Das russische Dorf

Das also ist das russische Dorf, in dem das russische Volk lebendig begraben liegt, wo unsichtbar für die Welt sich zahllose Verbrechen abspielen — die Folge unglaublicher Leiden und lichtloser Unwissenheit.

Was bei der Einfahrt ins Dorf zunächst auffällt, ist der völlige Mangel an Verzierungen: nur ganz selten erblickt man auf den Häusern zweier, dreier Händler eines reichen Handelsdorfes ein geschnitztes Gesims oder angestrichene Fensterläden bei einem einfachen Bauern. Schnell kann man dann aber hinter den Ursprung solcher Pracht gelangen. Entweder ist die Kirche frisch gestrichen oder beim Gutsbesitzer auf dem Gehöft ist etwas gebaut worden: auf diese oder jene Weise sind dann auch ins Dorf einige Tropfen Farbe geraten. Gärtchen mit Staketenzaun gibt es nur vor den Häusern der Geistlichen; Obstbäume nur im Gemüsegarten reicher Leute, Blumen — bei niemandem. Die Prosa des Lebens lässt nichts Poetisches aufkommen.


Es ist natürlich, dass die Dörfer einförmig sind: eins wie das andere, je nach der Gegend, in der sie sich befinden. Wo die Erde schlecht ist und ohne Düngung kein Getreide erzeugt, wo es statt dessen viel Wald gibt, dort ist das Dorf aus Holz, das Haus hölzern und das Dach aus gehobelten Brettern; die Bauten sehen ziemlich gut aus — ist doch Holz billig. Im Süden, wo es Steine gibt, sind auch die Häuser aus Stein, oft weiß gestrichen. Hier sind häufig die Dächer mit roten Ziegeln gedeckt. Wenn man dort vorbeifährt, kann man wohl die Einwohner für wohlhabend halten. Wo aber das Dorf am entsetzlichsten aussieht, das ist im eigentlichen Herzen Russlands, in seinem fruchtbaren, schwarzerdigen Zentrum, in demselben Zentrum, das auch die Städte, und die Hauptstädte, und Europa ernährt, selbst aber hungert! Das Holz ist da teuer; Steine gibt es nicht. Und so stehen da kleine Hüttchen aus dünnem Holz mit Strohdächern. Die zu ihnen gehörenden Gehöfte sind aus Flechtwerk, selbstverständlich gleichfalls mit Stroh bedeckt, die Ställer, Keller — alles aus Stroh; statt der Zäune — Strohwälle. Und das Hüttchen steht, bis es zusammenstürzt. Das Holz, das Stroh auf den Dächern — sind schwarz geworden. Zuweilen nur heben durch ihr Weiß, wie neue Flicklappen an einem alten Pelz, sich ganze Reihen neuer Häuser ab, die auf eine vor kurzem ausgebrochene Feuersbrunst schließen lassen.

Man muss zwischen dem Dorf im Herbst und dem Dorf im Frühjahr unterscheiden. Ihr Aussehen ist verschieden. Im Herbst haben die Bauern ihr Korn von den Feldern zusammengefahren und der ganze Ort scheint aus Stroh zu bestehen. Die Dächer sind repariert, die Wälle neu ausgefüllt, in den Tennen, auf den Höfen überall — Stroh. Ob das die Folge der äußersten Armut und des damit zusammenhängenden Fatalismus ist, oder eine gewisse Nachlässigkeit, die dem russischen Volkscharakter eigen, jedenfalls muss man sich über dieses überall verstreute Stroh wundern. Wie an einem Zündfaden läuft hier das Feuer.

Dessenungeachtet erscheint das Strohdorf im Herbst wenn nicht reich, so doch satt. Jener Duft des Roggens, den man unterwegs in den unendlichen Feldern eingeatmet, ist in das Dorf eingeströmt. Es duftet nach Korn . . .

Anders das Bild im Frühling. Der Roggen ist zum Teil schon längst nach dem Markt gebracht worden, um die Bezahlung der Steuern zu ermöglichen, zum andern Teil verbraucht. Stroh gibts nicht mehr — es ist mit ihm geheizt worden, das übrige hat das Vieh aufgefressen. Denn auch das Stroh war knapp, bei manchen armen Leuten wurde es gar von den Dächern herabgeholt, und wie die Rippen eines Skeletts ragen die unbedeckten Dachsparren hervor. Das Dorf ist schwarz und sein Aussehen ist auch nicht trügerisch: hungrig wie es ist, sieht es auch verhungert aus.

Verhältnismäßig leidlich ist der Anblick des Dorfes, wenn es eine gute Vegetation besitzt. Die Bäume dienen ihm als Kleidung, bedecken seine Nacktheit. Aber auch ein solches Dorf kommt nur selten vor. Die nackten sind häufiger. Wenn man die Art der in den Dörfern wachsenden Bäume beobachtet, so entdeckt man fast überall, auch den steinernen Süden und den hölzernen Norden nicht ausgenommen, nur eine Sorte — Pappeln. Die Schwarzpappel — das ist der eigentliche Bauernbaum. Und er wächst nur in von Natur feuchten Gegenden. Wenn der Bauer sich Bäume anschaffen soll, müssen sie leicht gedeihen. Er pflanzt ein Stämmchen in die Erde, und siehe, nach einem Jahr wächst, Wurzeln fassend, bereits das Bäumchen. Unter solchen Bedingungen kann die Anpflanzung gewissermaßen vor frühzeitigem Tode geschützt werden, aber wenn das Gewächs nicht aus Edelreis, sondern aus Samen ersteht — so kann es auf dem Bauerngehöft niemals gedeihen. Es wird von dem umherirrenden hungrigen Vieh mit der Wurzel ausgerissen oder das ganze Jahr hindurch benagt werden; bestenfalls wird das Gewächs verdorren. Für ein, zwei Bäumchen kann der Bauer noch Wasser aus dem Bächlein herbeiholen, aber eine ganze Anpflanzung begießen — im Sommer, wenn er kaum Atem holen kann — nein, das geht über seine Kraft.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das russische Dorf