Der russische Bauer auf dem Weg zum Proletarier

Dagegen wenden sich wiederum unsere ,,Völkischen“ (Narodniki), die den Grund zu einer großen Gruppe innerhalb der Sozialisten — den Sozial-Revolutionären — gelegt haben. Sie sehen in der Gemeinde nicht ein Hemmnis für die sozialen Ideen, sondern einen Schritt in der Richtung zu ihrer Verwirklichung, den Bauer betrachten sie nicht als kleinen Bourgeois, sondern als vollkommenen Proletarier. Der Bauer ist jetzt völlig verarmt und, obwohl er an seiner Scholle hängt, ist er doch ein Proletarier, denn er hungert nicht weniger als ein Arbeiter. Wann wird denn das russische Volk den Übergang zum Sozialismus vollziehen, wenn es auf die agrarische Evolution warten sollte! — so lautet ihr Einwand gegen die Sozialdemokraten. Es gibt noch genug Land, das im Besitz des Staates ist; allein Sibirien würde nach Abholzung der Wälder auf Jahrhunderte hinaus den Bedarf an Grund und Boden decken. Und der Bauer hängt so zähe an seiner Scholle, dass er noch lange für sie kämpfen wird. Ist das nun ein Kampf gegen den Sozialismus? Und sollen wir noch Jahrhunderte warten?

Endlich wird sich die extensive Wirtschaft auch innerlich verändern und immer mehr an Intensität zunehmen. Wann soll aber dann das erhoffte Ende kommen? Werden wir nicht so gezwungen sein, die Verwirklichung unseres großen Gedankens auf Jahrhunderte hinauszuschieben?


Dass aber die Wirtschaft, auch die gesellschaftliche Bewirtschaftung, intensiver werden kann, dafür gibt es Beweise, die in vielen Büchern gesammelt sind. Unsere Semstwos haben erst in der allerletzten Zeit Agronomen eingeführt. Die größte Wirkung hat diese Maßregel im Gouvernement Moskau gehabt, wo die Bevölkerung dank der besseren Organisation der Schulbildung auf einer etwas höheren Kulturstufe steht. Im Moskauer Gouvernement haben nun die Agronomen Probeund Musterfelder eingeführt, und sofort hat die gebildete Bevölkerung die wissenschaftlichen Errungenschaften benutzt und gleichsam spontan mit der Aussaat von Gras begonnen, nachdem sie die Dreifelderwirtschaft aufgegeben hat.

Nicht der Gemeindegrundbesitz widersetzt sich der Kultur, sondern die Unwissenheit, die Armut der Bevölkerung und die fluchwürdige Bevormundung durch die Beamten. Man beseitige diese Bevormundung, wie es ganz Russland verlangt, und die Volksbildung wird sich sehr schnell heben und zugleich mit ihr der Wohlstand der Bevölkerung — und schließlich wird sich sehr bald ein System abwechselnder Aussaaten mit herrlichem Weideland und schönem Vieh bei uns einführen.

Nicht die Gemeinde trägt die Schuld, sondern die Verhältnisse, unter denen die Gemeinde leben muss. Man kann nicht verlangen, dass ein Mensch, der an Händen und Füßen gebunden ist, eine ersprießliche Tätigkeit entfalte. Er muss erst losgebunden werden.

Endlich scheint die Proletarisierung der Landbevölkerung schon darum undenkbar zu sein, weil es unmöglich ist, den Bauer von der Erde loszureißen, an der er mit zähen Fasern hängt. Man kann keine sozialen Theorien erfinden, die sich erst in Jahrhunderten verwirklichen können. Die russischen Verhältnisse sind in allem, was den Grund und Boden und den Bauer betrifft, so himmelweit von den westeuropäischen verschieden, dass es unmöglich ist, fremdartige Theorien, und seien sie noch so genial, auf diesen Boden zu verpflanzen. Das industrielle Leben Russlands, das den dornigen Weg des westlichen Europas beschritten hat, hat schon dieselben Erfolge erzielt wie Deutschland.

Und wenn es möglich wäre, so erwidern die Gegner der Sozialdemokraten, den großen Marx selbst aufzuerwecken und ihn in ein russisches Dorf zu versetzen, er würde hell auflachen, bei dem Gedanken, dass es Leute gibt, die daran denken, die großen Theorien, die er für das industrielle Deutschland entdeckt hat, auf das russische Dorf anzuwenden.

Die russische Bauerngemeinde ist ein historisches Produkt und muss historisch zu demselben sozialen Ideal führen, zu dem auf anderem Wege das westliche Europa fortschreitet. Es gibt 100 Millionen russischer Bauern — d. h. mehr als es im westlichen Europa Arbeiter gibt. Und in ihrem Besitz befindet sich, wenn man Sibirien mitrechnet, mehr Land, als ganz Europa ausmacht. Mit dieser Tatsache muss man rechnen.

Zum Schluss möchte ich, so gut es geht, den Vorhang heben, der uns die nächste Zukunft verdeckt.

Die Formel: ,,So kann man nicht weiter leben“ ist auch in das Dorf gedrungen, wenn auch nicht in die Theorie, so doch in die Praxis. Die Bauern können wirklich so nicht mehr weiter leben. Wie wird sich nun diese Unmöglichkeit äußern?

Auf diese Frage ließe sich nur eine Antwort finden, wenn man wissen könnte, in wie hohem Grade die Massen der ländlichen Bevölkerung sich ihrer Lage bewusst sind. Die Arbeiter kannten wir auch nicht, bis sie uns ihr Selbstbewusstsein und ihre politische Reife in den großartig durchgeführten Petersburger und Bakuer Streiks und in den heroischen, bewunderungswürdigen Straßenkämpfen in Lodz zu erkennen gaben. Ein ebenso klares Bild läßt sich vom Bauer nicht gewinnen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass hie und da die sozialistische Propaganda schon bis in die Dörfer gedrungen ist. So weit es möglich ist, wird eine regierungsfeindliche Literatur unter den Bauern verbreitet. Ein Widerhall dessen, was in den Städten vor sich geht, dringt auch bis ins Dorf. Es gibt mächtige Kräfte, die trotz allen Widerstrebens die Bazillen des der Autokratie so verhaßten Begriffs der Freiheit über die unermeßlichen Flächen Russlands ausstreuen. So die Eisenbahnen, die Russland mit einem relativ dichten Netze bedecken, und längs denen sich mit Blitzeseile die Streikbewegung ausgebreitet hat, um dann ebenso schnell, aber nur dank großen Zugeständnissen, zu erlöschen. So die allgemeine Wehrpflicht, die jährlich mehr als 200.000 Jünglinge verschlingt, um sie nach vier Jahren dem Dorfe wiederzugeben, nachdem sie die Schule einer unsinnigen Disziplin durchgemacht, zugleich aber auch Stadtluft geatmet haben, was sie im Dorfe durch ihr unruhiges Wesen, wenn auch nur in roher Weise, zu erkennen geben. So die große Masse der Arbeiter, die der Hunger nach den Städten, in die Fabriken treibt, von wo sie schon als bewußte und ausgebildete Agitatoren für die ökonomische und politische Freiheit zurückkehren. Indem unsere Regierung jetzt die Arbeiter, die sie für gefährlich hält, aus den Städten treibt, trägt sie selbst eifrig dazu bei, dass die Propaganda auf die Dörfer verpflanzt wird.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das russische Dorf