Das Leben des russischen Bauern

So ists auch mit dem russischen Leben. Dem Auge des wissbegierigen Europäers stellt sich immer augenscheinlicher das Chaos der oberen Schichten des russischen Volkes dar. Die Unzulänglichkeit und die Grausamkeit des russischen Absolutismus, der vor kurzem begonnene laute Protest der Intelligenz und des Proletariats, und die aus diesem Grunde entstandenen Massacres, der Terror von oben und die Versuche eines Terrors von unten — das ist das Bild, das sich den Blicken des Beobachters von einem Lande bietet, welches, nach der Meinung Europas, ruhig das zaristische Joch erträgt und der Freiheit unwürdig ist, von der seine fortschrittlichen Elemente träumen.

Unruhen in den Metropolen, in den großen und manchmal auch in den kleinen Städten, in den Fabriken, in den Werken, auf den Eisenbahnen — das ist das Leben, das aus der Ferne zu sehen ist und das jede Möglichkeit eines Kampfes der Vormünder mit den Bevormundeten zu erschöpfen scheint. Wie groß ist nun die Zahl der Leute, die von der einen oder der anderen Richtung der Bewegung erfaßt worden sind? Wenden wir uns der Statistik zu.


Der Einwohner in den russischen Städten und Flecken gibt es nach der höchsten Veranschlagung 15 Millionen. Arbeiter in den Fabriken und Werken gegen 3 Millionen. Wollen wir zu diesen die Eisenbahner und die auf irgend eine Weise ins Dorf geratenen intelligenten Personen hinzurechnen — so haben wir da 20 Millionen, sagen wir 25 Millionen russischer Untertanen, die direkt oder indirekt von der ausgebrochenen Bewegung erfaßt sind. Aber das heutige Russland hat ja nicht weniger als 140 Millionen Einwohner. Was ist mit den übrigen 115 Millionen los? Kennt sie Europa auch nur zum Teil? Leider muss mit einem Nein geantwortet werden. Diese 115 Millionen Bewohner des russischen Dorfes bilden jene Tiefen des russischen Menschenozeans, die bisher von der Bewegung der Wellen an der Oberfläche unberührt geblieben sind.

Ich weiß nicht, wessen Psychologie man besser in Europa studiert hat: die der russischen Bauern oder die der Papuas? Die Meinungen, die vom Publikum und sogar von der Presse geäußert werden, sind so weit von der Wahrheit entfernt, dass sogar ihre Bekämpfung schwierig erscheint. Die vortrefflichen Expreßzüge, die prächtigen Schiffe, das Telephon, dessen Netze sogar schon das russische Dorf umfangen haben, das Bekanntwerden der Russen mit fremdländischen Sprachen und das der Ausländer mit der russischen — auch all dies hat wenig zur Annäherung zwischen Russland und Europa beigetragen. Europa hat die Bekanntschaft der höheren Schichten des russischen Volkes gemacht, der herrschenden Gewalten, der Handelssphären, der Intellektuellen; aber das russische Volk — die 120 Millionen — kennt es ganz und gar nicht.

Das rührt aber nicht vom russischen Volke selbst her, sondern von der jahrhundertelangen Knechtschaft, in der es sich befunden hat und noch befindet.

Wenn sich einer von Wilden bewohnten Insel ein ausländisches Schiff nähert, beginnen die Eingeborenen die Ankömmlinge zunächst aus der Ferne, dann aus der Nähe zu beobachten. Auch ihre Könige und Häuptlinge sind von Neugier erfasst. Und wenn die Europäer sie nicht niederschießen, und sie die Europäer nicht auffressen, so entstehen zwischen ihnen solche Beziehungen, die ein gegenseitiges näheres Sichkennenlernen möglich machen. Das ist natürlich, und die Häuptlinge sind in dieser Hinsicht eines Sinnes mit der Masse. Anders steht es bei uns. Die Regierung bevormundet das Volk und beobachtet jeden eintreffenden Ausländer mißtrauisch. Kennan, der die Wahrheit über unsere Gefängnisse aufgedeckt hat, kommt ihr nie aus dem Sinn, und sie ist bereit, im ersten besten Ausländer einen neuen Kennan zu erblicken.

Während der Hungersnot im Jahre 1901 besuchten mich in Tambow zwei Engländer aus der Gesellschaft der „Freunde“. Sie überreichten mir Geld für die Hungernden und ich führte sie durch die Dörfer, zeigte ihnen Beispiele der äußersten Armut und des verhältnismäßig reichlichen Auskommens — kurz, ich machte sie mit dem Koslowschen Kreis bekannt, so gut, wie dies in 24 Stunden möglich ist. Auf diese Weise lud ich den Vorwurf auf mich, dass ich keinen nationalen Stolz besäße, und bereit sei, jedem Ausländer die russischen Schäden aufzudecken. Das wurde mir offiziell und nichtoffiziell gesagt.

