Krankheit und Heilung

Es ist natürlich, dass infolge der schlechten und mangelhaften Ernährung, der Überanstrengung, der gesundheitsschädlichen und unhygienischen Wohnungen sich Krankheiten entwickeln und die Sterblichkeit schreckliche, im Auslande unbekannte Dimensionen erreicht. Heilung ist Nebensache. Wie sollen Heilmittel gegen Magenkatarrh helfen, wenn der Arzt weiß, dass der Katarrh aus Mangel an Nahrung herrührt, der ja doch weiter bestehen bleibt! Wie sollen Heilmittel helfen, wenn die Bevölkerung so unkultiviert ist, dass sie alles dem Willen Gottes zuschreibt, ohne an die Ansteckungsgefahr der Krankheiten, an Hygiene und die Wirkung gesunder Kost zu glauben.

Wie sollen Heilmittel helfen, wenn Kranke, trotz der langen Erklärungen des Arztes oder des Feldschers, Kompressen verschlucken und Tropfen einreiben; wenn sie auf einmal einnehmen, was auf eine Woche verschrieben wurde; wenn sie eine spanische Fliege, die der Arzt an den Nacken zu setzen angeordnet hat, und dabei mit einer Handbewegung gezeigt, wohin, auf den Pelz kleben.


Nichtsdestoweniger scheut man nicht einen Weg von zwanzig und manchmal mehr Werst bis zum nächsten Arzt. Oft wird eine solche Fahrt bis zur nächsten Reise nach Einkäufen in ein großes Dorf verschoben, oder bis zu einer anderen Gelegenheit. Fährt ein alter Bauer in die Stadt, um Schutz vor dem Dorfältesten zu suchen, so geht auch zu Fuß eine Mutter mit ihrem Kinde mit, um den Arzt zu sprechen, zu Fuß — denn zu Hause hat der Schwiegervater kein Pferd geben wollen (,,lohnt es sich eines Kindes wegen?“) — sie verlangt nach einem Heilmittel, während im Munde des kranken Kindes die Ursache der Krankheit steckt — ein Lutschbeutel aus dem bekannten sauren Schwarzbrot, den die arme Mutter aus Unwissenheit nicht gewechselt hat.

So kuriert sich das Volk in den Semstwo-Gouvernements. In denjenigen, wo es keine Semstwos gibt, wo die zarischen Tschinowniki unkontrollierbar und ohne die Unterstützung lokaler Kräfte herrschen — dort befinden sich ein oder zwei Ärzte für einen ganzen Kreis. Also so gut wie gar keiner. Der Kranke kann zu ihnen nicht hingehen. Und faktisch hat die Bevölkerung gar keine ärztliche Hilfe. Freiwillige Ärzte melden sich nicht dorthin, weil sie zum Hungertode verurteilt wären: die Leute haben weder übriges Geld noch Verständnis für den Nutzen der medizinischen Wissenschaft. Und nun wendet sich das kranke Russland an Zauberer und Weiber, die bestenfalls durch Einflüsterungen und verschiedene Quacksalbereien heilen, schlimmstenfalls — durch Gift und gesundheitsschädliche Experimente schaden. Ich will dies durch ein Beispiel beleuchten: einer Gebärenden, der die Natur nicht rasch genug zur Hilfe kommt, wird Wasser in den Mund aus dem Munde eines anderen gegossen, man wälzt ihr ein Ei über den Leib, man zwingt den Ehemann, über die Beine seiner Frau zu springen. Einer meiner Freunde, der Arzt ist, erzählte mir, wie man in seiner Gegenwart einen Diakon veranlaßt hat, über die Beine seiner Frau zu hopsen. So sehr er sich auch vor dem Arzt genierte, wie sehr er sich auch weigerte, er musste die Rockschöße zusammennehmen und hopsen! Nach der Niederkunft hängt man die Wöchnerin mit den Füßen nach oben. Dem Kinde wird eine Stunde nach der Geburt ein Lutschbeutel aus zerkautem sauren Brot in den Mund gesteckt — um ihm den Magen zu reinigen!

Man wundert sich, dass das russische Volk so zäh und gesund ist. Es erträgt wirklich vieles, was einem anderen Volke unmöglich wäre. Das ist aber begreiflich. Nur ein eisernes Kind erreicht das erste Jahr, nur ein stählerner Mensch das Mündigkeitsalter. Würde man die Sterblichkeit normieren, so würde sich zeigen, dass der Russe nicht kräftiger als die anderen ist.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das russische Dorf