingen: wir gewinnen das tiefere Verständnis dieser Begebenheiten selbst, indem wir den Boden kennen lernen, aus welchem die Taten und Geschicke des Volkes emporsprossten, die verborgenen Quellen und die Atmosphäre, aus welchen das ganze Leben desselben seine Nahrung sog.

Wir werden im Folgenden das tägliche Leben der skandinavischen Völker während des sechzehnten Jahrhunderts betrachten. Für uns, ihre Nachkommen, hat dies ein besonderes Interesse, weil jenes Zeitalter die äußerste Grenze bildet, bis zu welcher die geschichtlichen Quellen uns vordringen lassen, wenn wir ein vollständiges und allseitiges Verständnis des Lebens der Vorväter, das heißt der Grundlage, auf der unser eigenes beruht und fortbaut, zu erhalten wünschen. Es hat aber außerdem noch ein mehr allgemeines Interesse. Jene skandinavischen Völker, welche eben damals durch die Renaissance in den großen europäischen Strom hineingezogen wurden, hatten nämlich von dem ursprünglichen weit mehr bewahrt, als ihre südlichen Brüder. Indem nun das Alte und das Neue sich begegnen, zeigen sich hier frische Spuren der Entwickelungsstufen, welche alle europäischen Völker, nahe Anverwandte bei ihrer Einwanderung aus dem Osten, jedes auf seine Weise, im Laufe des Mittelalters zurückgelegt haben. Über den skandinavischen Völkern reichen die Tage der Völkerwanderung und die der neueren Zeit einander die Hand.

Wir gedenken unsere Untersuchung in solcher Weise zu ordnen, dass wir zuerst die Wohnungen jenes Zeitalters, darauf seine Kleidertrachten und Ernährungsweise ins Auge fassen, endlich aber die ganze Summe des mannigfachen Verhaltens, das die Menschen allen den wechselnden Zeiten des Jahres und des Lebens gegenüber beobachteten, welche wir mit einem gemeinsamen Namen die allgemein-menschlichen Begebenheiten nennen können.