Das Geheimnis ist da nötig, wo vieles verheimlicht werden soll . . .

Aber nicht nur den Ausländern ist der Zugang zu den russischen Bauern erschwert. Der Gutsbesitzer, der Priester, der Semski Natschalnik (Landhauptmann), der Landkommissär — das sind die einzigen intelligenten Personen, die im beständigen Verkehr mit dem Dorfe stehen, alles Menschen aber, denen die gegenwärtige Lage gewinnbringend ist, und die ausschließlich davon leben, dass sie auf verschiedene Weise die Armut, die Unwissenheit und die Rechtlosigkeit des Bauers ausbeuten.

Sobald aber im Dorfe ein intelligenter Mensch erscheint, der nicht zu den Dorfparasiten gehört, wird er scheel angesehen. „Wozu ist er hier?“ „Will er vielleicht den Mushik aufklären?“ „Will er ihm vielleicht die Augen über die Wirklichkeit öffnen?“ Oft wird solch ein ungebetener Gast fortgeschafft, oder man gestaltet ihm die Lebensbedingungen derart, dass er selbst davonläuft.

Sieht sich das Semstwo genötigt, nach dem Dorfe einen Arzt, Feldscher oder Ingenieur zu schicken, so kann es das nur mit der Bewilligung der Gouverneurs machen, der über den Ernannten alle geheimen und nicht geheimen polizeilichen Informationen erhält.

Einerseits lässt man den Ausländer nicht das Dorf besuchen, damit er nicht etwas erblickt und es der Welt erzählt; andererseits wird der Russe vom Dorfe ferngehalten, damit er nicht überflüssiges Licht in dasselbe hineinträgt.

Ist es da nun verwunderlich, dass nicht nur Europa, sondern auch Russland das Dorf nicht kennt? Ist es verwunderlich, dass jeder, der im Trüben fischen will, den Mund über das Volk vollnimmt, um in seinem Namen Gemeinheiten zu begehen? Das ganze russische Staatsleben beruht auf diesem Schwindel.

Die Menschen sind so beschaffen, dass sie am meisten das Ungewisse fürchten, so wie sich Kinder vor einem finsteren Zimmer geängstigt fühlen. Viele sogar in Russland, die alle Verbrechen des Absolutismus kennen, fürchten noch die Herrschaft des Volkes. Es dünkt ihnen, dass, sobald das Volk die Macht gewänne, es sofort alle abschlachten werde. Man erinnert sich, dass ungefähr vor anderthalb Jahrhunderten, unter der Regierung Katharina II., der Mörder Pugatschew das ganze Wolgagebiet aufgewiegelt, beraubt, und alle die ihm begegnet, am Wege abgeschlachtet hat, und dass er Moskau erreicht haben würde, wenn nicht das Militär der Zarin ihn getötet hätte. Dieser Pugatschew schwebt jetzt allen vor. Man glaubt, dass, wenn unser Volk Freiheit besäße, morgen einige Pugatschews erscheinen und morden und rauben würden. So glauben viele in Russland. Und im Auslande ist der Schrecken vor den Russen, die man oft mit den Kosaken verwechselt, so groß, dass unwillkürlich der Gedanke an die Hunnen und deren Einbruch auftaucht, wenn man von der Revolution in Russland spricht.

Diese Vorurteile kann man nur auf einem Wege zerstreuen: Europa mit der wahren Lage des russischen Dorfes bekannt machen, ohne sie zu beschönigen und ihre Mängel zu verheimlichen.

Der Autor dieser Zeilen fühlt sich berechtigt, einen solchen Versuch zu wagen, weil er fünfzehn Jahre seines Lebens dem Studium des russischen Dorfes gewidmet hat. Sohn konservativer Eltern, Zögling des Katkowschen Lyceums, nahm er das Amt eines Semski Natschalnik an, um in das Dorf den Geist der Strenge hineinzutragen und verließ es nach vollständigem Bruch mit seinen früheren Überzeugungen und voller Glauben an die kulturschöpferische Kraft des russischen Volkes, das unglücklicherweise für die Sünden des Absolutismus verantwortlich gemacht wird.

