Hunger und Nahrung

Man staunt über die Zähigkeit des russischen Volkes, über sein Gewöhntsein an beständiges Hungern. Ja, es herrscht eine fortwährende Hungersnot: ein Engländer stürbe nach einer Woche, wenn er die Kost eines russischen Bauern zugeteilt bekäme. Fleisch — nur an hohen Feiertagen, 20 — 30 mal im Jahre; Suppe aus Wasser mit einigen darin schwimmenden Sauerkohlblättern, ein wenig mit Milch gefärbt, auch Hirse- oder Buchweizengrütze, je nach der Gegend und den Gebräuchen, saures Schwarzbrot, Kartoffeln, Gurken im Sommer und im Herbst — das ist alles — ohne jede Abwechslung und nicht immer genug zum Sattessen.

An den Feiertagen gestattet man sich einen Luxus — weißes Roggenbrot oder das übliche Schwarzbrot, aber aus durchsiebtem Mehl gebacken und Krapfen aus demselben schwarzen Teig, nur ohne Hefe. Das betrachtet man schon als Leckerbissen.


Es ist erstaunlich, wie die Leute überhaupt leben. Man muss nämlich wissen, dass all dies — sauer ist: das Brot und der Kohl, und die Gurken — so erfordert es die russische Natur. Sonst würde das Volk am Skorbut aussterben.

Getränke gibt es zwei: für gewöhnlich Wasser, an den Feiertagen auch Schnaps. Weder Wein, noch Bier, noch Tee; Kaffee kennt man nicht einmal vom Hörensagen. Aber über die russische Trunksucht werden wir noch zu sprechen haben.

Etwas anders ist die Nahrung in dem industriellen, waldigen Rayon. Hier hat die Kultur den Samowar und den Tee hingebracht, zugleich aber hat das Bedürfnis des Teetrinkens jede andere Nahrung verdrängt. Tee und Schwarzbrot sind die einzigen Nahrungsmittel der Armen. Tee erwärmt. Der Zucker wird nicht in den Tee gerührt, man ißt ihn, indem man kleine Stückchen davon abbeißt. Die Armut und die Notwendigkeit, zu sparen, haben diese Art des Zuckergebrauchs bis zur Kunstfertigkeit geführt. Man versteht es, an einem Stückchen nachgerade den ganzen Tag über zu nagen. Beträchtliche Mengen Tee versüßt der Arme mit einem Stückchen Zucker.

Und bei einer solchen Nahrung, wenn sie nur genügend ist, ist der Russe zufrieden und findet Kräfte zum Arbeiten! Selbst Kinder und Kranke bekommen nichts Besseres zu essen. Nicht alle haben eine Kuh, und wer eine hat, dem gibt sie wenig Milch. Sogar in Gegenden, wo das Milchwesen gut gedeiht, wo es viele Kühe und Weideplätze gibt, erhalten die Kinder keine Milch! Dort, wo die Milchwirtschaft bis zu einem Gewerbe ausgewachsen ist, wo zum Verkauf und zur Ausfuhr ins Ausland Butter und Käse zubereitet werden, da bedeutet für die Bevölkerung jeder Tropfen Milch eine Kopeke. Dort bekommen die Kinder Milch nie zu Gesicht!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das russische Dorf