Man muss Russland sehen, um es beurteilen zu können. Nichts erinnert dort an das westliche Europa. Das Klima und die ungeheuren Dimensionen des Landes verhindern es, jenen historischen Weg zu wandern, den der Westen zurückgelegt hat. Der Kampf mit der Natur ist dort verwickelter. Die Verkehrsmittel sind schwieriger, kostspieliger. Deshalb verzögert sich der Austausch von Waren und Ideen; langsamer schreitet die Kultur vorwärts; der Wohlstand des Volkes bleibt zurück. Man ist gewöhnt bei uns (auch im Auslande), Russland für ein junges Reich zu halten. Bei seinem tausendjährigen Alter! Längst glaube ich, hätten wir Europa einholen und vielleicht auch (ich sage das als Russe) überholen können, wenn unser Volk in europäischen Verhältnissen gelebt hätte. Es genügt auf Japan hinzusehen, um zu begreifen, wie rasch eine Kultur vorwärtsschreiten kann. Dieselben Ursachen, das Klima und die Entfernungen, bewirken auch die erstaunliche Zurückgebliebenheit unseres Dorfes im Vergleich mit der Stadt. Überall bleibt das Dorf zurück, aber nicht in solchem Maße wie bei uns. Noch jetzt im zwanzigsten Jahrhundert benutzt man zu Beleuchtungszwecken an manchen Orten einen Kienspan, weil Petroleum zu kostspielig ist. Es gibt Dörfer, die durchweg analphabetisch sind. Es gibt Gegenden im Zentrum Russlands, wo ein Brief, der an einen Bauern adressiert ist, nur zufällig in dessen Hände gelangt — wenn er selbst oder ein Bekannter auf den Gedanken kommt, sich bei der Post nach ihm zu erkundigen. Überall werden die Kleider aus Flachs gewebt, der aus Pflanzen des eigenen Ackerfeldes gewonnen wird. Überall da nur ißt man Fleisch, wo man selbst Vieh besitzt. Kurz, das russische Dorf lebt so, wie es vor hundert Jahren gelebt hat. Es gibt eine Wahrheit, die unsere Herrscher gut begriffen haben und die sie niemals vergessen, dass es nämlich leichter ist, eine Herde als Menschen zu regieren. Das ist das Wesen unserer Politik. Und bisher ist sie dank den Naturbedingungen geglückt.

Und jetzt, in den Zeiten der kommenden Semskije Sobori und der Parlamente, rennen unsere vor Schrecken fast wahnsinnig gewordenen Staatslenker umher und meinen sich in der letzten Redoute des Aberglaubens und der Unwissenheit verstecken zu können — im russischen Dorf! Aber auch hier harrt ihrer eine bittere Enttäuschung. Das Dorf ist erwacht! Die menschliche Würde, seit Jahrhunderten von oben unterdrückt, erhebt sich, und die Welt, glaube ich, wird erstaunt sein zu sehen, wozu der russische Bauer fähig ist! Ideen und Unzufriedenheit beginnen in das Volk zu dringen, wenn auch spät und in roher Weise — trotz der großen Entfernungen, trotz der Unwissenheit, trotz der Abwesenheit des Lichtes!

Reist man in Russland, wo es auch sein mag, so ist man verblüfft vom Anblicke der seltsamen Einförmigkeit des sich darbietenden Bildes: Ist es ein Wald — dann ein unendlicher, viele viele Werst lang, ohne Holzwege, verwachsen, von Gestrüpp durchwuchert; manchmal durchquert man ihn auf einem krummen Weg, der sich gleichfalls 40 — 50 und mehr Werst weit darin hinzieht, einem ungepflasterten Weg, der bei schlechtem Wetter unbefahrbar ist. Oder man fährt Roggenfelder entlang, wiederum viele Werst weit nur Roggen, Roggen, Roggen . . . Oder man sieht werstelange Flächen Erde, die man durchpflügt hat, und die jetzt fünf, sechs — zehn Jahre lang brachliegt, um erst dann wieder unter den Pflug zu kommen.

Und so, an Wald, Roggen oder Erdflächen entlang, fährt man manchmal eine halbe Stunde im Expresszug und begegnet keiner einzigen Ansiedelung außer den Eisenbahnstationen und den Wärterhäuschen. Fünf- und zehnwerstige Distanzen zwischen Dörfern sind eine gewöhnliche Erscheinung. Einen Ausländer, der daran nicht gewöhnt ist, erfüllt es mit Bangen, in Russland in einem rüttelnden „Tarantas“ über einen schlechten Weg zu fahren. Wie kann er auch gut sein, wenn von einer Ansiedelung bis zur anderen solche Entfernungen liegen?


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das russische Dorf